Donnerstag, 28. März 2024

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Lebensgefühl von 1930
Vier prominente Künstler auf der Suche nach Neuem

"Dazwischenzeiten" von Marie Luise Knott erzählt von der kulturellen Situation im Jahr 1930. Die Autorin stellt dafür vier prominente Künstler verschiedener Genres in den Mittelpunkt ihres Essays, die sich von überholten Vorstellungen verabschieden und sich auf die fieberhafte Suche nach Neuem begeben.

Von Helmut Böttiger | 24.01.2018
    Buchcover: Marie Luise Knott: "Dazwischenzeiten"
    Buchcover: Marie Luise Knott: „Dazwischenzeiten“ (Buchcover: Matthes & Seitz Verlag, Hintergrundfoto: imago stock&people)
    Die Idee zu diesem Buch ist bestechend. Im Jahr 1930 ahnte man noch nichts Konkretes über die bevorstehende Machtübergabe an Adolf Hitler, aber das Land befand sich längst im Krisenmodus. Sämtliche Gewissheiten schwanden. Marie Luise Knott zieht in ihrem Buch "Dazwischenzeiten" keine aufdringlichen Parallelen zur Gegenwart, aber sie lässt anklingen, dass es etwas Vergleichbares im Lebensgefühl der Deutschen von 1930 und dem von heute geben könnte.
    Die überholten Vorstellungen der vier Künstler
    Der moderne Mensch sah sich austauschbar und in einer anonymen Masse untergehen, in seiner Verlassenheit war er umso anfälliger für Ideologien. Die Autorin versammelt vier Einzelstudien zu Künstlern, die dieses ganz spezifische Zeitgefühl erfassten. Erwin Piscator, Karl Wolfskehl, Bertolt Brecht und Paul Klee könnten unterschiedlicher kaum sein. Aber in dem, was sie im Jahr 1930 beschäftigte, gibt es eine große Gemeinsamkeit: die künstlerischen Vorstellungen, die sie bis dahin hatten, schienen überholt. Und sie suchten fieberhaft danach, was jetzt an deren Stelle treten könnte.
    Erwin Piscators gigantische Theatermaschine der Weimarer Republik war nur vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs erklärbar. Man konnte über die eigenen, katastrophischen Erfahrungen nicht sprechen. Piscator stellte Laufbänder auf die Bühne, Filmprojektoren, er unterwarf den Einzelnen den technischen Errungenschaften der Moderne und sah nur im Sicht-Bewusstwerden der Masse eine Möglichkeit, dem entfesselten Kapitalismus etwas entgegenzusetzen.
    Bezug zu heutigen Kunstdiskussionen
    Piscator wandte sich gegen alle überkommenen Vorstellungen von "Kunst" und gab dabei, wie Knott feststellt, "den Einzelnen preis". Vorsichtig verwendet sie Wörter wie "Globalisierung" und "Vernetzung", ohne das zu plakativ auf unsere eigene Gegenwart zu beziehen. Aber wenn sie Alban Berg gegen Piscator ins Feld führt, nimmt sie durchaus auch zu heutigen Kunstdiskussionen Stellung. Der Komponist wandte sich gegen die Glorifizierung "zeitgemäßer" Mittel wie Kino, Revue, Lautsprecher, Jazz, denn das gewährleiste nur, dass "ein solches Werk zeitgemäß" sei. Ein wirklicher Fortschritt könne das aber nicht genannt werden. "Denn", so meinte Alban Berg, "ebenda sind wir ja angelangt, können also dadurch allein nicht weiterkommen."
    Marie Luise Knott konfrontiert Piscators Beschwörung der Masse, des Proletariats mit Bertolt Brechts Beharren auf der Rolle des Einzelnen. Das wirkt überrumpelnd, denn das Jahr 1930 ist das Jahr von Brechts berüchtigtem Stück "Die Maßnahme". Die Autorin zeigt sehr differenziert, dass es sich dabei keineswegs, wie bis heute oft kolportiert wird, um ein kommunistisches Propagandastück handelt, das die stalinistischen Schauprozesse vorweggenommen habe. Brecht spitzte im Gegenteil die Aporien seiner Zeit zu und wollte dadurch die Zuschauer zu einer Stellungnahme bewegen. Die "Maßnahme" brachte den sich anbahnenden gesellschaftlichen Ausnahmezustand auf den Punkt. Brecht dachte prozesshaft, ein Zeitschriftenprojekt von ihm hatte den Arbeitstitel "Begrüßung der Krise".
    Paul Klee und Paul Hindemiths im Vergleich
    Die Autorin verweist auf die Grundlagen, die Brechts anstößige "Maßnahme" im japanischen No-Theater hatte und zeigt, wie das Wortlos-Selbstverständliche einer überlieferten hohen Kultur weggebrochen war. Als Faksimile ist dazu Walter Benjamins hellsichtiger Artikel aus der "Frankfurter Zeitung" über den "destruktiven Charakter" wiedergegeben. Man registriert verwundert, dass ein derart komplexer, provokativer Text ganz selbstverständlich groß in einem Zeitungsfeuilleton abgedruckt wurde.
    Marie Luise Knott arbeitet in ihrem Buch assoziativ, in klassischer feuilletonistischer Manier, und überrascht durch Vergleiche der Malerei Paul Klees mit den Kompositionen Paul Hindemiths. Oder dadurch, dass sie ihr Kapitel über den frühmodern-orgiastischen Karl Wolfskehl mit einem Zitat des schwarzen amerikanischen Bürgerrechtlers James Baldwin eröffnet und damit auf eine verblüffende Gemeinsamkeit verweist. Der rauschhafte Wolfskehl scheint auf den ersten Blick gar nichts mit Piscator oder Brecht zu tun zu haben, und dennoch ist auch er im Jahr 1930 an einem entscheidenden Wendepunkt seiner künstlerischen Biographie angelangt.
    Einleuchtende Beschreibung von Klees Malweise
    Wolfskehl hatte sich immer in einem Traditionszusammenhang bewegt, der selbstverständlich verfügbar schien. Die frühe Dichtung des Mittelalters oder des Barocks konnten für ihn deshalb wahre Füllhörner sein, Teile eines verborgenen Kontinuums. 1930 schrieb er dann zwei Essays, in denen er nachzeichnete, wie die Überlieferung abstarb. Und sehr einleuchtend ist, wie die Autorin im selben Zusammenhang die Veränderung der Malweise von Paul Klee beschreibt. Das Haus der Abstraktion steht 1930 plötzlich in Flammen, erkennt sie anhand des Bildes "Erd Teufel", das früher effektvoll ausbalancierte Verhältnis von Konkretem und Abstraktem geht über in nur noch dem Rhythmus des Körpers folgende Arbeiten mit Kleistermasse und Messer.
    In Knotts inspirierenden Essays drängen sich automatisch Vergleiche mit der Gegenwart auf. So denkt man bei Piscator an Frank Castorfs "Volksbühne" oder bei Karl Wolfskehl an den ähnlich fulminanten Vortragskünstler Thomas Kling. Die Autorin wird natürlich nirgends so direkt, und die Kunst damals definierte sich grundsätzlich anders. Man fragt sich unwillkürlich, ob es heute ein Werk gibt, das die Gegenwart genauso durchdringt wie Paul Klee 1930 mit seinem fasziniert-drohenden Bild "Neues Spiel beginnt". Die Rahmenbedingungen haben sich sehr geändert, die Ökonomisierung und die damit in engem Austausch stehende Popkultur scheinen in ganz andere Richtungen zu weisen. Umso anregender aber sind Marie Luise Knotts Aufenthalte in den "Dazwischenzeiten" und die weiße, bedrohliche Fläche, in die sie mit Paul Klee den Leser entlässt.
    Marie Luise Knott: Dazwischenzeiten. 1930. Wege in der Erschöpfung der Moderne.
    Verlag Matthes&Seitz, Berlin 2017. 191 Seiten, 20 Euro.