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Lebenslügen im Kapitalismus

Einmal mehr beweist Regisseur Jan Neumann in seiner Inszenierung, dass Arthur Millers Stück über den aus der Erfolgsspur gerutschten Handlungsreisenden unzerstörbar ist. Und das ganz ohne Aktualisierungsmätzchen, hoch aktuell.

Von Cornelie Ueding | 05.06.2011
    Alles nur Fassade: leuchtend blauer Himmel mit schneeweißen Wolken am Rundhorizont, auf der Drehbühne ein weißes Dornröschenschloss. Drumherum eine "Hecke" aus amerikanischen Mythen von der Freiheitsstatue bis zu Marilyn Monroe – lauter Pappkameraden. Dreht sich die Bühne, zeigt sich im funzligen Dämmerlicht die Abseite, das hölzerne Gerippe dieser Disney-Märchenwelt. Kein Lebensraum. Hinten: Todesnähe; eheliche Schönfärberei und Streit mit den dauerpubertierenden Söhnen. Vorne, taghell in der Erinnerung: Luftballons und Halligalli; forever fun.

    Ein System ohne Ausstiegsmöglichkeit. Die Drehmühle des Aufstiegsschwindels für jedermann. Die Opfer, die sich darin abstrampeln, sind zu Popcorn-Baseball-Kumpelei und "Du schaffst es"-Optimismus verurteilt, müssen sich, was immer passiert, als Akteure und Sieger sehen. "Beliebt sein!" ist die Kriegslosung in einer Wirtschaftswelt, in der freundschaftliches Schulterklopfen zum gnadenlosen Schwerthieb wird und ein herzliches "Hi Bill" das Todesurteil bedeuten kann. Das Schlimmste: Keiner darf vor sich und anderen zugeben, dass der American Dream eine Farce ist, die nur deshalb lebt, weil lauter Versager Helden, Gedemütigte Sieger zu spielen versuchen und dieses demonstrativ zur Schau gestellte Prinzip Hoffnung wie eine Droge jede Einsicht in die krude Realität blockiert.

    Dass es kein richtiges Leben im falschen geben kann – von dieser Einsicht bleibt der Salesman bis zum Ende weit entfernt. Bald professionell cool, bald auftrumpfend, im nächsten Moment naiv sentimental, dann wieder im Furor des verordneten "positive thinking" mitreißend optimistisch und genauso übergangslos ausgebrannt - Elmar Roloff trägt diese Stuttgarter Aufführung bis zum bestürzenden, völlig unsentimentalen Ende.
    Einmal mehr beweist Regisseur Jan Neumann in seiner Inszenierung, dass Arthur Millers Erfolgsstück über den aus der Erfolgsspur gerutschten Handlungsreisenden unzerstörbar ist. Und, ganz ohne Aktualisierungsmätzchen, hoch aktuell. Sicher, unsere postmodernen Mythen und Aufstiegssymbole mögen ein wenig anders aussehen als Superman, Marilyn und Empire State Building, substanziell hat sich jedoch nichts geändert.

    Die strukturelle Ähnlichkeit zwischen dem Wettbewerb-Laufrad damals und unserem auf Konkurrenz, Kompetition und Erfolg getrimmten System ist beklemmend, weil es alle, die damit in Berührung kommen, unterschiedslos und alternativlos zu erfassen scheint. Und so ragt dieses schon 1949 uraufgeführte Stück als eine ebenso hellsichtige wie gruselige Karikatur in die brave new world unseres Wachstums-, Spekulations- und Investment-Zeitalters hinein. Denn dieses Endspiel des American Dream bekommt heute gleichsam einen doppelten Boden, weil wir es wie einen fernen Spiegel unseres Lebens in einer Blase von Spekulationen auf Wertloses, auf Abfall sehen. Weil es die realitätsnahen Abstiegsängste unser aller alltäglicher Albträume aktiviert. Der Stoßseufzer Willy Lomans, der in Anbetracht der fälligen Abzahlungs-Rate verzweifelt, er möchte einmal im Leben etwas abbezahlt haben, bevor es kaputtgeht; die Einsicht, dass genau dies aber zur Strategie und Grundlage boomender Märkte gehört, zeigt krass, warum es kein Entkommen gibt und warum man sich von Albtraum zu Albtraum weiterhangelt. Bis zum Suizid. Doch auch der wird als Teil eines listig ersonnenen "Geschäfts" ad absurdum geführt.

    Kurz vor Schluss wird mitten in der finalen Auseinandersetzung zwischen Biff und seinem Vater Licht. Die falschen Himmelswände fallen, die Lebenslügen werden gnadenlos enthüllt.

    Wirkungslos. Unbeirrbar wiederholt Loman, wie sehr sein Sohn ihn liebe, und am Ende steht der Selbstmord als Spekulation auf sich selbst, auf 20.000 Dollar Versicherungssumme als Startkapital für den mit Hoffnungen behängten, ja: bedrängten Versager – man ahnt: Der letzte Flop.