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Lebensraumkultur
"Heimat ist nichts Verwerfliches"

Jeder Mensch habe eine Ursprungsheimat und dieses Gefühl, irgendwo heimisch zu sein, gebe kein Mensch gerne auf, sagte der Schriftsteller Eberhard Rathgeb im Dlf. Der Begriff habe nichts Verwerfliches an sich, allerdings sei das Wort Heimat verkorkst.

Eberhard Rathgeb im Gespräch mit Kathrin Hondl | 27.08.2017
    Eberhard Rathgeb, aufgenommen am 12.10.2013 auf der 65. Frankfurter Buchmesse in Frankfurt am Main (Hessen).
    "Die Heimat wächst einem zu": der Schriftsteller Eberhard Rathgeb. (dpa)
    Kathrin Hondl: Am 24. September ist Bundestagswahl. Dann entscheiden wir: Weiter so oder politischer Personal- und Richtungswechsel? Merkel oder Schulz? GroKo oder neue Kombinationen? Wir haben die Qual der Wahl – und dass das nicht nur ein flapsiger Spruch ist, darauf deutet eine aktuelle Umfrage des Instituts Allensbach hin: Danach wissen 46 Prozent der Befragten noch nicht, wen sie wählen sollen oder wollen.
    Die Qual der Wahl – so lautet denn auch der Titel unserer Sommerreihe hier in "Information und Musik" im Deutschlandfunk. Und heute soll es um die Wahl der Heimat gehen. Darüber habe ich vor der Sendung mit dem Schriftsteller Eberhard Rathgeb gesprochen – er hat sich unter anderem in seinem Buch "Am Anfang war Heimat" intensiv mit Fragen der Heimat beschäftigt. Guten Tag, Herr Rathgeb!
    Eberhard Rathgeb: Guten Tag, Frau Hondl.
    Hondl: Herr Rathgeb – lassen Sie mich zu Anfang unseres Gesprächs vielleicht erst mal einen wirklich sehr schönen Satz aus dem Vorwort Ihres Buchs zitieren. "Heimat", schreiben Sie da, "Heimat ist ein Gefühl wie Liebe und Hass, das heißt, auch sie lässt sich nicht mit ein paar Worten einkreisen und definieren, anders als Sonne, Vogel oder Kuchen …." - Heißt das, Heimat ist - anders als Kuchen an der Theke - auch nichts, das man wählen kann, Herr Rathgeb?
    Rathgeb: Ja, man kann sie nicht bestellen. Ich kann nicht sagen, ich möchte einen Schokoladenkuchen als Heimat. Die Heimat wächst einem zu, und das hängt von vielen Bedingungen ab. Normalerweise ist es wirklich so, dass es eine erste Heimat gibt, also dort, wo man geboren ist und wo man aufwächst, und dann macht man sich meistens keine weiteren großen Gedanken.
    Man fühlt sich wohl in einem Kreis, der einem relativ vertraut ist. Nur in dem Moment, wo man diese erste Heimat verlässt und sich irgendwo anders niederlassen muss oder niederlassen darf, wenn man es wirklich wählen kann, dann kann man sich Gedanken darüber machen, was man eigentlich braucht, um ein gutes Gefühl für Heimat zu entwickeln.
    "Heimat hat jeder Mensch"
    Hondl: Jetzt haben Sie es wieder gesagt: Heimat ist ein Gefühl, sagen Sie.
    Rathgeb: Ja.
    Hondl: Aber wenn Heimat jetzt ein Gefühl ist, dann scheint das ja ein sehr deutsches Gefühl zu sein, so wie Heimat ja auch ein sehr deutsches, schwer übersetzbares Wort ist, und Ihr Heimatbuch hat ja auch den Untertitel "Auf den Spuren eines deutschen Gefühls". Wie deutsch ist die Heimat?
    Rathgeb: So deutsch, wie sich das jetzt anhört aufgrund des Untertitels, ist sie nicht, weil Heimat jeder Mensch hat. Ich kann über Heimat reden oder ich wollte über Heimat reden, die ich kenne, und da liegt natürlich das nahe, was ich selbst auch erfahren habe oder wo in dem Kulturkreis oder in dem Sprachraum, in dem ich mich besonders gut auskenne. Natürlich hat auch jeder andere Mensch auf Erden hier irgendwie seine Heimat aufgrund der Tatsache, dass er in bestimmten Gemeinschaften, kulturellen Räumen oder Nationen geboren wird.
    Hondl: Heimat, Herr Rathgeb, ist ja auch so ein Wort, für das es zumindest ganz offiziell und dem Duden nach keinen Plural gibt. Und trotzdem gibt es das Wort Wahlheimat, was ja wieder impliziert, dass es da irgendwie noch eine andere Heimat gibt - die eigentliche Heimat? Oder wie ist das? Gibt es den Plural für Heimat oder nicht?
    Rathgeb: Ja, in dem Sinne, dass der Mensch beweglich ist. Es gibt wirklich eine genuine Heimat. Das ist allein durch die Tatsache bestimmt, dass der Mensch zu irgendeinem bestimmten Zeitpunkt in bestimmten geografischen Verhältnissen auf diese Erde kommt und sich zu dem entwickelt, der er ist, aufgrund der Tatsache, dass er eine Sprache lernt, sich in bestimmten kulturellen Räumen bewegt.
    Da man sich aber bewegen kann und manchmal auch bewegen muss, weil man verfolgt wird oder seine Ursprungsheimat verlassen muss, oder weil man die Chance hat, sich irgendwo anders niederzulassen – meistens ist es ja der Beruf -, kann man sich Heimat natürlich aussuchen. Das ist dann eine zweite Heimat. Dass man überhaupt das machen kann, dass man sich eine neue Heimat sucht, bedeutet, dass man ein Bild von seiner ersten Heimat hat, von dieser Ursprungsheimat. Sonst könnte man ja auch nicht sagen, dass man woanders sich plötzlich heimisch fühlt. Dieses Ursprungsgefühl, heimisch irgendwo zu sein, das begleitet einen so durch die Welt, und ich glaube, dass das kein Mensch gerne aufgibt. Wir leben doch alle gerne in vertrauten Verhältnissen.
    "Heimat hat ein großes psychologisches Potenzial"
    Hondl: Ihre Beschäftigung mit der Heimat oder dem Begriff der Heimat, Herr Rathgeb, hat ja viel mit Ihrer eigenen Familiengeschichte zu tun.
    Rathgeb: Ja.
    Hondl: Ihr Großvater ging in den 20er-Jahren nach Argentinien. Dort kamen Sie dann auch zur Welt 1959. Warum war Ihr Großvater damals aus der Heimat fortgegangen und nach Argentinien ausgewandert?
    Rathgeb: Mein Großvater gehörte wie andere auch einer Zeit an, wo es wirtschaftlich in Deutschland kompliziert war. Er hatte ein Gespür dafür, dass sich die politischen Verhältnisse hier radikalisieren würden. Er war strikter Katholik. Es kam sicherlich noch hinzu, dass er irgendwie ein bisschen Abenteuerlust hatte. Ohne diese Abenteuerlust geht man auch nicht aus relativ stabilen Verhältnissen. Deswegen ist er weggegangen. Damals nach Argentinien zu gehen, war nicht so ganz unüblich.
    Der Weg nach Argentinien war meinem Großvater ja auch sehr geebnet, weil er jetzt nicht da hingegangen ist mit leeren Taschen, sondern er ist ja im Auftrag einer Firma hingegangen, was die Sache ja doch sehr erleichtert. Und wenn man sozusagen mit offenen Armen empfangen wird und gleich dort seinen Beruf und sein Auskommen hat und womöglich auch noch – und das ist ja auch in Argentinien so – empfangen wird von, wie man damals sagte, Landsleuten, dann ist der Weg dorthin einem dann doch geebnet.
    Hondl: Aber Heimat waren Argentinien und Buenos Aires dann doch nicht für Ihre Familie geworden. Woran lag das?
    Rathgeb: Na ja, das hängt immer ein bisschen davon ab, wann man weggeht, und es hängt ein bisschen davon ab, was einen erwartet und wie stark man bereit ist oder wie möglich es einem ist, sich zu akklimatisieren. Wenn man in Länder geht, in denen es eine klare deutsche Kolonie gibt, Länder, in denen Europäer auch eine gewisse dominante Rolle spielen, dann bleibt man sozusagen der Ursprungsheimat ja etwas verhaftet. Wenn es möglich ist, wie das bei meinem Großvater war, dass man sich über seine Arbeit definieren kann und insofern, da er ja auch Naturwissenschaftler war, sich in einem internationalen Vokabular der Naturwissenschaften bewegt, dann fällt es einem noch leichter, als es zum Beispiel meiner Großmutter gefallen ist, die daheim blieb, wie damals die meisten Frauen, und viel in ihren Erinnerungen kramte.
    Hondl: Ist Heimat vielleicht auch was, was eigentlich nur im Gegensatz zu so was wie fremd sein existiert oder sich fremd fühlen, also so eine Art Ideal von Identität vielleicht, oder eine Sehnsucht nach Geborgenheit und Vertrautheit?
    Rathgeb: Ja, auf jeden Fall. Ich finde, Heimat hat ein großes psychologisches Potenzial. Der amerikanische Psychoanalytiker Erik Erikson, der hat ja dieses Wort vom Urvertrauen geprägt, das so wichtig ist, das man kleinen Kindern vermittelt – ein Urvertrauen in die Welt, dass man sich dort verwurzeln kann. Und das herauszubilden, dafür sind ja sozusagen die Bezugspersonen, um es jetzt mal ein bisschen drastischer zu sagen, sind eigentlich die Eltern wichtig. Die topfen sozusagen das dem Neuling ein.
    Ein ähnliches Eintopfen ist ja auch das, was einem beim Heimatgefühl widerfährt, und das hängt natürlich wirklich damit zusammen, dass man ein gewisses Vertrauen entwickelt in die Situation von Welt, in der man sich befindet, dass man mit Menschen reden kann, dass sie einen verstehen, dass man gut aufgehoben ist, dass es gewisse Sicherheiten gibt und dass man mit Menschen zu tun hat, die einem Wohl wollen. Und dieses Grundsatzgefühl, das kann man sich ja vorstellen und das weiß man ja auch, dass das eigentlich gerne jeder Mensch hat – unabhängig davon, ob er dann später mal sagt, ja, ich fahre gerne durch die Welt und ich lasse mich auch gerne dort und dort nieder.
    Das was er dann aber aufbauen will, nämlich Freundschaften, Bekanntschaften, Sicherheiten, Vertrauen in die Kommunikation und so weiter, ist genau das, was er von seiner ersten Heimat ja mitbekommen hat. Wäre das nicht so, dann würde man ja auch glücklich sein können, wenn man plötzlich alleine auf der Welt wäre, und das glaube ich ganz sicher nicht, dass irgendein Mensch alleine auf dieser Welt glücklich würde.
    "Heimat ist nichts Verwerfliches"
    Hondl: Ganz bestimmt nicht. Aber trotzdem ist ja Heimat auch was, worüber man ja nur schwer ohne wenigstens einen Hauch von Ironie sprechen kann, finde ich, außer vielleicht in Bayern. Einschlägige Heimatfilme, Heimatromane und so weiter haben den Begriff ja ziemlich unmöglich gemacht, und dann gibt es natürlich auch gerade jetzt zur Zeit mit Blick auf die sogenannte Flüchtlingskrise so eine Art Renaissance des Geredes von der Heimat, wenn Rechtsradikale sich da zum Beispiel als Heimatschützer bezeichnen – Stichwort "Thüringer Heimatschutz". Warum, Herr Rathgeb, ist es trotzdem interessant oder wichtig, heute hier und jetzt über Heimat zu sprechen?
    Rathgeb: Erst mal, weil man sich klar machen sollte, was dieses Wort eigentlich bedeutet und ob man überhaupt mit diesem Wort Heimat sinnvollerweise überhaupt Politik machen kann, wie es manche Leute meinen, machen zu müssen. Und dann sollte man sich natürlich auch fragen, was eine moderne Variante von Heimat ist. In dem Buch zum Beispiel beschreibe ich ja auch die Lebensgeschichte und das Denken ein bisschen von Hannah Arendt.
    Die musste ja auch ins Exil gehen und ging auch nach Frankreich und dann nach Amerika und hat dort in Amerika ein berühmtes Buch geschrieben, die "Vita Activa", und da ist es so, dass sie sagt, dass das Entscheidende ist, dass man sich sozusagen politisch tätig mit einer Gemeinschaft verbindet. Das ist sozusagen ein ganz weiter Nenner für eine Art von Heimat im ganz modernen Sinne.
    Hondl: Die Definition von Hannah Arendt ist ja vielleicht auch jetzt mit Blick auf unsere Wahlkampfzeiten und unsere Sendereihe hier – Die Qual der Wahl – vielleicht fast die interessanteste, oder? Man hat die Wahl einer politischen Heimat. Kann man das so sagen?
    Rathgeb: Man wird vielleicht noch mal darüber nachdenken müssen, wo eigentlich die Differenzen sind zwischen Politik und Kultur. Soweit ich das jetzt auch mitverfolgt habe, gibt es ja auch eine gewisse Differenz, dass manche Menschen das Gefühl haben, dass aufgrund von Veränderungen, die sich in dieser Welt jetzt ereignen, ihr Lebensraum sich verändert. Dieser Lebensraum, wenn er grundsätzlich ökonomisch abgesichert ist, hat er eine gewisse Oberfläche oder eine gewisse Dichte, und das ist für die meisten Kulturen auch ihre Lebenskultur.
    Viele Menschen, die vielleicht sehr konservativ wären oder sich überlegen, das zu sehen, sehen eigentlich diese Lebensraumkultur bedroht durch was auch immer, durch Bewegung und so. Und ich glaube, dass die Verbindung von Politik und Kultur, so wie man das vielleicht früher hat unterstellen können in relativ stabileren politischen und ökonomischen Verhältnissen, dass die sehr am Auseinanderfallen ist und man gucken muss, was ein sehr moderner Begriff von Politik ist, wie man damit umgehen kann und ob dem vielleicht eine Lebenskultur entsprechen kann, wie das aussehen muss. Und den Menschen, die eine Kultur haben und Lebensraumkultur, das sind meistens ja vielleicht auch ältere oder so oder jüngere, die sich anmaßen, diese Kultur haben zu wollen, und die sich im modernen Sinne nicht so richtig bewegen können, wie man sich klar machen kann, dass aus dieser Art von Festhalten an einer Lebensraumkultur im Grunde keine moderne Politik entstehen kann.
    Wenn man jetzt nun aber weiß, was eigentlich Heimat ist und dass das eigentlich jeder hat und dass das nichts Verwerfliches ist, im Gegenteil, dass wir ohne dieses Heimatgefühl uns sehr komisch vorkämen – das hängt jetzt nicht an Berg und Tälern und irgendwelchen Baumsorten und Fachwerkhäusern oder weiß der Kuckuck, sondern das trägt man ja mit sich drin. Und dass wir dann immer das Problem haben, dass dieses Wort Heimat dann so verkorkst ist, das mag schon sein, aber das ist halt mal verkorkst worden. Da kann man auch andere Wörter nehmen und sagen, man darf darüber so nicht mehr reden.
    Hondl: Dann haben wir die Qual der Wahl des richtigen Wortes. – Vielen Dank! – Der Schriftsteller Eberhard Rathgeb war das in unserer Sendereihe "Die Qual der Wahl". Sein Buch "Am Anfang war Heimat" ist im Blessing Verlag erschienen, kostet 22,99 Euro.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.