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Legende aus Plüsch und Damast

Am 19. Mai 1977 verließ zum letzten Mal der legendäre Luxuszug Orient-Express den Pariser Gare de L’Est, um in drei Tagen die 3500 Kilometer lange Strecke nach Istanbul zurückzulegen. Danach landete er auf dem Abstellgleis. Fast 90 Jahre lang war der Orient-Express Symbol für feudales Reisen gewesen.

Von Regina Kusch | 19.05.2007
    "Was könnte unwirklicher, erhebender sein, romantischer, als der Augenblick, wenn man in der Nacht aus Träumen von England aufwacht und plötzlich einen goldenen Mond die Wipfel eines fremden rumänischen Waldes entlang eilen sieht? Es ist drei Uhr Morgens, Sie fegen mit 60 Meilen die Stunde durch die Winternacht. Dennoch haben Sie nur einen dünnen, seidenen Morgenrock an und der Rauch Ihrer Zigarette steigt geradlinig zur Decke empor. Gewiss sollte diese Art zu reisen, Göttern vorbehalten sein."

    Der britische Schriftsteller Beverly Nichols war nicht der einzige, der vom Reisen im Orient-Express schwärmte. Seit dieses rollende Luxus-Hotel 1883 zum ersten Mal die 3500 Kilometer lange Fahrt zurückgelegt hatte, nutzten Passagiere mit Geld nur zu gerne das verlockende Angebot des Chefs der Internationalen Schlafwagengesellschaft aus Brüssel, Georges Nagelmackers.

    "Diese Züge haben den Zweck, eine möglichst rasche Verbindung zwischen Paris und Konstantinopel herzustellen und den Reisenden während der Fahrt jede mögliche Bequemlichkeit zu bieten."

    Bis dahin waren Bahnreisen durch Europa strapaziös und unbequem gewesen. Sechs Tage musste man einplanen, um von der Seine an den Bosporus zu gelangen. An jeder Landesgrenze gab es langwierige Aufenthalte, bei denen die Reisenden die Züge wechseln und aufwendige Passkontrollen über sich ergehen lassen mussten. In Verhandlungen mit den Bahnbetreibern der einzelnen Fürstentümer hatte Nagelmackers erreicht, dass sein Luxuszug in nur drei Tagen quer durch Europa rollte, ohne seine Gäste mit Grenzformalitäten zu behelligen. Das war zwar teuer, erklärt der Eisenbahn-Experte des Berliner Technikmuseums, Alfred Gottwald, aber Nagelmackers Geschäftsidee war erfolgreich.

    "Er bekam das Recht, dass die Kontrollorgane eine Zeit lang im Zug mitfahren durften. Diese Internationale Schlafwagengesellschaft konnte dadurch eine sehr viel kürzere Reisezeit anbieten. Von Paris fuhr man nach Elsass-Lothringen hinein, dann durch Württemberg und Bayern an die österreichische Grenze. Dann ging es durch verschiedene Sektoren des österreichischen KuK-Imperiums, um dann über Bulgarien in Richtung Türkei vorzustoßen."

    Der Orient-Express wurde schnell zum "König der Züge", in dem Millionäre, weltbekannte Stars und gekrönte Häupter reisten, aber auch Hochstapler, Abenteurer und Spione. Die verliehen dem Zug sein abenteuerliches Flair. Zahlreiche Reiseberichte erschienen, von denen sich Agatha Christies inspirieren ließ und ihren Roman "Mord im Orient-Express" schuf, mit dem sie dem Zug zu literarischem Ruhm verhalf.

    Doch zwei Weltkriege und die zunehmende Konkurrenz durch das Flugzeug machten das Unternehmen immer unprofitabler, erinnert sich der Eisenbahn-Historiker Alfred Gottwald.

    "Durch die Grenzkontrollen in Jugoslawien und Ungarn, durch die Bildung des Ostblocks war die Geschäftstätigkeit dieser Schlafwagengesellschaft sehr stark eingeschränkt. Auch die Freizügigkeit der Reisen war ja limitiert. Das Passagierflugzeug hat für die Leute, die nach Istanbul wollten, die Reisezeit dramatisch verkürzt, und damit wurde der Zug zu einem Auslaufmodell."

    Seit den 60er Jahren wurden immer weniger Passagiere gezählt. Die Luxuswaggons wurden ersetzt durch normale Schnellzugwagen. Reiseberichte klangen immer weniger euphorisch.

    "Die weltberühmten Pullman-Wagen sind verschwunden, die Kristallleuchter wurden durch matte Glühlampen ersetzt und die livrierten Bediensteten gibt es nicht mehr. Den Orient-Express benutzen nur noch niedere Herrschaften; Touristen mit wenig Geld, Hippies, Grenzgänger und Fremdarbeiter aus den Balkanstaaten."

    Schließlich wurde der Orient-Express stillgelegt. Am 19. Mai 1977 trat er, von der Öffentlichkeit weitgehend ignoriert, seine letzte Reise von Paris nach Istanbul an.

    Dennoch blieb der Mythos dieses Zuges unzerstörbar und heute fährt er wieder, der Luxuszug, als Nostalgie-Orient-Express mit renovierten Original-Waggons. Salonwagen, Piano-Bar und drei Speisewagen lassen ein Reisegefühl aufkommen wie im vorletzten Jahrhundert, das hat auch Alfred Gottwald festgestellt.

    "Das ist schon ein unglaubliches Vergnügen auf einem Sessel und nicht auf einer Sitzbank nah am Fenster zu sitzen, vor sich poliertes teures Metall und saubere Tischdenken und Geschirr. Aber das wird inszeniert. Der Altersdurchschnitt der Teilnehmer an diesen Fahrten liegt weit jenseits der 60. Das gönnt man sich als Rückblick auf ein erfolgreiches Leben, und man kann es sich auch erst dann gönnen, denn es ist teuer."