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Legende der "sauberen Wehrmacht" widerlegt

Sie hat in den 90er Jahren heftige Kontroversen ausgelöst – die so genannte Wehrmachtsausstellung. Denn sie kratzte an der Legende von der "sauberen Wehrmacht". Inzwischen bestreitet zwar niemand mehr, dass deutsche Soldaten im Zweiten Weltkrieg an der Ermordung osteuropäischer Juden und sowjetischer Kriegsgefangener mitgewirkt haben. Doch immer noch glaubt mancher, die Armee Hitlers habe sich an der Politik der Vernichtung nur gezwungenermaßen und widerwillig beteiligt. Eines Besseren wird belehrt, wer zur Studie des jungen Freiburger Historikers Felix Römer greift.

Von Otto Langels | 05.01.2009
    "Der Kommissarbefehl besagte, dass die sowjetischen Politoffiziere, die in der Roten Armee eingegliedert waren zur Überwachung der Soldaten, dass diese Politoffiziere, die man auch Kommissare nannte, im Falle der Gefangennahme von den Fronteinheiten umgehend zu exekutieren waren. Daneben sah der Befehl auch vor, dass jeder zivile sowjetische Funktionär auch nur bei leisestem Verdacht sofort zu exekutieren war."

    Den Kommissarbefehl, den der Autor Felix Römer wiedergibt, setzten Soldaten der Wehrmacht unmittelbar nach dem Beginn des Kriegs gegen die Sowjetunion um. Bereits am Abend des 22. Juni 1941 wurden die ersten sowjetischen Politoffiziere exekutiert, die deutschen Truppen in die Hände gefallen waren. Drei Monate zuvor hatte Adolf Hitler seine Oberbefehlshaber bei einer Unterredung in der Reichskanzlei angewiesen, im bevorstehenden Krieg gefangene Kommissare der Roten Armee sofort mit der Waffe zu erledigen. Das Oberkommando der Wehrmacht formulierte daraufhin umgehend entsprechende Richtlinien.
    Die Politoffiziere waren Vertreter der Kommunistischen Partei, die in der Roten Armee eingesetzt wurden, um die Soldaten zu überwachen. Die Bolschewisten hatten nach der Oktoberrevolution das System der Kommissare eingeführt, um die Zuverlässigkeit der ehemaligen zaristischen Truppen sicherzustellen.
    In einem vor zwei Jahren erschienenen Buch hat die englische Historikerin Catherine Merridale die Geschichte des Zweiten Weltkriegs aus der Perspektive einfacher Rotarmisten dargestellt. Sie beschreibt detailliert die schlechte Ausbildung, Versorgung und Ausrüstung der Roten Armee. Die sowjetischen Soldaten waren Kanonenfutter und wurden von ihren eigenen Offizieren gnadenlos geopfert. Das Verhältnis von toten deutschen und russischen Soldaten betrug Eins zu 20. Es war also nicht pure Erfindung, wenn die NS-Propaganda das Bild skrupelloser und barbarischer Offiziere zeichnete, die aus einfachen Soldaten willenlose, verängstigte und bis zum Tod kämpfende Rotarmisten machten.

    "Nach allem was wir bislang wissen über die Rote Armee und ihre Strukturen, trafen auch bestimmte Merkmale des deutschen Feindbilds durchaus zu. Die Kommissare gingen tatsächlich mit rigorosen Maßnahmen, mit drakonischem Terror in den eigenen Reihen vor, um die Truppen zu disziplinieren."

    Einige Wehrmachtsoffiziere äußerten zunächst Bedenken gegen den Kommissarbefehl, weil sie darin einen Verstoß gegen die soldatischen Auffassungen vom ritterlichen Krieg und eine ungeheure Zumutung für die eigenen Truppen sahen. Wilhelm Keitel, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, wischte solche Vorbehalte jedoch mit der Bemerkung beiseite, hier handele es sich nicht um einen regulären Krieg, sondern um die "Vernichtung einer Weltanschauung".
    Felix Römer lässt in seiner Darstellung keinen Zweifel daran, dass es sich um einen verbrecherischen Befehl handelte.

    "Die Politoffiziere der Roten Armee waren vollwertige Angehörige der sowjetischen Streitkräfte, also reguläre Kombattanten, die nach dem Völkerrecht Schutz als Kriegsgefangene hätten beanspruchen können. Sie trugen Uniform, sie waren in die Hierarchie der sowjetischen Streitkräfte eingegliedert. Und genau diese beiden Punkte, die Uniform und die Eingliederung in die sowjetischen Streitkräfte, sind auch im Befehl explizit erwähnt worden, so dass besonders offenkundig war, dass mit der systematischen Tötung dieser Kriegsgefangenen ein ganz offenkundiger Völkerrechtsbruch vorlag. Die waren zu erkennen an besonderen Abzeichen, also einem roten Stern und goldenem Hammer und Sichel auf dem Ärmel, ein besonderes Abzeichen, das sie auswies, daran konnte man sie erkennen und selektieren. Und dann sollten sie umgehend im Frontbereich exekutiert werden, durch die Fronttruppe selbst. Und das aber möglichst unauffällig, das heißt im nächst gelegenen Waldstück."

    Felix Römer hat, und darin liegt der wissenschaftliche Ertrag seiner Studie gegenüber früheren Arbeiten zum Thema, alle einschlägigen Akten im Militärarchiv Freiburg durchforstet, um zu untersuchen, ob und wie die Wehrmachtseinheiten den Kommissarbefehl umsetzten.

    "Es hat vor mir natürlich viele Historiker gegeben, die sich mit diesem Thema befasst haben - nicht verwunderlich angesichts der Relevanz dieses Themas und der Brisanz dieses Themas -, aber die bisherigen Arbeiten basierten vor allem auf Stichproben aus den Akten."

    Eineinhalb Jahre hat der Historiker in Archiven zugebracht, um die Unterlagen des Ostheeres durchzusehen, von den Heeresgruppen bis zu den Regimentern. Herausgekommen ist eine akribische und in manchen Passagen sehr breite Darstellung. Gerade aber aufgrund der gründlichen Untersuchung ist es Felix Römer möglich, nachzuweisen, dass der Kommissarbefehl an nahezu allen Frontabschnitten ausgeführt wurde. Dabei hatten die Wehrmachtstruppen durchaus Spielraum.

    "Es hat bestimmte Offiziere und Einheiten gegeben, die den Kommissarbefehl eifriger durchgeführt haben, und andere Einheiten wiederum, die mit weniger Sorgfalt und weniger Eifer durchgeführt haben. Und es waren nur einzelne Offiziere, die sich dem Befehl entzogen haben, dem zuwider gehandelt haben. Die häufigste Form, in der man seiner Skepsis oder Ablehnung Ausdruck verleihen konnte, war, die Kommissare nicht selbst zu exekutieren, sondern sie nach hinten abzuschieben."

    Was die Mordmaschinerie nicht aufhielt, denn hinter der Front warteten Einsatzkommandos des Sicherheitsdienstes, um die Kommissare zu verhören und anschließend zu erschießen. Dabei musste, wer die Richtlinien des Befehls missachtete, nicht unbedingt mit harten Strafen rechnen. So verschonte zum Beispiel der Kommandant eines Kriegsgefangenenlagers zu Beginn des Feldzugs einige eingelieferte Politoffiziere.

    "Das wurde der übergeordneten Führung bekannt, und sie zitierten diesen Kommandanten zu sich und rüffelten ihn, dass die an den Tag gelegte Weichheit falsch am Platze sei, und wiesen ihn zurecht, erinnerten ihn an den Kommissarbefehl, und das war dann auch schon alles."

    Autor:
    Knapp ein Jahr war der Kommmissarbefehl in Kraft. Er kostete nach Schätzungen Römers annähernd 10.000 Politoffizieren das Leben. Am 6. Mai 1942 ordnete Hitler die Aufhebung der Richtlinien an.

    "Der Hintergrund war keinesfalls, dass man sein Gewissen wieder entdeckt hatte, sondern es waren ganz pragmatisch opportunistische Beweggründe, die zu dieser Außerkraftsetzung des Kommissarbefehls führten. Und zwar hatte sich gezeigt, dass die Erschießungen sich äußerst kontraproduktiv ausgewirkt hatten, sie hatten den Widerstand der Roten Armee noch verstärkt und hatten der Wehrmacht deshalb noch zusätzliche Verluste eingetragen. Noch nie zuvor hatte die Wehrmacht solche Verluste erlitten."

    Mit seiner Studie zum Kommissarbefehl liefert Felix Römer einen fundierten Beitrag zu einem differenzierten und realistischen Bild der Wehrmacht. Die Legende von der missbrauchten, im Grunde anständigen deutschen Armee lässt sich nach dieser Arbeit nicht mehr aufrechterhalten.

    "Die Bedeutung des Kommissarbefehls liegt nicht so sehr in diesen quantitativen Dimensionen als eher in den qualitativen Vorgängen, und zwar in der Tatsache, dass die deutsche Wehrmacht einen ganz offenkundig verbrecherischen Befehl durchgeführt hat, den es in dieser Form in den deutschen Streitkräften noch nie gegeben hat."

    Felix Römer: "Der Kommissarbefehl. Wehrmacht und NS-Verbrechen an der Ostfront 1941/42". Ferdinand Schöningh Verlag, 667 Seiten,
    Euro 44,90.