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Lehmanns Transit

Mit dem Erfolg seines Romans "Herr Lehmann" hat Sven Regener vor sechs Jahren die Literaturszene aus dem Stand erobert, wurde ohne Anlauf und Jungautoren-Warm-up vom Songtexter zum Bestsellerautor. In "Der kleine Bruder" schickt Regener seinen ambitionslosen Antihelden Frank Lehmann auf eine Reise durch die DDR von Bremen nach Berlin.

Von Ursula März | 14.09.2008
    Frank Lehmann ist am Ziel. Frank Lehmann, den das Publikum im Jahr 2001 mit dem gleichnamigen Roman als "Herr Lehmann" kennenlernte, hat seine Heimatstadt Bremen mit dem Auto verlassen und steuert - die DDR existiert, die Mauer steht noch - Berlin an, um dort ein neues Leben zu beginnen.

    Frank Lehmann durchquert die Transitstrecke, achtet penibel auf die geltende Höchstgeschwindigkeit, lässt sich von Wolli nerven, einem Punker, den er von Bremen mitgeschleppt hat und der ihn zum Dank vom Beifahrersitz aus mit Berlin-Wissen volllabert, und: Frank Lehmann macht sich seine Gedanken.

    Dafür, für seine Grübeleien auf dem Pfad zwischen Tiefsinn und Unsinn, für wortklauberische Maximen und Reflexionen wie: "Wer immer zu früh kommt, ist auch unpünktlich", wurde Frank Lehmann vor sieben Jahren zu einem der erstaunlichsten Bestsellererfolge der neueren deutschen Literatur.

    "Irgendwann war es so dunkel, dass Wolli schwieg. Frank Lehmann bemerkte das erst gar nicht, weil er schon lange nicht mehr hinhörte, schon kurz hinter der Grenze bei Helmstedt hatte er die Ohren auf Durchzug gestellt und sich aufs Fahren konzentriert, vor allem darauf, die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit von 100 Stundenkilometern nicht zu überschreiten, denn das war ja Wollis Hauptthema zwischen Bremen und Hannover gewesen, dass die einen fertigmachen würden, wenn sie einen dabei erwischten, wie man ihre Geschwindigkeitsbegrenzung von 100 Stundenkilometern ignorierte, das hatte, allein schon durch die Sturheit, mit der Wolli dieses Thema zwischen Achim und Allertal in einem unaufhörlichen Redefluß wieder und wieder zu Tode geritten hatte, irgendwann dann doch Eindruck auf Frank gemacht, nicht so sehr, dass er Wollis Erzählungen, die Erzählungen von Leuten wiedergaben, die Leute kannten, denen das Erzählte einst widerfahren war, und die zusammengefasst darauf hinausliefen, dass ein allzu sorgloser rechter Fuß sie direkt in den Gulag bringen würde, für wirklich bare Münze genommen hätte, aber er war immerhin so weit davon eingeschüchtert, dass er um seine Ersparnisse zu fürchten begann, jene paar hundert Mark, die er von seinem Postsparbuch abgehoben hatte, um nach Berlin zu seinem Bruder zu fahren und ein neues Leben anzufangen, denn das war sein Plan. Kein besonders ausgefeilter Plan, dachte er gerade, als Wolli aufhörte zu reden und sie gemeinsam schweigend in das sehr dunkle Dunkel der Transitstrecke durch die DDR starrten, hat ein paar Schönheitsfehler, der Plan, dachte er, aber dann fiel ihm auf, dass Wolli nicht mehr redete, und die Stille hatte, zusammen mit der sie umgebenden Finsternis, eine beruhigende, einlullende Wirkung, der er sich gerne hingab. Scheiß drauf, ob der Plan Schönheitsfehler hat, dachte er, Hauptsache, es ist mal Ruhe im Schiff, und dann sah er nur noch der Straße dabei zu, wie sie sich in das funzlige Licht seiner Scheinwerfer schob wie ein alter harter Teppich."

    Erstaunlich war der Erfolg des Herr-Lehmann-Romans in mehrerer Hinsicht. Denn erstens war Lehmanns Erfinder Sven Regener, der heute 47-jährige Sänger und Chef der Band "Element of Crime", bis dahin zwar als Autor poetisch anspruchsvoller Songtexte aufgefallen, aber nicht als Autor literarischer Prosa. Regener betrat und eroberte die Literaturszene gleichsam aus dem Stand, ohne Anlauf und Jungautoren-Warming-up.

    Zweitens war der Inhalt seines 2001 erschienenen Debüts nicht gerade spektakulär. "Herr Lehmann" ist das Porträt eines ausgeprägt Ambitionslosen, den vor allem eine Sorge leitet: Dass in seinem Leben nicht allzu viel passiert. Frank Lehmann, gebürtiger Bremer, Wahlberliner, genauer Wahlkreuzberger, hat nichts anderes vor, als eine ruhige Kugel zu schieben, sein Einkommen mit einer Tätigkeit zu sichern, die ihm Spaß macht, nämlich dem Zapfen von Bier hinter einer Kneipentheke, und sich im übrigen seinen angeschrägten Grübeleien zu überlassen.

    Für diese statische Existenz im Rahmen kleinbürgerlich-bohemehafter bundesrepublikanischer Lebensbedingungen hatte sich Lehmann in einer hierfür günstigen Epoche und an einem nicht minder günstigen Ort eingerichtet: Im unmittelbaren Schatten der Berliner Mauer, im end- und ziellosen Wartezustand des Kalten Krieges Ende der 80er Jahre, im Kreuzberger Mikrokosmos gemächlichen und abgeschirmten Stillstands.

    Das Leben, das Frank Lehmann in jenem ersten Lehmann-Roman führte, war real nur ein Jahrzehnt vom rasenden Aktivismus der New Economy entfernt, in gefühlter Zeit aber Lichtjahre. Aber Lehmanns Idylle zwischen Bett, Bier und Arbeitsplatz, der Kneipe "Einfall", täuschte: Der 2001 erschienene Bestseller endete mit dem Fall der Mauer. Lehmann taumelt in der letzten Szene zwischen kreischenden Ostlern, weinenden Westlern, stinkenden Trabis durch die offenen Grenzen, kann es nicht fassen und befürchtet für die ruhige Kugel seines Kreuzberglebens das Schlimmste.

    Wie es mit Frank Lehmann im wiedervereinigten Deutschland weiter ging, steht in den Sternen. Wir werden es vermutlich nie erfahren. Denn "Herr Lehmann" war der erste Teil einer Romantrilogie, die - ungewöhnlich, aber passend zur skurrilen Bewusstseinswelt des Helden - die Geschichte Frank Lehmanns rückwärts erzählt, nicht vorwärts.

    Vor drei Jahren erschien der zweite Lehmann-Band, "Neue Fahr Süd", in dem Lehmanns Werdegang im Bremen der 70er Jahre beschrieben wurde. Lehmann verließ in diesem Band das Elternhaus, kämpfte sich durch den ideologischen Dschungel des westdeutschen K-Gruppen-Wesens und durch Liebesleid, wurde zur Bundeswehr eingezogen, entkam ihr durch einen Trick und begann, wiederum am Ende des Romans, eine neue Lebensepoche: Eben der Umzug nach Berlin, mit dem der Roman "Der kleine Bruder" beginnt. In der Chronologie des dreiteiligen Lehmann-Epos nimmt er das erzählerische Mittelstück ein.

    " Plötzlich waren sie nicht mehr allein auf der Straße. Von hinten kamen Autos, die sie nicht überholten, sondern sich damit begnügten, bis zu ihnen aufzuschließen und Frank im Rückspiegel zu blenden. Und auch vor ihnen tauchte bald eine größere Ansammlung von Autos auf, die wie auf eine Schnur gefädelt auf der rechten Spur dahin krochen. "Warum sind die jetzt plötzlich alle so langsam?" fragte Frank. "Da kommt jetzt gleich die Abfahrt", sagte Wolli und rutschte nervös auf seinem Sitz hin und her, "da kommt gleich die Abfahrt, bloß nicht überholen, da musst du aufpassen, so ein Schild mit 'Transit Westberlin', das darfst du auf keinen Fall verpassen." Wie um ihn zu bestätigen, fing die Schlange vor ihnen geschlossen an zu blinken, und dann tauchte auch schon das von Wolli angekündigte Schild auf, und sie bogen alle zusammen ab auf eine andere Autobahn. "Jetzt sind wir gleich da, jetzt sind wir gleich da", sagte Wolli. "Aber es ist doch überhaupt nichts zu sehen", sagte Frank. "Das ist immer so", sagte Wolli, "das hat nichts zu sagen. Aber das merkst du ja schon dadurch, wie voll das hier ist, dass wir gleich da sind!" Er starrte unruhig hinaus auf die Straße, mal aus dem Seitenfenster, mal durch die Frontscheibe. "Da kommt auch gleich noch mal ein Schild mit "Transit Westberlin", das dürfen wir auf keinen Fall verpassen". "Okay", sagte Frank. Man kann kein neues Leben anfangen und einen wie Wolli dabei haben, dachte er, während Wolli neben ihm immer mal wieder "Achtung gleich", rief, nichts gegen Wolli dachte Frank, er ist ein netter Kerl, aber man kann froh sein, wenn man ihn jetzt mal ein paar Wochen lang nicht sieht. "Jetzt, jetzt!" schrie Wolli wie von Sinnen. "Jetzt raus hier, raus hier, Transit!" Frank nahm die Ausfahrt nach Westberlin. Oder was Wolli dafür hielt. Denn sie gelangten zwar auf eine andere Autobahn, aber von der Stadt war immer noch nichts zu sehen. "Ich mein, Wolli, ich war ja noch nie in Berlin, aber das ist doch so eine große Stadt, warum sieht man denn davon nichts?" "Das ist immer so", sagte Wolli, "da kommt gleich erstmal der Grenzübergang". "Den seh ich auch nicht", sagte Frank. "Der kommt aber", beharrte Wolli. "Der muß ja kommen. Die können den ja nicht plötzlich abgebaut haben." Der ist ziemlich mit den Nerven fertig, dachte Frank, und er selbst, soviel war mal klar, war das inzwischen auch. Neues Leben hin, neues Leben her, dachte er, es sollte nicht mit der Fahrt durch einen langen dunklen Tunnel beginnen. Oder vielleicht doch, dachte er, als in der Ferne die hell strahlende Grenzkontrollstelle auftauchte wie ein frisch gelandetes Raumschiff. Oder vielleicht gerade doch". "

    Für Autor und Leser ist die Situation nicht ganz leicht. Sie machen Bekanntschaft mit Leuten, in deren Zukunft sie, durch die Kenntnis des ersten Romans, gleichsam hineinschauen können. Der dritte, jetzt erschienene Trilogieteil steht folglich unter einem erhöhten Plausibilitätsdruck. Er muss Figuren, Orte, Szenarien so einführen, dass sie sich wie die Buchstaben beim Scrabble sinnvoll als Teile zum Ganzen fügen.

    Eine Herausforderung, die indes in Lehmanns Hirn recht gut aufgehoben ist. Kaum hat er an seinem ersten Berlin-Tag von der Autobahn her kommend, den Kurfürstendamm passiert, Kreuzberg erreicht, Wolli vor einem besetzten Haus mit vernagelten Fenstern abgesetzt und die Wohngemeinschaftsadresse aufgesucht, wo er seinen älteren Bruder Manni zu finden hofft, trifft er auf das entscheidende Personal, das sich 2001 im Roman "Herr Lehmann" entfaltete. Er trifft auf Karl, den aufrechten, lautstarken Avantgardekünstler, der Lehmanns bester Freund und ihm neun Jahre später große Sorgen bereiten wird, weil er durchknallt und kurzfristig in die Psychiatrie einrückt.

    Und er trifft auf Erwin, den kleinen schlauen Schwaben Erwin Kächele, den Sven Regener im lässigen Umgang mit regionalistischen Klischees als Inbild des Kleinkapitalisten darstellt. Erwin Kächele, wir wissen es, ist Besitzer der Kneipe "Einfall", zukünftiger Besitzer weiterer Kreuzberger Kneipen und Lokale sowie Frank Lehmanns zukünftiger Arbeitgeber mit massivem Alkoholproblem. Außerdem ist er Besitzer, keineswegs gleichberechtigtes WG-Mitglied, der Wohnung, in der sich bei Lehmanns Ankunft auch noch Erwins vorlaute Nichte Chrissie aufhält.

    Nur Lehmanns Bruder Manfred, der hier seltsamerweise von allen Freddie genannt wird, ist nicht da. Seit Tagen ist er verschwunden, was aber niemand zu stören scheint. Die Kreuzberger haben weder Lust noch Zeit, über Freddies Ausbleiben nachzudenken. Ein Küchenplenum steht an, Inbegriff subkulturellen Zeitvertreibs der 70er und 80er Jahre, Inbegriff eines Lebensmilieus, das mit Ineffizienz nicht nur kein Problem hat, sondern sie regelrecht kultiviert.

    "Freddie? Ist er für länger weg? Ist er in Berlin oder ist er aus der Stadt raus oder was?" "Keine Ahnung", sagte Erwin. "Scheiße", sagte Frank, "das ist jetzt aber echt Scheiße!" "Wieso denn?" fragte Erwin. "Erwin", sagte Karl und streichelte Erwin über den Kopf. "Das ist doch sein Bruder. Der kommt aus Bremen. Jetzt ist er hier, um Freddie zu besuchen. Da hat er doch wohl ein Recht, mal Scheiße zu sagen". Erwin schlug ihm die Hand weg. Karl lachte. "Aber wir haben Glück, Erwin. Oder besser gesagt: Du hast Glück. Jetzt können wir das Plenum mit ihm machen, er ist ja blutsverwandt, sogar ersten Grades, oder erste Linie oder wie das heißt, da kann er ja Freddie vertreten auf deinem Plenum". "Das ist nicht mein Plenum. Ein Plenum gehört niemandem. Außerdem habe ich von Plenum gar nichts gesagt, ich muss doch bloß mit euch was besprechen". "

    Es dauert noch ein paar Buchseiten, ein paar Biere und paar Ouzos beim Griechen, bis Erwin die Katze aus dem Sack lässt. Die Mitbewohner Karl, Chrissie, der Neuzugang Frank und der abwesende Freddie sollen seine Wohnung verlassen, in der Erwin ab sofort eine bürgerliche Kleinfamilie mit Frau und künftigem Kind aufzuschlagen gedenkt. Gleichzeitig bietet Erwin den Freunden eine Wohnung über seiner Kneipe Einfall als neue Unterkunft an. Diese Wohnung gehört ihm ebenfalls. Die Typen, die bislang dort hausen, gedenkt Erwin auf die Straße zu setzen. Dies alles, so der Kreuzberg-Schwabe, werde sich innerhalb der nächsten 24 Stunden vollziehen.

    Jeder sinistre Immobilienhai aus der Berliner Innenstadt könnte von Erwin lernen. Nur der Jargon ist anders und die topografische Milieuroute, in deren Verlauf Erwin mit seinen Plänen herausrückt, ziemlich viel getrunken und geredet wird und Frank Lehmann in einer Art quasireligiösen Berufungserlebnis merkt, wie ungeheuer großen Spaß ihm das Bierverkaufen macht und dass dies der Beruf ist, der in Berlin auf ihn gewartet hat.

    Die Lehmann-Leserschaft lernt ihren Helden hier von seiner tatkräftigen Seite kennen. Denn Lehmann etabliert sich in Berlin innerhalb von zwei Tagen. Um dann offensichtlich in den kommenden zehn Jahren nicht mehr viel an seinem Leben zu verändern.

    Der Roman "Der kleine Bruder" umfasst einen erzählerischen Zeitraum von knapp 48 Stunden, die von ein paar Stunden Schlaf am Vormittag und ein bisschen Küchengesitze mit Kaffee abgesehen, mit einer Wanderung durch Kreuzberger Kneipen und Subkultur-Kultstätten ausgefüllt sind. Sie führt Frank, Karl, Erwin und Chrissie von der Küche zum Griechen, von da in die sogenannte "Arsch-Art-Galerie", zu einem Auftritt des Künstlers P. Immel, danach in eine Gastwirtschaft mit dem sprechenden Namen "Zone".

    Der nächste Abend ist dem Besuch einer Dichterlesung gewidmet, bei der es nicht weniger exzessiv zugeht wie am Abend vorher. Mikrofone und Bierflaschen fliegen durch die Luft, Stirnwunden platzen auf. Westberlin Anfang der 80er Jahre - das war die Hochzeit des Punks, der New Wave, die Zeit, in der die geteilte Hauptstadt endgültig zur Legende der Subkultur, das alternative, linksautonome Milieu zur Sehenswürdigkeit wurde. Unter anderem war es auch die Zeit eines explodierenden Kunstbegriffs.

    " "Pst", riefen mehrere Leute und drehten sich dabei nach ihm um. Klaus ging hinter dem Tresen in die Hocke und fummelte an seinen Schnürsenkeln. "Im roten Mond - für Oma", rief H.R. und machte wieder eine Kunstpause. "Nur Kotz und Blitz / Kotzblitz, Oma, verschnittene Lieder / Verbogene Jalousien deiner Seele /Wäre ich krank, ich wäre wie du / bin ichs nicht, bin ich schon tot / Gott du alte Karpatenkarpeike / Weh, wenn ich dich erwische"."

    So reimte Berlin-Kreuzberg vor einem Vierteljahrhundert drauflos: Im Schnittbereich von Tiefsinn, Flachsinn und schönem Unsinn. Damit ähneln die Verse dem Roman, dem sie entstammen. Denn wieder einmal, zum dritten Mal, führen uns die Lehmann'sche Lakonie, der staubtrockene Lehmann-Humor, die Lehmann-Logik und die Lehmann'sche Philosophie des Banalen aufs Glatteis der Hermeneutik. Hält man die Lehmann-Romane für nichts anderes als reine, wunderbar blödelnde Unterhaltung, für Belletristik gewordene Comedy, übersieht man ihre Qualitäten als Zeit- und Mentalitätsliteratur. Mutet man dem Roman komplexe Interpretationen zu, gleiten diese als Spielverderberei an den Pointen, an den endlos dahin fließenden, sich windenden und kreisenden Dialogen ab. Sie sind, auch in diesem Roman, eindeutig Regeners Stärke.

    Beide, der Autor und sein Held, wirken in diesem Roman etwas forcierter, etwas weniger gelassen. Deutlicher und rascher als sonst formuliert Sven Regener seine Erzählthemen: Die Dialektik von Schein und Sein, von Kunst und Kommerz im antibürgerlichen Raum, sowie das Autoritätsverhältnis eines deutschen Bruderpaares.

    Und Frank Lehmann ist handlungsfähiger denn je. Immerhin stellt er im "Kleinen Bruder" sein komplettes Leben auf neue Beine, findet innerhalb von zwei Tagen eine neue Wohnung, eine neue Arbeit und neue Freunde in Berlin. Er schafft sich jene Existenzgrundlage, bei der es dann für ein Jahrzehnt ohne Veränderung bleiben wird. Man merkt, dass er von dem späteren Herrn Lehmann noch zehn Jahre Bierkonsum entfernt ist. Momentweise glaubt man, um Lehmanns Charme der geistigen Umständlichkeit und sprachlichen Penibilität fürchten zu müssen. Aber dann, spätestens wenn Lehmann im Kreuzberger Nacht- und Kulturleben aufschlägt, ist alles beim Alten und der Leser höchst amüsiert in Lehmanns Bann.

    "Er überlegte nicht lange, sondern griff nach dem Aschenbecher, in den er eben gerade noch das Streichholz gelegt hatte, und warf ihn in Richtung Tresen, und die Phalanx der dort auf den Fußrasten ihrer Barhocker stehenden Zuschauer geriet in Unordnung, einige Leute warfen sich nach links, andere nach rechts, und nur ein Sekundenbruchteil später kam der Aschenbecher auch durch die entstandene Lücke geflogen. Er setzte einmal auf dem Tresen auf, wie ein flacher Kiesel auf der Oberfläche des Vahrer Sees, wie Frank in diesem Moment komischerweise, wie er fand, dachte, und flog dann weiter und genau dem aus seiner geduckten Stellung gerade wieder auftauchenden Klaus an die Stirn. Klaus schrie auf, aber es war nicht nur ein Schmerzens-, sondern auch und vor allem ein Zornesschrei, so klang er jedenfalls für Frank."

    Sven Regener: Der kleine Bruder
    Eichborn Verlag, Berlin 2008
    300 Seiten, 19.95 Euro