Mittwoch, 24. April 2024

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Lehren aus dem Anschlag am Breitscheidplatz
"Die ganze Wahrheit liegt noch nicht auf dem Tisch"

Die Behörden hätten sich gegenüber den Opfern des Anschlags auf dem Breitscheidplatz "sehr herzlos gezeigt", sagte der SPD-Innenexperte Dieter Wiefelspütz im Dlf. Dieses müsse schnell geändert werden. Ein abschließendes Urteil darüber, wie der Anschlag hätte verhindert werden können, sei aber schwierig, da "längst nicht alle Tatsachen auf dem Tisch liegen".

Dieter Wiefelspütz im Gespräch mit Silvia Engels | 19.12.2017
    Porträtfoto eines lächelnden Dieter Wiefelspütz
    "Wenn man das regeln will, auf menschlich angemessene Weise, dann geht das natürlich auch rückwirkend", sagte Dieter Wiefelspütz im Dlf zum Thema Entschädigung der Terroropfer (imago/Hans-Günther Oed)
    Silvia Engels: Der Anschlag vom Breitscheidplatz vor einem Jahr, er hat auch eine politische Debatte ausgelöst, die bis heute anhält. Und diese Debatte hat zwei Stränge. Zum einen mussten die Innenbehörden Lehren daraus ziehen, dass der Attentäter Amri zwar den Behörden bekannt war, aber eine genauere Überwachung oder gar Ausweisung versäumt wurde. Zum anderen zeigte sich aber auch, dass die Hilfe für Opfer von Terroranschlägen offenbar Lücken aufweist. Über beides wollen wir sprechen mit Dieter Wiefelspütz. Er war lange Jahre der innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion und ist nun am Telefon. Guten Tag, Herr Wiefelspütz.
    Dieter Wiefelspütz: Guten Tag, Frau Engels.
    Engels: Gesetzliche Änderungsvorschläge beim Opferschutz, sie werden derzeit im Bundestag bereits beraten. Wird es künftig mehr finanzielle Unterstützung und vor allen Dingen auch persönliche Begleitung für Verletzte und Hinterbliebene von solchen Anschlägen geben?
    "Das ist vielleicht alles sehr, sehr deutsch, sehr bürokratisch"
    Wiefelspütz: Es ist ja sehr bedauerlich, dass wir in Deutschland immer wieder Katastrophen benötigen, um konsequenter zu lernen. Aber man muss einräumen, jetzt auch nach der Diskussion, auch nach den Initiativen von Kurt Beck wird jetzt etwas passieren, und ich denke, man wird insbesondere im materiellen Bereich deutliche Verbesserungen erzielen. Es gibt eine Reihe von Vorschlägen, die auf dem Tisch liegen, und ich gehe davon aus, dass das jetzt zügig umgesetzt wird und dass die Opfer des Anschlages von vor einem Jahr auch schon in Genuss dieser Änderung kommen werden.
    Engels: Es mag ja zynisch klingen, aber da die Tatwaffe auf dem Breitscheidplatz ein LKW war und keine Bombe, greift laut Gesetz bislang die Verkehrsopferhilfe und nicht eine Entschädigung für Terroropfer. Kann man so etwas noch rückwirkend ändern oder waren da die Behörden einfach schlecht vorbereitet? Denn es war ja nicht das erste Mal, dass ein Fahrzeug zur Waffe wurde.
    Wiefelspütz: Das ist vielleicht alles sehr, sehr deutsch, sehr bürokratisch, vermutlich auch sogar gar nicht böse gemeint, aber in den Auswirkungen wirkt das ja einfach nur herzlos und man ist entsetzt, wenn man diese Buchstabengläubigkeit in ihren Konsequenzen durchdekliniert. Ich bin mir sehr sicher: Wenn man das regeln will, auf menschlich angemessene Weise, dann geht das natürlich auch rückwirkend. Da sehe ich überhaupt kein Problem. Das ist noch eine der leichtesten Übungen, um so etwas hinzubekommen. Da bedarf es einfach nur des guten Willens und ich glaube, der Konsens ist ja inzwischen auch da, dass man sich da letztlich auch gegenüber den Hinterbliebenen sehr herzlos gezeigt hat, und das muss jetzt korrigiert werden und ich gehe davon aus, dass das auch korrigiert werden wird.
    !Engels:!! Dann schauen wir jetzt auf den zweiten Strang der politischen Debatte, den ich zu Anfang angesprochen habe, nämlich die Konsequenzen für die Innenbehörden. Die politische Aufarbeitung des Anschlags hat ja gezeigt, dass der Attentäter den Behörden länger bekannt war. Die Fehleinschätzung über seine Gefährlichkeit und die Zuständigkeit mehrerer Länderbehörden, die führten dazu, dass Anis Amri ungestört seinen Anschlag planen konnte. Könnte so etwas heute immer noch geschehen?
    "Der Anschlag hätte verhindert werden müssen"
    Wiefelspütz: Der Anschlag ist ja vor einem Jahr passiert. Ein Jahr ist ins Land gegangen, es ist einiges an die Öffentlichkeit gedrungen. Aber ich bin nach meinem Kenntnisstand der Auffassung, dass die ganze Wahrheit noch nicht auf dem Tisch liegt. Es wird ja erneut Untersuchungsausschüsse geben. Die Aufklärung dieses gesamten Vorgangs, die dringend notwendig ist, die ist noch lange nicht abgeschlossen. Es verdichten sich ja die Erkenntnisse, dass der Anschlag - und im Grunde ist das ja eine Tragödie - verhinderbar war, hätte verhindert werden können und hätte verhindert werden müssen. Der Täter war auf dem Schirm der Sicherheitsbehörden, und zwar sogar viel, viel intensiver, als das bislang bekannt gewesen ist. Da wird möglicherweise auch noch die eine oder andere sehr unangenehme Wahrheit auf den Tisch kommen. Vor diesem Hintergrund sind wir noch gar nicht am Ende der Debatte. Die kann ja auch erst dann wirklich sachverständig geführt werden, wenn die ganze Wahrheit auf dem Tisch ist.
    Ich gehe davon aus, dass man hätte Herrn Amri aus dem Verkehr ziehen können, ja aus dem Verkehr hätte ziehen müssen, dass man das aber aus übergeordneten Gründen nicht getan hat, weil man vermutlich seine Kontakte zum IS abschöpfen wollte und wichtige Erkenntnisse gewinnen konnte, dabei aber aus dem Auge verloren hat, dass er selber brandgefährlich war. Der Anschlag hätte vermutlich verhindert werden können, ist aber leider nicht verhindert worden, und das ist ein riesen Problem für uns alle letzten Endes.
    Engels: Das heißt, Sie teilen die Ansicht derer, die vermuten, dass das gezielt von den Behörden eingefädelt wurde, um über Amri an andere, möglicherweise noch hochkarätigere Anschlagsplaner zu kommen?
    "Es liegen längst nicht alle Tatsachen auf dem Tisch"
    Wiefelspütz: Ich bin mit endgültigen Urteilen sehr zurückhaltend, weil das zurzeit gar nicht möglich ist. Es liegen ja längst nicht alle Tatsachen auf dem Tisch. Deswegen ist es dringend erforderlich, dass die Untersuchungsausschüsse intensiv an diesem Thema arbeiten, auch auf der Bundesebene, damit die Wahrheit auf den Tisch kommt, und dann kann man auch die nötigen Schlussfolgerungen ziehen.
    Engels: Ihr Hund schaltet sich auch kurz in das Interview ein, aber wir versuchen es trotzdem weiterzuführen. - Versuchen wir jetzt den Blick nach vorne. Es gibt ja nun einen verbesserten Datenaustausch der Behörden zur Gefährderbewertung. Reicht das aus oder müssen die Länder noch enger kooperieren?
    Wiefelspütz: Ich denke schon, dass in der Nacharbeit in den letzten Monaten man sich wirklich bemüht hat, besser zu werden auf diesem Sektor, und auch diese Gefährdereinschätzung ist besser geworden, keine Frage. Trotzdem wird man auch da erst wirklich eine Bilanz ziehen können, ob wir unser Bestes geben, wenn wir alle Fakten auf dem Tisch haben. Es ist ja doch so, dass der Anschlag vermutlich hat verhindert werden können. Insgesamt gesehen ist es aber richtig, was Sie andeuten: Zusammenarbeit der vielen, vielen Sicherheitsbehörden, die wir in Deutschland haben, ist der Schlüssel für mehr Sicherheit. Bei dem Fall Amri ist ja inzwischen auch geläufig, oder jeder Mensch, der sich dafür interessiert, weiß das inzwischen auch: Es sind Sicherheitsbehörden in Süddeutschland, Baden-Württemberg im Spiel gewesen, in Nordrhein-Westfalen, in Berlin und auch das Bundesamt für Verfassungsschutz, also wenn Sie so wollen das Innenministerium des Bundes. Ganz viele Sicherheitsbehörden waren involviert und da ist der Schlüssel intensive Zusammenarbeit, und wenn es da hakt, haben wir ein großes Problem.
    Engels: Intensivere Zusammenarbeit. Können Sie es konkreter machen? Muss da auch möglicherweise Länderkompetenz beschnitten werden, um zentral besser zugreifen zu können?
    "Bei einer falschen Sicherheitsabwägung werden auch in Zukunft solche Katastrophen möglich sein"
    Wiefelspütz: Ich glaube nicht, dass das Beschneiden von Kompetenzen der richtige Weg ist. Das Problem bei Amri war ja, der Mann war bekannt und auch seine Gefährlichkeit war bekannt. Man hat aber die Sicherheitslage anders eingeschätzt. Man glaubte, es wohl verantworten zu können, dass man ihn weiterhin laufen lässt, unter Beobachtung, aber dann hat man wohl offenbar die Risiken im Ergebnis falsch eingeschätzt. Das wird weiter aufzuklären sein. Der Fall ist ja mehrfach auch in den gemeinsamen Besprechungen von Bund und Ländersicherheitsbehörden erörtert worden, sehr intensiv. Das muss man aber vermutlich noch besser machen. Die Möglichkeiten sind heute schon gegeben. Wenn man allerdings falsche Lageeinschätzungen, falsche Sicherheitsabwägungen trifft, dann werden auch in Zukunft solche Katastrophen möglich sein.
    Engels: Dieter Wiefelspütz, langjähriger Innenexperte der SPD-Fraktion im Bundestag. Vielen Dank für das Gespräch heute Mittag.
    Wiefelspütz: Schönen Dank!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.