Dienstag, 19. März 2024

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Lehren aus der Pandemie
Soziologe: "Mehr soziale Kompetenz wäre angebracht"

Der Soziologe Stephan Lessenich sieht in der Erfahrung eines gemeinsam geteilten Risikos in der Pandemie einen großen Wert. Doch vermisst er echten gesellschaftlichen Zusammenhalt über soziale und nationale Grenzen hinweg. Jetzt sei eine nachhaltige sozialpolitische Debatten notwendig, forderte er im Dlf.

Stephan Lessenich im Gespräch mit Sandra Schulz | 18.05.2021
Der Münchner Soziologe Stephan Lessenich
Der Münchner Soziologe Stephan Lessenich warnte im Dlf vor einem falschen Solidaritätsbegriff und plädiert für mehr gesellschaftlichen Diskurs (dpa / picture alliance / Horst Galuschka)
Noch ist die Pandemie nicht unter Kontrolle und eine Entwarnung verfrüht, mahnen Experten. Und doch gibt es ganz unbestreitbar positive Nachrichten in diesem Frühjahr: Die Impfquote steigt, die Neuinfektionszahlen sinken. Erste Lockerungen für Geimpfte und Genesene greifen jetzt schon und auch angesichts sinkender Inzidenzzahlen werden jetzt weitere Lockerungen diskutiert, zum Beispiel in der Außengastronomie, im Tourismus und eingeschränkt selbst im Schulbetrieb. Bei allen Warnungen vor zu schnellen Öffnungen hat der Berliner Virologe Christian Drosten davon gesprochen, es könne ein guter Sommer werden.
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Professor Stephan Lessenich vom Institut für Soziologie der Ludwig Maximilians Universität in München hält dieses "Licht am Ende des Tunnels" individuell und auch kollektiv für wichtig. Allerdings werde es ein allgemein gesellschaftliches Gefühl der Freude kaum geben, sagte er im Dlf. Die Lebensumstände seien zu unterschiedlich – und sozial Schwächere könnten nicht wie andere losstarten, sondern seien damit beschäftigt, unter den neuen Bedingungen ihren Lebensalltag zu regeln.
Zudem habe die Gesellschaft noch nicht diese widersprüchliche Situation ausdiskutiert, "dass wir einerseits vor Lebensfreude explodieren sollen und andererseits Zehntausende Tote zu beklagen haben". Ein Besinnungstag des Bundepräsidenten reiche nicht aus, sondern es müssten dauerhaft die Verhältnisse in den Lebensbereichen thematisiert werden, die uns sonst nicht zugänglich sind, "also wo vor sich hingestorben wird, ohne dass wir das sehen". Er fordert, Räume für sozialpolitische Debatten zu schaffen, die nicht nur unter Corona-Bedingungen aktuell sind.
German President Frank-Walter Steinmeier, left, and German chancellor Angela Merkel, right, sit for an ecumenical service at the Kaiser Wilhelm Memorial Church to mark the central commemoration of those who died in the Corona pandemic in Germany, Berlin, Sunday, April 18, 2021. (Gordon Welters/Pool via AP)
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Stephan Lessenich kritisiert, dass der Solidaritätsbegriff in der Pandemie überstrapaziert worden sei. Es handele sich eigentlich um einen anspruchsvollen Begriff, der sich nicht auf alltägliches Handeln wie das Einkaufen für die Nachbarn beziehe. Zudem stellt der Soziologe fest: "Solidarität über nationale, territoriale Grenzen hinweg war ziemlich mau und ist bis heute eigentlich begrenzt. Wie das Pandemiegeschehen anderswo verläuft, gerade außerhalb Europas, ist uns eigentlich letzlich herzlich egal." Es sei ein Armutszeugnis, wenn wir hier zusammenhielten und darüber andere ausgrenzten.
Wichtig sei nun, das Gefühl der Gesellschaftlichkeit mitzunehmen und auf die Gesellschaft im eigenen Land, aber auch international zu übertragen.


Das Interview im Wortlaut:
Schulz: Es wird jetzt Wochen oder vielleicht Monate geben, in denen man ganz wunderbar finden wird, was vor der Pandemie für die allermeisten ganz normal war: Essen gehen, wenn es ins Budget passt, Reisen, mit jemandem auf dem Balkon Kaffee trinken. Wie lange wird das anhalten?
Lessenich: Eine solche Prognose würde ich nicht wagen. Ich denke, Herr Drosten hat vermutlich recht, dass der Sommer entspannt werden wird oder relativ entspannt. Das hatten wir in ähnlicher Weise schon im vergangenen Jahr. Was dann im Herbst/Winter folgen wird, ob dann eine vierte Welle doch noch kommt, weil zu früh geöffnet und gelockert wurde, das kann man nicht sagen, als Soziologe ohnehin nicht. Da sind wir für solche Prognosen eigentlich schlecht gewappnet.

"Dieses Licht am Ende des Tunnels ist natürlich extrem wichtig"

Schulz: Ich wollte mit Ihnen auch eher auf die Stimmungslage schauen, nicht auf die virologische Prognose.
Lessenich: Die Stimmungslage ist schon dabei, sich zu heben, glaube ich. Dieses Licht am Ende des Tunnels ist natürlich extrem wichtig – nicht nur individuell, sondern auch kollektiv, gesellschaftlich, dass man irgendwie die Aussicht hat, dass sich die Dinge verändern werden, und zwar zum Besseren, und zu einer vermeintlichen oder tatsächlichen Normalität zurückgekehrt werden kann. Von daher, denke ich, sehnen jetzt viele den Sommer herbei, nicht nur meteorologisch, sondern auch sozial, und ich denke, das hat gute Gründe und ist sehr nachvollziehbar.
Schulz: Dieses Gefühl, dass Dinge jetzt für einen Moment wahnsinnig glücklich machen, die wie gesagt vor der Pandemie relativ normal waren, das schildern jetzt viele. Hat die Pandemie die Menschen auch demütiger gemacht?
Lessenich: Ja, ich würde sagen, situativ durchaus. Ich glaube, das sind Erfahrungen, die viele von uns machen, dass man die kleinen, ganz alltäglichen Dinge, die früher, bis vor ein, anderthalb Jahren normal waren und dann nicht mehr möglich waren, dass man die jetzt neu wertschätzt. Sich mal wieder mit Freunden zu treffen, oder, wenn man zuletzt durch München ging und wieder Außengastronomie sah, da wurde auch bei eigentlich nicht geeigneten Temperaturen und Wetterverhältnissen draußen gesessen, koste es was es wolle.
Und es ist völlig klar, dass man diese Kleinigkeiten des Alltags, diese kleinen Freuden jetzt neu wertschätzt, und das kann natürlich auch eine Quelle von einem Optimismus sein, dass es vielleicht nach dem Sommer tatsächlich auch dauerhaft besser wird.

"Ein allgemeines gesellschaftliches Gefühl wird es kaum geben"

Schulz: Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung hat schon mal die These vorgelegt, dass jetzt die Lebensfreude explodieren wird. Denken Sie das auch?
Lessenich: Na ja, kurzzeitig. Das hängt aber mit Frühling und Sommer auch zusammen. Ich glaube, man kann da als Soziologe auch immer schlecht ganz allgemein gültige Aussagen formulieren, weil wir haben ja auch eben schon in dem Bericht gehört, es gibt so unterschiedliche Soziallagen in dieser Gesellschaft. Es gibt Leute, die jetzt wirklich losstarten können, weil sie geimpft sind oder weil sie vielleicht Aussicht auf einen Impftermin haben und weil sie auch ansonsten die Ressourcen haben, jetzt dem nachzugehen, dem sie früher auch nachgingen. Und andere, die sozial schlechter gestellt sind, die sind erst mal damit beschäftigt, jetzt auch unter den neuen Bedingungen ihren Lebensalltag zu regeln und auf die Reihe zu kriegen. Deswegen, glaube ich, wird es ein allgemeines gesellschaftliches Gefühl auch kaum geben.
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Schulz: Insgesamt hat die Gesellschaft natürlich auch unheimlich viel noch zu verkraften, wenn wir denken an die mehr als 80.000 Menschen, die an oder mit Corona gestorben sind, daran, wie es den Menschen in den Pflegeheimen gegangen ist, die zu schlecht geschützt waren, wenn wir auch die Polarisierungen sehen, weil sich Menschen auch teils zu stark gegängelt gefühlt haben durch die Anti-Corona-Maßnahmen. Wie kann das gesellschaftlich aufgearbeitet werden?
Lessenich: Was das angeht, ist ja interessant, dass die Toten, die Corona gefordert hat, weit weniger skandalisiert wurden als die Maßnahmen, die ergriffen wurden, um weitere Tote zu verhindern. Die Situation in Pflegeheimen gerade zu Beginn der Pandemie, aber eigentlich auch in einer längeren Frist ist ja in einer Weise von den gesellschaftlichen Bewusstsein abgespalten. Die Leute sind interniert. Das bekommen die Angehörigen mit und die Pflegekräfte und ansonsten im breiteren gesellschaftlichen Diskurs spielt das keine Rolle. Das ist schon interessant, dass wir jetzt einerseits vor Lebensfreude explodieren sollen und andererseits Zehntausende von Toten zu beklagen haben. Diese widersprüchliche Situation hat diese Gesellschaft eigentlich auch öffentlich noch nicht ausdiskutiert und da ist vermutlich auch ein Instrument wie ein Besinnungstag, der vom Bundespräsidenten organisiert wird, nicht das richtige Mittel, sondern da müssten tatsächlich auch dauerhaft die Verhältnisse in den Lebensbereichen thematisiert werden, die uns sonst nicht zugänglich sind, wo vor sich hingestorben wird, ohne dass wir das sehen.

"Corona womöglich ein Türöffner für sozialpolitischen Debatten"

Schulz: Was denken Sie, in welchen Formaten sollte das passieren? Ist das die Richtung Untersuchungsausschuss im Bundestag? Sind das Debattenformate? Muss so was der Bundespräsident adressieren?
Lessenich: Ich denke, eine allererste Instanz dafür ist natürlich das Parlament. Ich würde sagen, im Parlament, im Bundestag, aber auch in den Landtagen ist herzlich wenig diskutiert worden über Maßnahmen, aber auch über Hintergründe. Das ist immer nur vereinzelt in Bezug auf einzelne Punkte vielleicht gemacht worden. Aber solche Generaldebatten in den Parlamenten, die ja politisch die Repräsentation auch der Gesellschaft sind, hat man eigentlich vermisst. Aber ich glaube, das kann nicht von oben kommen, sondern es müssten Räume auch des gesellschaftlichen Diskurses organisiert werden, wie wir beispielsweise die Pflege von alten Menschen organisieren. Dafür könnte Corona womöglich ein Türöffner sein, dass solche sozialpolitischen Debatten im engeren und im weiteren Sinne in dieser Gesellschaft geführt werden, die ja nicht nur unter Corona-Bedingungen aktuell sind.
Schulz: Und die Chance sehen Sie tatsächlich? Wir haben das Beispiel der Pflegekräfte gesehen, denen applaudiert wurde in den Wellen der Pandemie und wo jetzt dann doch die Verhandlungen um höhere Gehälter sich ziemlich zäh gestalten.
Lessenich: Ja, das mit dem Applaudieren halte ich mittlerweile für einen gesellschaftlichen Mythos. Ich glaube, in Deutschland hat man das selten gesehen. In Italien und Spanien unter ganz anderen Lockdown-Bedingungen war das in der Tat der Fall. Aber ja, es gibt wie gesagt eine Abspaltung zwischen einer situativen Wertschätzung von offensichtlich funktionsnotwendigen lebenswichtigen Berufen und Gesellschaftsbereichen, und dann, sobald die Dinge wieder etwas besser gehen, vergisst man das wieder. Ich glaube, gerade dieses Abspalten von bestimmten Bereichen aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein ist ein ganz großes Problem. Wir tendieren jetzt natürlich dazu, nach Corona, wenn es ein nach Corona gibt, so weiterzumachen und weiter machen zu wollen wie bisher, aber ich glaube, das sollten wir nicht tun.
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"Solidarität über Grenzen hinweg war ja ziemlich mau"

Schulz: Dazu passt noch das Thema Solidarität, die ja viel beschworen wurde in der Pandemie. Sie haben da schon früh ein ziemliches Unbehagen formuliert. Warum?
Lessenich: Ja, weil der Begriff einerseits überdehnt worden ist. Alle möglichen alltäglichen Handlungen, wenn ich für die Nachbarin einkaufen gehe, wurde als Solidarität bezeichnet. Eigentlich ist Solidarität ein anspruchsvoller Begriff und auch ein Kampfbegriff, wo man gemeinsam einsteht und gemeinsam handelt, um einen Notstand oder Missstand zu verbessern, und nicht nur für andere etwas tut. Andererseits – und das ist bis heute so – muss man sagen, die Solidarität über Grenzen hinweg, nicht nur über soziale Grenzen hinweg, sondern vor allem über territoriale, nationale Grenzen hinweg, die war ja ziemlich mau und ist bis heute eigentlich begrenzt. Wie das Pandemie-Geschehen andernorts verläuft, gerade auch außerhalb Europas, ist uns eigentlich letztlich herzlich egal. Was man andererseits sagen kann, ist ein bisschen kontraproduktiv, weil über diese Wege kann die Pandemie natürlich jederzeit über Mutationen auch zurückkehren. Aber unter solidarischen Gesichtspunkten ist es natürlich ein Armutszeugnis, wenn wir hier zusammenhalten und darüber andere ausgrenzen.

"Der Verzicht war sehr ungleich verteilt"

Schulz: Aber ist es nicht zumindest ein wichtiger erster Schritt, wenn man das je nach Bezugspunkt entscheidet, wenn man sagt – und so kann man es ja schon grob skizzieren -, es hat eine große, große Mehrheit auf unheimlich viel verzichtet, um die Menschen, die am stärksten bedroht waren, zu schützen? Warum ist das keine Solidarität?
Lessenich: Verzicht ist nicht immer Solidarität. Etwas nicht zu tun, ist nicht unbedingt Solidarität. Ich möchte auch die Praktiken, die es gegeben hat, und die Einschränkungen überhaupt nicht kleinreden. In dieser Gesellschaft ist auf Vieles von vielen verzichtet worden, was normal war bisher. Diese Normalitätsstandards sind natürlich hier gegeben, andernorts gar nicht. Andernorts sind die Lebensverhältnisse ungefähr immer so, was Mobilität angeht zum Beispiel, wie es jetzt hier in Zeiten der Pandemie ist. Aber ich würde auch sagen, der Verzicht war sehr ungleich verteilt. Bestimmte soziale Gruppen haben auf vieles verzichtet. Andere, die auch ohne weiteres Homeoffice machen konnten, weil sie dafür die besten Voraussetzungen haben, haben eigentlich relativ auf wenig verzichtet. Die sind dann nicht rausgegangen zum Essen, sondern haben es sich nachhause bringen lassen.
Ich glaube, wir sollten das nicht überbetonen. Es ist gut, wenn diese Gesellschaft zusammensteht bei einem gemeinsam geteilten Risiko. Man sollte aber bei diesem Zusammenstehen nicht das Außen vergessen und auch nicht die besondere Lebenslage vergessen, in der man selbst individuell ist und in der diese Gesellschaft sich auch weltweit befindet.
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"Das Gefühl von Gesellschaftlichkeit ist viel wert"

Schulz: Was wünscht sich der Soziologe Stephan Lessenich? Was sollen wir mitnehmen aus dieser Pandemie?
Lessenich: Ich glaube, das Gefühl von Gesellschaftlichkeit, was wir mitnehmen, ist viel wert. Wer schon mal in Impfzentren jetzt gewesen ist und diesen Prozess durchlaufen hat, hat wirklich Gesellschaft erfahren. Da kommt der Querschnitt der Gesellschaft zusammen, um das gleiche zu tun und unter ziemlich gleichen Bedingungen. Nachher sitzen alle 15 Minuten noch wie Schachfiguren im großen Raum und wissen umeinander und dass sie ein gemeinsames Schicksal teilen. Das ist, der Bundespräsident würde sagen, ein Hochamt der Gesellschaft. Diese Erfahrung des gemeinsam Geteilten, diese Erfahrung von Gesellschaftlichkeit, die sollten wir mitnehmen, weil wir eigentlich in den letzten Jahrzehnten sehr stark auf Individualität und Individualismus geschielt haben, und ich glaube, etwas mehr soziale Kompetenz wäre schon angebracht.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.