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Lehren aus der Vergangenheit

Welche gesundheitlichen Folgen der Reaktorunfall in Japan haben wird, lässt sich im Moment noch schwer abschätzen. Denn selbst für Tschernobyl ist diese Frage noch nicht endgültig geklärt.

Von Arndt Reuning | 18.04.2011
    Von den 134 Ersthelfern, die versucht haben, den Nuklearbrand von Tschernobyl zu bekämpfen, sind 28 in den ersten 60 Tagen nach der Explosion an den Folgen der Strahlenkrankheit gestorben. Das sind die harten Zahlen. Welche Langzeitfolgen darüber hinaus durch den radioaktiven Fallout entstanden sind, darüber streiten die Experten noch. Eindeutig ist die Situation noch beim Schilddrüsenkrebs, sagt Wolfgang-Ulrich Müller, Professor am Universitätsklinikum Essen.

    "Da ist definitiv klar, dass drei bis vier Jahre nach dem Reaktorunglück die Zahl der Schilddrüsentumorfälle bei den Kindern angestiegen ist – weil leider versäumt worden ist, Jodtabletten auszugeben. In der ganzen Umgebung Tschernobyls sind keine Jodtabletten ausgegeben worden. Damit hätte man viele der Fälle verhindern können."

    Über 5000 Fälle wurden bislang diagnostiziert. Für Fukushima und Umgebung erwartet der Strahlenbiologe keinen signifikanten Anstieg beim Schilddrüsenkrebs. Denn in Japan habe man aus den Erfahrungen von Tschernobyl zumindest in dieser Hinsicht gelernt.

    "Daraus hat man definitiv gelernt, denn in einigen Präfekturen in Japan sind zumindest Jodtabletten verteilt worden. Und ich meine, in zwei Distrikten wäre auch die Aufforderung gekommen, die Jodtabletten einzunehmen."

    Neben den Kindern, die besonders anfällig für Schilddrüsenkrebs sind, wurde in Tschernobyl auch noch eine zweite Gruppe von Menschen besonders intensiv untersucht: die sogenannten Liquidatoren. Menschen, die nach der akuten Notfallsituation geholfen haben, die Sperrzone zu dekontaminieren und zu überwachen. Studien an Überlebenden der Atombombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki ließen anfangs vermuten, dass bei ihnen die Zahl der Leukämiefälle deutlich ansteigen würde.

    "Eigentlich ist zu erwarten, dass der eine oder andere Leukämie-Fall durch die Strahlendosen, die die Liquidatoren erhalten haben, aufgetreten ist. Und es gibt auch einige Untersuchungen, die in diese Richtung deuten. Aber so richtig handfeste Daten, wie wir sie zum Beispiel in Hiroshima und Nagasaki haben, die gibt es leider eben nicht."

    Das bevorzugte Werkzeug, mit dem Mediziner und Strahlenbiologen den Zusammenhang zwischen Dosis und Wirkung untersuchen, ist eine Kohortenstudie. Die Mediziner beobachten dazu eine Gruppe von Personen, von denen sie die Strahlenbelastung möglichst genau kennen. Weil es oft viele Jahre dauert, bis ein Tumor entsteht, begleiten sie die Probandengruppe teilweise über Jahrzehnte hinweg. Am Ende vergleichen sie dann die Krebsrate mit einer Gruppe, die der Radioaktivität nicht ausgesetzt gewesen ist, um das zusätzliche Risiko für eine Krebserkrankung zu errechnen. Ein langwieriges und kompliziertes Unterfangen. Außerdem gibt es noch eine weitere Schwierigkeit dabei, sagt der Strahlenexperte Keith Baverstock, der an der Universität Ostfinnland lehrt.

    "Die Ergebnisse hängen davon ab, von welchen Annahmen man ausgeht. Ich habe abgeschätzt, dass durch Tschernobyl in ganz Europa ungefähr 30.000 bis 60.000 Menschen zusätzlich an Krebs erkranken werden. Andere Zahlen sind dramatisch höher, bis über eine Million. Andere hingegen liegen deutlich darunter. Zu diesen niedrigen Werten kommt man, wenn man von einem Schwellenwert ausgeht, unter dem die radioaktive Strahlung keine Wirkung hat. Sagen wir mal eine Dosis von 100 Millisievert. Nimmt man sich nun die Daten von Tschernobyl vor, dann lässt man in diesem Fall für die Auswertung nahezu jeden weg, der nicht zur Gruppe der Liquidatoren gehört oder zu den Menschen, die anfangs noch in der Sperrzone lebten."

    In der Debatte um die Tumorerkrankungen werde allerdings eine zweite, wichtige Auswirkung der Katastrophe oft übersehen, sagt Baverstock: die psycho-sozialen Folgen. Das Gefühl, ein hilfloses Opfer der Umstände zu sein. Und die Angst vor einer Bedrohung, die allgegenwärtig erscheint, die man aber trotzdem weder sehen, schmecken noch fühlen kann.

    "Eine Lehre aus Tschernobyl hat man in Fukushima außer Acht gelassen: Nämlich dass die Menschen darüber informiert werden müssen, ob sie vor der Strahlung sicher sind und welche Maßnahmen sie zum eigenen Schutz ergreifen müssen. Diese Hinweise kamen nicht früh genug. Und noch etwas anderes haben wir aus Tschernobyl gelernt: Diese Informationen müssen aus einer vertrauenswürdigen und verlässlichen Quelle stammen. Industrieunternehmen und Staatsregierungen zählen trauriger weise nicht dazu."

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    Blick auf die von einem Sarkophag umhüllte Reaktoranlage in Tschernobyl.
    Blick auf die von einem Sarkophag umhüllte Reaktoranlage in Tschernobyl. (AP)