Dienstag, 19. März 2024

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Lehrerverband VBE
"Vereinfachtes Meldeverfahren" bei Gewalt gegen Lehrkräfte

Lehrkräfte müssten bei Gewaltvorfällen einen Anspruch darauf haben, vom Dienstherrn juristisch und psychologisch begleitet zu werden, fordert Udo Beckmann vom Verband Bildung und Erziehung. Zudem müssten alle Vorfälle erfasst werden, damit man in den Schulministerien den Handlungsbedarf erkenne, sagte er im Dlf.

Udo Beckmann im Gespräch mit Matthis Jungblut | 24.09.2020
Eine Schülerin zeigt während des Unterrichts einer Mitschülerin ihr Klappmesser
Gewalt gegen Lehrer ist kein Tabuthema mehr, sagt Udo Beckmann vom Verband Bildung und Erziehung - es sei ein Erfolg, dass man nicht mehr nur von "Einzelfällen" spreche (dpa / Oliver Berg)
Die körperlichen und verbalen Angriffe gegen Lehrkräfte haben in Deutschland laut einer Umfrage zugenommen. Das gab der Verband Bildung und Erziehung bekannt, der das Forsa-Institut mit der Untersuchung beauftragt hatte. Demnach gaben 41 Prozent der befragten Schulleitungen an, dass es in ihren Einrichtungen in den vergangenen fünf Jahren zu körperlicher Gewalt gegen Lehrerinnen und Lehrer kam.
Bei der letzten Umfrage im Jahr 2018 waren es nur 35 Prozent. 61 Prozent berichteten zudem von Fällen psychischer Gewalt gegen Lehrkräfte, das sind neun Prozentpunkte mehr als vor zwei Jahren. Aufgeführt wurden unter anderem Mobbing, Drohungen und Beschimpfungen – häufig auch über das Internet.
Udo Beckmann, Vorsitzender der Lehrergewerkschaft VBE fordert im Dlf, dass Lehrkräfte einen Anspruch darauf haben, vom Dienstherrn juristisch und psychologisch begleitet zu werden.
Schüler im Klassenzimmer bewerfen die Lehrerin mit Papierbällen, Mobbing gegen Lehrer
Umfrage des Lehrerverbandes VBE: Gewalt gegen Lehrer kein Einzelfall
Etwa ein Viertel aller Lehrer erlebt Gewalt gegen sich an der Schule, oftmals vonseiten der Schüler. Das ist das Ergebnis einer Umfrage des Lehrerverbandes VBE unter 1.200 Schulleitern – er fordert mehr Unterstützung von der Politik.
Matthis Jungblut: Herr Beckmann, wie erklären Sie sich, dass die Gewalt gegen Lehrer offenbar so stark ansteigt?
Udo Beckmann: Wir wissen ja, dass Schule ein Spiegelbild der Gesellschaft ist. Wir stellen in der Gesellschaft insgesamt eine Verrohung fest. Wir wissen auf der anderen Seite, dass die Schulen ihren Erziehungsauftrag nicht erfüllen können, weil es nicht nur an Lehrkräften mangelt, sondern weil wir auch die mangelnde Unterstützung haben durch Schulpsychologen, durch Schulsozialarbeit, was dringend erforderlich ist. Wir haben wir viele Defizite im Schulbereich, die mit dazu beitragen.
Jungblut: Was genau berichten Ihnen denn die Lehrer, wie spielt sich Gewalt im Klassenzimmer ab?
Zunahme von körperlichen Angriffen an Grundschulen
Beckmann: Das ist sehr unterschiedlich. Es gibt direkte psychische Gewalt, also beschimpfen, bedrohen, beleidigen, belästigen oder das, was auch sehr stark ist, dass diese Arten der Gewalt zunehmend auch im Internet stattfinden, und natürlich auch der körperliche Angriff. Das heißt boxen, treten, schlagen, an den Haaren ziehen et cetera, also die gesamte Palette.
Jungblut: Welche Unterschiede gibt es da zwischen den Schulformen?
Beckmann: Wir stellen fest, dass insbesondere das Thema Cybermobbing eine Gewaltform ist, die wir vor allen Dingen an den weiterführenden Schulen feststellen, also nach der Grundschule. Wir stellen aber auf der anderen Seite fest, dass im Bereich der Grundschule wir eine Zunahme haben von körperlichen Angriffen. Hier haben wir 2018 festgestellt, dass das 26 Prozent der Schulleitungen zurückgemeldet haben, in diesem Jahr sind es 34 Prozent.
Zwei Schüler prügeln sich am auf dem Schulhof eines Gymnasiums 
Jugendforscher: "Ein Rückgang von Schulgewalt seit den 90er-Jahren"
Nimmt die Gewalt an Schulen zu? Nein, meint Thomas Fischer vom Deutschen Jugendinstitut in München. Insgesamt habe die Schulgewalt seit den 90er-Jahren abgenommen, sagte er im Dlf. Gleichzeitig sei aber die Sensibilisierung für das Thema gestiegen.
Jungblut: Ja, wenn wir da dabei bleiben, das war für mich auch auffällig, dass die Schulform, bei der es am häufigsten zu direkter physischer Gewalt kommt, die Grundschule ist. Wie erklären Sie sich das?
Beckmann: Das hat sicherlich damit etwas zu tun, dass gerade kleine Kinder sich oft nicht anders zu äußern wissen, wenn ihnen was nicht passt, als mit dieser Art sich nach außen zu äußern oder sich gegenüber der Lehrkraft zu äußern. Deswegen ist es ja gerade so wichtig, dass wenn Schule einen Erziehungsauftrag erfüllen soll, dass die Lehrkräfte mit diesen verschiedenen Problemen, die hier auf sie zukommen bei der Unterstützung der Schülerinnen und Schüler, nicht allein gelassen werden, sondern dass sie eben gerade die Unterstützung durch andere Professionen haben, wie ich es gerade genannt habe: Schulsozialarbeit, Schulpsychologie und so weiter.
"Wir brauchen ein vereinfachtes Meldeverfahren"
Jungblut: Ist das das Einzige, was Sie sich zum Schutz der Lehrerinnen und Lehrer wünschen würden, oder würden Sie sich dann noch mehr Engagement auch der Landesregierung wünschen?
Beckmann: Na ja, das, was ich mir wünsche, ist vor allen Dingen, dass die Politik in der Gesellschaft nicht überhöhte Erwartungen an Schule schürt und sie aber gleichzeitig bei der Ausstattung im Regen stehen lässt. Der zweite Punkt ist, dass wenn es Angriffe gegen Lehrkräfte gibt, dass Lehrkräfte einen Anspruch darauf haben, vom Dienstherrn juristisch und psychologisch begleitet zu werden. Der dritte Punkt ist, wir brauchen ein vereinfachtes Meldeverfahren und einen Anspruch der Lehrkraft, dass diese Vorfälle erfasst werden, damit wir bei den Landesregierungen, in den Schulministerien endlich zu konkreten Fragen kommen.
Wir haben ja nicht erhoben, wie viele Vorfälle gibt es an der einzelnen Schule, sondern wir haben ja befragt, ob es solche Vorfälle gibt. Ich finde, die genaue Erhebung der Zahl an Vorfällen ist Aufgabe der Politik, weil es sie dann auch dazu zwingt, darauf entsprechend zu reagieren.
Jungblut: Darauf wollte ich auch zu sprechen kommen. Es ist jetzt die zweite Umfrage, die Sie veröffentlichen zum Thema, offizielle Statistiken gibt es aber nicht. Warum denn nicht?
Beckmann: Na ja, wir haben 2016 die allererste Umfrage durchgeführt, und damals haben wir unisono aus den Ministerien die Antwort erhalten, dies sei kein Thema, das seien allenfalls Einzelfälle. Das haben wir damals widerlegt, und seitdem wir mit diesen Zahlen an die Öffentlichkeit gegangen sind, hat sich natürlich schon etwas bewegt. Wir merken das auch daran, dass immer mehr Lehrer sagen, dass es kein Tabuthema mehr ist – und das ist auch Erfolg dieser Arbeit –, und dass man sich auch in den Landesparlamenten mit den Zahlen auseinandergesetzt hat und die administrative Politik aufgefordert hat, hier etwas zu tun.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.