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Lehrerin für den Frieden

Ihre drei Geschwister verlor die Autorin und Pädagogin Inge Aicher-Scholl im Zweiten Weltkrieg. Diese Erfahrung sollte sie ihr Leben lang prägen. Mit ihrem Bericht über die "Weiße Rose" von 1952, der zu einem klassischen Werk zur Geschichte des Dritten Reiches wurde, begann die Verarbeitung dieser Erlebnisse. Am 11. August 1917 wurde Inge Aicher-Scholl in Schwaben geboren.

Von Monika Köpcke | 11.08.2007
    "Wir kamen von der Beerdigung meiner Geschwister Hans und Sophie nach Hause, nach Ulm, und wir saßen dann am nächsten Morgen beim Frühstück, ich kann nicht anders sagen, in einer tiefen Weltverlassenheit."

    Inge Scholl ist 25 Jahre alt, als ihr Bruder Hans und ihre Schwester Sophie am 22. Februar 1943 unter dem Fallbeil sterben. Als Mitglieder der studentischen Widerstandsgruppe "Die weiße Rose" hatten sie im Lichthof der Münchener Universität Flugblätter gegen das Naziregime verteilt. Bis zu ihrer Verhaftung weiß die Familie nichts von dem Engagement der beiden. Dass sie ihre jüngeren Geschwister nicht hat schützen können, verfolgt Inge Scholl ihr Leben lang:

    "Schon als Kind hatte ich wahnsinnig viel Angst und bin immer abends, wenn alle meine Geschwister schon im Bett lagen, - bin ich immer noch mal ans Fenster gerannt und habe geguckt, ob es nicht draußen brennt. Das war die Angst um die anderen. Ich glaube, diese Angst habe ich heute noch."

    Bis zur Verhaftung der Mitglieder der "Weißen Rose" arbeitet Inge Scholl im Ulmer Steuerberater-Büro ihres Vaters als Sekretärin. Die Familie lebt in unverhohlener Abneigung gegen den Nationalsozialismus. Kraft gibt der enge Zusammenhalt der Familienmitglieder, geistiges Fundament ist der christliche Glaube:

    "In dieser Zeit hat das Christentum eine so enorme Rolle gespielt. Da hat nicht mehr die Humanität und Gerechtigkeit ausgereicht, um durchzuhalten. Da brauchte man einen ganz starken Glauben, das haben wir gebraucht."

    Nur wenige Tage nach der Beerdigung werden Inge Scholl, ihre Eltern und ihre Schwester in Sippenhaft genommen. Fünf Monate verbringen sie im Gefängnis. Danach warten die Scholls in einem kleinen Dorf im Schwarzwald das Kriegsende ab. Erst dann kehren sie zurück in ihre Heimatstadt Ulm. Inge Scholl glaubt fest an die Chance einer "Stunde Null". 1946 wird sie den amerikanischen Besatzern als Leiterin der neugegründeten Ulmer Volkshochschule empfohlen. In diesem Amt, das sie 28 Jahre lang innehaben wird, kann sie den Menschen das vermitteln, was für sie der Schlüssel für einen gelungenen Neuanfang ist: Bildung.

    "Der Anfang der Ulmer Volkshochschule war der Entschluss, aufzuklären über das Dritte Reich. Damit man wusste, was geschehen war, damit man wusste, was man jetzt mit dieser ungeheuren Freiheit zu tun hatte."

    An der Volkshochschule geht es um mehr als um Häkel- oder Baumschnittkurse. Inge Scholl veranstaltet Gesprächskreise zu Themen wie Todesstrafe, Währungsreform, Generationenkonflikt oder Stadtplanung. Bei einer dieser Veranstaltungen lernt Inge Scholl ihren späteren Ehemann, den Grafiker Otl Aicher, kennen. Gemeinsam entwickeln sie die Überzeugung, dass die Erziehung zu einem umfassend gebildeten und selbstbestimmten Menschen auch nach neuen Formen verlangt. 1962 schreibt Inge Aicher-Scholl:

    "Aus der Zusammenarbeit zwischen Kaufmann und Künstler wucherte in der Nachkriegszeit die Gebrauchskunst der abstrakten Tapeten, der organischen Bestecke und Vasen, der bunt angestrichenen Häuser und Eisdielen, die ganze Fülle von modernem Kitsch, der bis in die Bauernküchen gedrungen ist und vor dem es kaum noch ein Entrinnen gab."

    Initiiert vom Ehepaar Aicher-Scholl wird 1955 in Ulm die "Hochschule für Gestaltung" eröffnet, die als Wiege für ein funktionales Design zu einer Nachfolgeinstitution des Bauhaus wird. So legendär der Ruf der Schule auch ist, nach nur 12 Jahren wird sie geschlossen. Die Schulleitung ist in heillose Richtungskämpfe zerstritten und dem baden-württembergischen Landtag ist das Ganze zu basisdemokratisch organisiert. Inge Aicher-Scholl zieht sich mit ihrem Mann und den fünf Kindern mehr und mehr nach Rotis im Allgäu zurück. Doch beschaulich wird das Leben auch hier nicht: Inge Aicher-Scholl wird in den 80er Jahren zu einer der herausragenden Gestalten der bundesrepublikanischen Friedensbewegung, und bis zu ihrem Tod am 4. September 1998 widmet sie sich unermüdlich dem Vermächtnis der Geschwister Scholl.

    "In einem der Flugblätter steht: Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den ihr um Euer Herz gelegt. Entscheidet Euch, ehe es zu spät ist."