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Leicht, inspirierend und erheiternd

Katja Rothe zeigt, wie das frühe Radio den Boden bereitete, auf dem sich nur 70 Jahre später der rasante Siegeszug des Internets vollziehen wird. Eine intelligente Hommage an das europäische Radio.

Von Matthias Eckoldt | 23.07.2010
    Ende Oktober 1938 schockiert das Hörspiel "Krieg der Welten" nach Orson Wells die amerikanische Öffentlichkeit. Die fiktive Liveübertragung von der Landung der Außerirdischen auf der Erde versetzt die Bevölkerung im Raum New York in Hysterie. Es kommt zu spontanen Menschenansammlungen. Die Notruf-Leitungen glühen. Aufgebrachte Bürger informieren Polizei und Feuerwehr über die Invasion der kriegerisch gestimmten Marsianer und bitten um Hilfe.

    So wurde "Krieg der Welten" zum wirkmächtigsten Hörspiel aller Zeiten. Vor diesem Hintergrund erstaunt die Tatsache, dass zu jenem Zeitpunkt, als "Krieg der Welten" für derartige Furore sorgte, das europäische Radio bereits auf jahrelange Erfahrungen mit Katastrophenhörspielen zurückblicken kann. Katja Rothe, Medienwissenschaftlerin von der Universität Wien, hat mit ihrem Buch "Katastrophen hören" jene frühe europäische Radiogeschichte in den Blick genommen:

    "Ich war sehr überrascht, als ich angefangen habe, mich mit dem frühen Radio zu beschäftigen, dass es gerade in Europa – also in Frankreich, England und Deutschland – mit den Katastrophen anfing. Dass es vor allem in allen Ländern so anfing. Ich war deswegen überrascht, weil eigentlich eine ganz andere Geschichte geschrieben wird vom deutschen Radio. Entweder hin zum Propagandainstrument oder als avantgardistisches Radio. Und das Katastrophenhörspiel ist ja noch einmal mehr experimentell auf ganz vielen Ebenen. Also dass es auch den Hörer selbst als zerstreute Hörerschaft erst einmal austestet und dass es eigentlich auch an sein Vorgängermedium anknüpft – und zwar den Funk."

    So theoretisch dieser Ansatz klingt und so wissenschaftlich der Anspruch des Buches auch ist, Katja Rothes Studie zum experimentierfreudigen europäischen Radio der ersten Stunden liest sich leicht, wirkt inspirierend und stellenweise sogar erheiternd. Beispielsweise wenn sie das erste deutschsprachige Hörspiel "Zauberei auf dem Sender" beschreibt, das von dem Rundfunkpionier und späteren Intendanten der Berliner Funkstunde, Hans Flesch, in Szene gesetzt wurde:

    "Tatsächlich wird der Sender verrückt. Alles geht durcheinander. Der Sender hat sich selbständig gemacht. Sirenen schreien, Pauken schlagen, und irgendetwas kratzt ganz unheimlich. In das Vertraute bricht das Unvertraute ein, kommentiert durch eine unheimlich klingende, aber starke Stimme, die von Anarchie, Chaos und Wahnsinn kündet und von keinem Sendeleiter mehr beherrschbar scheint. Das Radio selbst hat die Macht übernommen, es inszeniert sich als Ensemble technischer Dinge, die sich selbst steuern."

    Das im Oktober 1924, anlässlich des einjährigen Bestehens des deutschen Rundfunks gesendete Hörspiel, beginnt in der Analyse von Katja Rothe zu schillern. Hinter dem Klamauk, hinter diesem Treppenwitz der Radiogeschichte, als das man Fleschs "Zauberei" abtun könnte, arbeitet die Autorin wesentliche Strategien des frühen Radios heraus. Durch die Verbreitung des Radios wird ein geschlossener Medienraum konstruiert. Die Besonderheit der mit dem neuen Medium verbundenen Kommunikationssituation kann man als Einwegkommunikation beschreiben. Der kleine Mann im Radio, von dem bald nach Aufkommen des neuen Mediums in metaphorischer und ironischer Weise die Rede sein wird, spricht zwar laufend zu seinen Hörern, aber er antwortet ihnen nicht.

    Das frühe Hörspiel nun – und da bezieht sich Katja Rothe auch auf die Erstlingswerke des französischen und englischen Radios – arbeitet mit der Methode der Unterbrechung des geschlossenen Medienraums. Sprach- oder Musiksendungen werden plötzlich unterbrochen. Und zwar nicht von der Nachricht von einer Katastrophe, sondern von dieser selbst – beziehungsweise ihrer Inszenierung. Ob es wie im französischen Hörspiel "Marémoto" die Schreie der Opfer einer Schiffskatastrophe sind, im englischen "Danger" ein Grubenunglück ist oder schließlich im deutschen Hörspiel das Radio selbst die Katastrophe inszeniert – immer wird gesendet, als ob der Sendefluss unterbrochen werden würde.

    Insofern folgert Katja Rothe in ihren Analysen, dass für das europäische Hörspiel der scheinbare Abbruch der Übertragung ein zentraler Gegenstand ist. Katastrophenszenarien eignen sich für die inszenierte Unterbrechung des Sendeflusses besonders gut, weil sie auch in der Realität plötzlich in den normalen Ablauf hereinbrechen. Im Gang der Untersuchung von "Katastrophen hören" werden sie als Test-Arenen begriffen, in denen die Hörer mit neuen Wahrnehmungsweisen konfrontiert werden.

    In der Anfangsphase des Radios – und das kann man als die zentrale Aussage des Buches lesen – wird der moderne Mediennutzer erzeugt und geformt, und zwar durch die besondere Art, in der die Katastrophenhörspiele mit den Differenzen von fiktiv und real, von Echtzeit und Spielzeit sowie von Hörraum und Kunstraum spielen. Insofern bereitet das frühe Radio bereits den Boden, auf dem sich nur siebzig Jahre später der rasante Siegeszug des Internets vollziehen wird.

    "Meine Entdeckung für mich in diesem Buch war eigentlich, dass diese Katastropheninszenierungen eigentlich experimentelle Situationen sind, die künstlich erzeugt werden in Medienräumen. Und diese Haltung des Experimentellen, die dem Hörer abverlangt wird, eigentlich nicht eine Ausnahmesituation bedeutet, sondern eine Normalsituation. Deswegen gehe ich in Bezug auf Medienräume wie das Radio - auch mit Hinblick natürlich auf das Internet - davon aus, dass in diesen Medienräumen eine experimentelle Haltung eine Haltung ist, die man einüben muss, um mit diesem Medium umzugehen."

    Das Buch "Katastrophen hören" von Katja Rothe ist als eine intelligente Hommage an das Radio zu lesen, und es ist all jenen zu empfehlen, die die Formung der menschlichen Wahrnehmung durch Medien anhand einer ebenso plastischen wie eingängigen Analyse genauer verstehen wollen.


    Katja Rothe: "Katastrophen hören – Experimente im frühen Radio"
    Kulturverlag Kadmos,
    254 Seiten, 19,90 Euro