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Leichtathletik
Human Rights Watch kritisiert Testosteronregel scharf

Sollten Läuferinnen mit zu hohen Testosteronwerten die Mittelstrecken laufen dürfen? Die Testosteronregel des Leichtathletik-Weltverbandes sieht eine Medikation vor. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hat einen 128-seitigen Bericht erarbeitet und bringt damit den Verband in Bedrängnis.

Von Josef Opfermann | 04.12.2020
30. Juni 2019: Läuferin Caster Semenya startet bei einem Diamond League Athletics Prefontaine Classic an der Stanford University in Kalifornien.
Läuferin Caster Semenya bei einem Wettbewerb im Juni 2019 in an der Stanford Universität in Kalifornien (imago images / ZUMA Press)
"Sie vertreiben uns aus dem Sport" – auf diesen prägnanten Satz einer betroffenen Athletin hat Human Rights Watch seinen Report heruntergebrochen. Die Menschrechtsorganisation erhebt auf 128 Seiten Vorwürfe gegen die Testosteronregel des Leichtathletik-Weltverbandes World Athletics und greift damit einen der größten Sportverbände weltweit an. Die Regeln führten demnach zu:
"Risikoreichen, medizinisch unnötigen Eingriffen", "kompromittierter ärztlicher Ethik", "Nötigung", "Diskriminierung", "Schikanierung und Ächtung von Athletinnen", "öffentlicher Demütigung" und es heißt: "Sie ruinieren leben."
Auch das IOC in der Pflicht
18 Monate lange recherchierte Human Rights Watch, interviewte dabei gut ein Dutzend Athletinnen. Normalerweise geht die Menschenrechtsorganisation gegen Staaten vor. Heute stellt sie ihren Bericht vor, der sich ausnahmslos mit der Lage der Leichtathletinnen befasst. Kyle Knight von Human Rights Watch sagt:
"Ziel dieses Berichts ist, die Geschichten der unzähligen Frauen zu erzählen, die unter diesen Regelungen leiden. Und: World Athletics aufzufordern, die Regelungen sofort aufzuheben."
Und nicht nur World Athletics nimmt der Bericht in die Pflicht, sondern auch das IOC:
"Wichtigstes und dringendstes Ziel ist, das Internationale Olympische Komitee aufzufordern, öffentlich unmissverständlich zu sagen, dass Regelungen wie diese keinen Platz im modernen Sport haben."
Erhöhter Testosteronwert bei Läuferinnen - "Vorschriften sind nicht das einzige Mittel der Wahl"
Die Soziologin und ehemalige Leichtathletin Madeleine Pape kritisiert, dass Athletinnen mit erhöhtem Testosteronwert unter den Regeln der Entscheidungsgremien kaum Chancen auf Gerechtigkeit hätten. Sie plädiert dafür, nicht nur wissenschaftliche Erkenntnisse in Betracht zu ziehen, sondern auch andere Wege zu gehen, um Geschlechterinklusion zu erreichen.
Läuferinnen mit zu hohen Testosteronwerten, wie die südafrikanische Topläuferin Caster Semenya, dürfen in der Leichtathletik derzeit über die Mittelstreckendistanzen nicht antreten. Umstrittene Studien attestieren ihnen einen Wettbewerbsvorteil. Das Internationale Olympische Komitee hat am vergangenen Mittwoch unabhängige Empfehlungen zu seiner Menschenrechtsstrategie veröffentlicht.
Versteckte Kritik an der Regel
Seine Position zur Testosteronregel überprüfe es. Der Tenor: es gäbe Versäumnisse und akuten Handlungsbedarf. Interessant ist, der IOC-Bericht stammt bereits aus dem März dieses Jahres und galt bisher als vertraulich. Versteckte Kritik am Leichtathletik-Weltverband findet sich darüber hinaus auch in Betroffenenporträts auf dem Olympic Channel des IOC. Zum Beispiel von der Olympia-Zweiten Francine Niyonsaba aus Burundi:
"Für mich geht es um Diskriminierung. Daher macht es keinen Sinn {…} Ich bin von Gott geschaffen, wenn also jemand mehr Fragen dazu hat, kann er vielleicht Gott fragen."
Der Leichtathletik-Weltverband muss jetzt auf die neuen Veröffentlichungen reagieren. Nach zahlreichen rechtlichen Instanzen wird sich voraussichtlich als nächstes der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit den Vorschriften befassen. Die Südafrikanische Starläuferin Caster Semenya hat vor Kurzem angekündigt, dort Klage einzureichen.