Aber was erzählt die "Liebeserklärung" nun eigentlich? Den Torso einer Geschichte: Der Ich-Erzähler hat sich einer neuen Liebe wegen von seiner Frau getrennt, aber auch diese neue Liebe scheitert. Auf vielen Bahnfahrten kreuz und quer durch Deutschland, und immer über Mannheim, denn "Alle Wege führen über Mannheim", versucht dieser deutsche Mann in gehetzten, atemlosen Reflexionsschüben sich und seinen Lesern die Liebe bzw. ihre Unmöglichkeit und ihr Scheitern zu erklären; versucht also zu erklären, was sich nicht erklären läßt.
Der Begriff Geschichte ist für mich offener als der Sprachgebrauch es sozusagen zulässt. Man kann einen Anfang und ein Ende simulieren, was sich zwischen dem Anfang A und dem Ende B abspielt, hat eine gewisse Prozesshaftigkeit. Mich hat nicht interessiert, im Sinn eines herkömmlichen Plots die Begegnung von 2 oder 3 Menschen zu erzählen, sondern mich hat interessiert, eine Prozesshaftigkeit zu erzielen, zu entwickeln und auch in der Schwebe zu halten. Ich habe versucht, hart am Wind zu segeln. Gewisse Seelenlandschaften, Weiden oder Parkplätze habe ich versucht auszusparen, was mich übrigens auch immer an Liebesfilmen nervt, oder an Krimis: Plötzlich lernt die Täterin den Kommissar kennen, man entwickelt Sympathie füreinander, das ist okay, aber wenn dann darauf geparkt wird, das nervt mich kolossal, es soll weitergehen mit einer schönen Verfolgungsjagd.
Und so ist denn auch der Ich-Erzähler stets auf der Flucht, von A nach B und von B nach C, immer mit der Bahn, vor allem aber wohl auch vor sich selbst und vor der eigenen Sehnsucht. "Er liebte sie nicht, er sehnte sich bloß nach ihr", heißt es selbstquälerisch beim "alten Dänen", bei Kierkegaard. Ein Leitmotiv bei Lentz, aber lassen die Phänomene sich wirklich scharf trennen? "Erklären"?
Was mich interessiert hat, ist nicht die Zaunpfahlabgrenzung Sehnsucht/Liebe usw., das kann man wirklich bleiben lassen, sondern die alte Frage nach Substanz und Akzidenz, was sind Nebensächlichkeiten, was Hauptsachen, die für mich so zu lösen war, dass eine völlige Ununterscheidbarkeit da ist. Der Blick in eine Landschaft ist so romantizistisch geradezu affiziert, wie beispielsweise der explizite Hinweis auf einen Geschlechtsakt.
Bei Kierkegaard können wir lesen: "Soll man das Dasein nehmen wie es ist, wäre es da nicht am besten, man bekäme zu wissen, wie es ist?" Da gerinnt die ganze Existenznot zu einer enigmatischen Formel. Man weiß nicht zu leben, weil man die Gesetze nicht kennt, die dem Leben zugrunde liegen. Und das gleiche, verschärft, gilt für die Liebe.
Das ist ein existentialistischer Einschlag bei ihm gepaart mit einem Schuß Kafka. Vorwegnehmender Kafka. Letztlich ist es die Frage nach der naiven oder sentimentalischen Einstellung fast wie bei Schiller. So wirkt das ja bei Kirekegaard. Aber wenn man erst mal infiziert ist, hat man vielleicht Pech gehabt! Man könnte auch sagen, das ist ein bisschen so der Wunsch nach einem naiven Leben, das ganz unbescholten von diesen Reflexionen ist. Ich-Utopia.
"Erklär mir Liebe" heißt ein berühmter Text der Bachmann, den der Bachmann-Preisträger Lentz im Titel seines Buchs anklingen lässt. Dieser Appell scheitert in jedem Sinn. Und es ist sogar so: "Liebeserklärung" handelt weniger von der Liebe selbst als vom Reden über sie, und von der destruktiven Kraft des permanenten so genannten Beziehungsgesprächs.
Manche Gespräche scheinen nur dazu da zu sein, am Ende zu sagen platterdings: Es war ja nicht so gemeint, bzw. um herauszufinden, dass es so nicht funktionieren kann. Man kennt das ja lebenstechnisch: Wie viele Stunden und Tage müllartig dazu verwendet werden, um die Verständigung darüber zu erzielen, dass so, wie es gemacht wurde, eine Verständigung nicht zu erzielen ist... (Lachen) Super. Das ist ja auch ein Theaterthema. Wenn bestimmte Argumentationsstrategien zu Ende geführt sind, dann kommt oft nur: Übrigens kannst du das auch da und da lesen. Dh. die Diskursmacht von ganz bestimmten themenfokussierten Publikationsorganen ist viel größer als gemeinhin angenommen. Manchmal kann einfach gefragt werden: Wo lässt du oder wo lassen Sie denken. Also, es gibt eine Gesprächskultur, aber auch eine Gesprächsunkultur. Und ich habe den leisen Verdacht, dass das Kaputtreden oft einen größeren Schaden anrichtet als nur Blech. Blechschaden.
Apropos, warum spielt eigentlich in diesem Roman die Bahn eine so zentrale Rolle?
Sie ist erstens ein tierisches Ärgernis. Was ihr inzwischen in einem Maß bewusst ist, dass ich mich nicht wundern würde, wenn die auch noch ihr eigenes Kabarettprogramm anbieten würde. Kurz nach der Wende sagten einige: Wir sind das Volk, jetzt müssten eigentlich alle sagen: Wir sind die Bahn. Die unfreiwillige Identifikation damit als Sinnbild Deutschland. Das grassiert richtig. Eine sprichwörtliche Deutschlanderfahrung, die in meinem Buch auch zutage tritt. Die Bahn ist erstens selbst schuld, zweitens willkommenes Opfer dieser Sinnbildstilisierung.
Noch einmal zum Thema Liebe: "Landläufig heißt das ja, die Schwächen des anderen akzeptieren. In diesem Satz scheint so gar keine Poesie zu sein. Als hätten wir das geahnt, haben wir die Schwächen des anderen halt nicht akzeptiert, nicht wahr..." Ein schönes Beispiel für den Lentzschen Sarkasmus. Dann aber heißt es auch selbstkritisch: "Das hohe Roß der Poesie, ist es nicht an der Zeit, das Ding zu schlachten?" Wie ist es also mit diesem hohen Roß? Sitzt er darauf, der Herr Lentz?
Klar. Man muss sich ja an irgendwas festhalten. Das Wort Poesie mag ich übrigens gerne. Ich interessiere mich ja auch mehr für russische Literatur, die den Begriff hochhält, als z.B. für amerikanische. (Pause.) Ja, das hohe Roß der Poesie, was ist das? Pegasus. Ist ja bekannt, wie das ausgeht. Da hält man nicht lange Balance drauf.