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Leinwandträume

André Bazin war lange Zeit nur in Insiderkreisen bekannt. Dabei ist er der Begründer der legendären Cahiers du Cinéma und bis heute einer der bedeutendsten Filmkritiker. François Truffaut schrieb einmal in einer wunderbaren Hommage an den Freund, die berühmtesten Regisseuren hätten ihn automatisch als einen der ihren betrachtet. Truffaut dachte dabei an Rossellini, Cocteau, Fellini und Orson Welles. Was er nicht erwähnte: In den Cahiers du Cinéma, die Bazin 1951 gründete, schrieben Autoren, die wenig später zu Stars der Nouvelle Vague avancierten: Jean-Luc Godard, Eric Rohmer, Jacques Rivette – und nicht zu vergessen: François Truffaut. Bereits 1943 schrieb der 25-jährige André Bazin:

von Klaus Englert | 31.03.2004
    Man wird im Großteil der Filmbesprechungen vergeblich nach einer Meinung zum Dekor oder zur Qualität der Kameraarbeit suchen oder zu einem Urteil über den Gebrauch des Tons, nach Erläuterungen zum Schnitt, kurz: zu dem, was den Stoff ausmacht, aus dem das Kino ist (...). Es ist höchste Zeit, eine Filmkritik zu erfinden, die in die Tiefe geht.

    1958 arbeitete Bazin, der mittlerweile als Filmkritiker international anerkannt war, an einem Buch mit dem Titel Qu’est-ce que le cinéma? Es sollte eine Auswahl seiner bedeutenden Filmanalysen enthalten. Als das Buch im selben Jahr erschien, war sein Autor bereits tot – er starb mit gerade vierzig Jahren. Als Truffaut anläßlich seines 25-jährigen Todesjahres die erwähnte Würdigung schrieb, schloß er mit den Worten: "Bazin fehlt uns". Heute, weitere 20 Jahre später macht sich dieses Fehlen noch immer bemerkbar, denn die Filmkritik ist zumeist über ein mittelmäßiges Niveau nicht hinausgelangt. Aber es gibt auch Erfreuliches zu vermelden: Endlich, endlich gibt es André Bazins Werk, das bislang nur in Auszügen übersetzt wurde, komplett auf deutsch. Robert Fischer hat Was ist Kino? im Alexander-Verlag herausgebracht.

    Bazin schrieb über internationale Filme, die es in französischen Kinos schwer hatten. Und zwar zu einer Zeit, als Hollywood mit den immergleichen Historien-Epen, Western und Musicals den Publikumsgeschmack bestimmte. Bazin schrieb als erster über die revolutionäre Montagetechnik in Orson Welles‘ Citizen Kane. Dabei erklärte er, daß Welles – der antiamerikanische Regisseur schlechthin - 1939 nicht nur einen guten Film machen wollte. Nein, er wollte einen Film als Summe aus vierzig Jahren Kino drehen, einen Film, der alles bisher Dagewesene auf den Kopf stellen, der zugleich Bilanz und Programm, Kriegserklärung an das erstarrte und Liebeserklärung an das lebendige Kino sein sollte. Aber Bazin begeisterte sich auch für die Filme seines Landsmannes Robert Bresson. In Das Tagebuch eines Landpfarrers entdeckt er, wie konsequent Bresson seine Texttreue gegenüber der Romanvorlage von Bernanos umgesetzt hat. Was am Ende bleibt, ist der gesprochene Text, ohne Bilder. Und in einer wunderbaren Stelle vergleicht Bazin die leere Leinwand mit den weißen Seiten Mallarmés und dem Schweigen Rimbauds.

    Doch die eigentliche Entdeckung André Bazins ist der italienische Neorealismus. In diesen Filmen, die kurz nach der Zerschlagung des Faschismus entstanden, entdeckte Bazin eine unvergleichliche Wahrhaftigkeit. Vor allem in den Filmen Roberto Rossellinis. Wie kein anderer hatte er in Deutschland im Jahre Null verstörende Bilder von der kriegstraumisierten deutschen Bevölkerung eingefangen. Auch Rom, offene Stadt – ein im September 1945 uraufgeführter Film – hat bis heute nichts von der Kraft seiner Bilder verloren. Mit Anna Magnani litten damals alle Italiener, die unter dem Joch der deutschen Okkupanten lebten. Entsetzt muß sie mit ansehen, wie ihr Geliebter verhaftet und in einen Gefangenentransport gepfercht wird. In todesverachtender Verzweiflung rennt sie hinter ihm her.

    Diese zügellose Passion Anna Magnanis ist für Bazin – und später sogar für Martin Scorcese – reinster Neorealismus. Rom, offene Stadt ist das genaue Gegenteil zu den glatten, technisch perfekten Bildern aus Cinecittà. Rossellini stattdessen drehte unter amateurhaften Bedingungen auf den Straßen und in Originalinterieurs. Wegen der Nachkriegsmisere konnte er nur Laien einstellen, und selbst die Schauspielerin Anna Magnani war damals nur als kleine Varieté-Darstellerin bekannt. Rossellini investierte alles in den Film, was er hatte: Für das Filmmaterial veräußerte er seine Wohnung, und für die Entwicklung und Vertonung des Films mußte er seine drei Chiricos an eine Gräfin verkaufen. Der Regisseur Alberto Lattuada entdeckte in diesen Nachkriegsfilmen "ein armes, aber zugleich ein starkes Kino (...), ein Kino voll wirklichen Glaubens an die Sprache des Films." Am Schluß von Was ist Kino? verteidigt André Bazin Rossellini gegen seine Kritiker:

    Die Kunst Rossellinis besteht darin, den Dingen zugleich ihre dichteste und eleganteste Struktur zu verleihen; nicht die anmutigste, sondern die schärfste und direkteste. (...) Rossellini wollte das Wirkliche von allem Nicht-Wesentlichen entkleiden, er wollte zum Ganzen in seiner einfachen Gestalt gelangen.

    Zu diesem Einfachen vorzudringen, ist aber das Schwerste. Ein wunderbares Beispiel dafür ist Ingrid Bergmans Welt- und Glaubensverlust am Ende von Stromboli. Sie entflieht der dörflichen Enge, erklimmt den Vulkan und spürt plötzlich das Bedrohliche einer menschenfeindlichen Welt:

    Der Mensch angesichts der Naturgewalten und der gesellschaftlichen Mächte – dies ist das ureigenste Thema des Neorealismus. Es ist – wie es bei Bazin heißt – ein tiefer Humanismus, der die Gefühlsregungen der Menschen aus nächster Nähe einfängt. Orson Welles hatte einmal hochachtungsvoll über Vittorio de Sicas Frühwerk Die Schuhputzer gesagt:

    Ich habe es niemals geschafft, die Kamera einfach zum Verschwinden zu bringen, so wie es de Sica in "Die Schuhputzer" gelang.

    De Sica arbeitete in "Die Schuhputzer" und in seinem grandiosen Film "Die Fahrraddiebe" ausschließlich mit Amateuren. Gerade deswegen waren die Szenen von einer kraftvollen Natürlichkeit, die professionelle Schauspieler kaum erreicht hätten. Aus diesem Grunde gelang Bazin zu der Überzeugung, der Neorealismus, ja sogar das Kino selbst, sei die der Liebe angemessenste Kunst.

    Filme wie de Sicas Umberto D und Die Fahrraddiebe, die für Bazin zu den revolutionärsten Produktionen im europäischen Maßstab gehören, zeigen durch ihr gänzlich unverstelltes Pathos eine Bloßstellung der gesellschaftlichen Mißstände. Deswegen fühlte sich in den fünfziger Jahren der damalige Kulturminister Giulio Andreotti durch Umberto D herausgefordert – durch einen Film, der einzig und allein das Verhältnis eines arbeitslosen und lebensmüden Professors zu seinem treuen Hund schildert. Der ganze Neorealismus, schrieb der Minister in einem öffentlichen Brief, tauge nichts, da er seine schmutzige Wäsche in der Öffentlichkeit wasche. De Sica solle besser optimistischere Filme drehen! Dabei sind die neorealistischen Filme alles andere als pessimistisch: Sie spiegeln auch die Hoffnungen der Menschen. Beispielsweise in Rossellinis Europa 1951, in dem Ingrid Bergman, nach Jahren des Kriegselends, vor dem Untersuchungsausschuß ihren Glauben bekennt:

    I want to share the sorrow of those who suffer, the pain of those who are stressed. I want to live together with the others and save myself with them. I won’t be lost, when I don’t stay alone. I only feel that I belong to them when I am free. When you are bound to nothing, you’re bound to everybody. I have nothing more to say.

    In diesem starken Bekenntnis Ingrid Bergmans liegt auch der Glauben ihres Ehemanns Roberto Rossellini und des italienischen Neorealismus. Bazin war davon überzeugt, daß die Kraft des neuen Kinos aus einer politischen, ökonomischen und sozialen Revolution nach dem Zusammenbruch des Faschismus herrührte. Deswegen traute er dem italienischen Kino einen "revolutionären Humanismus" zu. Einen Humanismus, der die Kamera zwischen Darsteller und Regisseur scheinbar zum Verschwinden bringt:

    Der große Erfolg de Sicas liegt darin, eine kinematographische Dialektik erreicht zu haben, die den Widerspruch zwischen spektakulärer Handlung und Ereignis überwindet. Deswegen gehört Fahrraddiebe zu den ersten Beispielen des reinen Kinos. Keine Schauspieler, keine Handlung, keine Inszenierung und schließlich, als vollkommene ästhetische Illusion der Wirklichkeit: kein Kino.

    André Bazin

    Was ist Kino?
    Alexander Verlag, . 400 S.