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Leipziger Streichquartett
Dvořák mit gekonnter Einfachheit

Das Leipziger Streichquartett überzeugt auf seiner neuen CD mit Kammermusik von Antonin Dvořák. Gemeinsam mit dem großen Kontrabassisten Alois Posch setzen die Musiker dem tschechischen Komponisten und seinem "Amerikanischen Quartett" gekonnt ein Denkmal.

Von Maja Ellmenreich | 18.05.2014
    Schwarz-weiß-Aufnahme (Portrait) von Antonin Dvořák mit Halbglatze und Vollbart.
    Der tschechische Komponist Antonin Dvorak (1841 - 1904) (dpa/picture alliance/CTK_Photo)
    Gute Ideen kommen beim Gehen! Forscher der Universität im kalifornischen Stanford haben das wissenschaftlich nachgewiesen; und Antonín Dvořák könnte bestätigen, dass die Gedanken folgen, wenn ein Fuß vor den anderen gesetzt wird: Als er nämlich im Sommer 1893 am Ufer des Turkey River in Iowa spazierte, da kamen ihm die Ideen, dass er kaum wusste, wohin damit. "Ich habe bereits so viel auf meiner Manschette notiert, dass sie ganz voll ist," soll Dvořák seinem Sohn Otokar zugerufen und ihn zum Aufbruch getrieben haben. Der Angelausflug wurde kurzerhand abgebrochen, damit Vater Dvořák seine Einfälle auf Notenpapier bannen konnte. Geniale Einfälle, die er in seinem "Amerikanischen Quartett" verewigt hat. Das Leipziger Streichquartett setzt ihnen auf seiner neuen CD ein weiteres Denkmal.
    Musik: Antonín Dvořák: Finale. Vivace ma non troppo, aus: Quartett F-Dur, op. 96 "Amerikanisches Quartett"
    Antonín Dvořák war erholungsbedürftig. So viel Bestätigung er durch seine Arbeit am New Yorker Konservatorium auch erfuhr - die überwältigenden Sinneseindrücke der nordamerikanischen Metropole hatten ihn erschöpft. Er war - begleitet von Ehefrau und zwei seiner Kinder - dem Ruf gefolgt, der amerikanischen Kunstmusik auf die Sprünge zu helfen und ihre Unabhängigkeit von der Übermacht der europäischen Musiktradition voranzutreiben - als Konservatoriumsdirektor und Kompositionsprofessor in New York. Die Ferien-Einladung der Gemeinde Spillville kam wie gerufen: Viele tschechische Auswanderer hatten sich dort im ländlichen Iowa niedergelassen und wollten ihrem prominenten Landsmann Dvořák und dessen Familie über den Sommer ein wenig Heimatgefühl geben. Selbst die in Prag gebliebenen Dvořák-Kinder hatten sich auf den Weg nach Amerika gemacht. Von der Ostküste aus legten sie alle gemeinsam mit der Eisenbahn innerhalb von 36 Stunden sage und schreibe 1.300 Meilen zurück. Die beschwerliche Reise aber lohnte sich: In der tschechischen Enklave Spillville und ihrer idyllischen Umgebung fand Antonín Dvořák Ruhe und Erholung. Der Naturliebhaber unternahm endlose Spaziergänge, etwa entlang des besagten Turkey River. Die Kreativität, die das auslöste, muss schier überbordend gewesen sein: Nur drei Tage brauchte es, bis die Skizzen zum "Amerikanischen Quartett" niedergeschrieben waren. "Gott sei's gedankt. Ich bin zufrieden. Es ist schnell gegangen", notierte Dvořák darunter. Schnell ging es auch mit der Ausarbeitung des Quartetts: Nach nur zwei Wochen Sommerfrische war die Komposition komplett, die sich wie ein persönliches Album liest beziehungsweise anhört. Im dritten Satz etwa erklingt Dvořáks akustische Erinnerung an den Ruf eines Vogels, den er am Turkey River vernommen hat. Naturwissenschaftler beteiligten sich an der Recherche nach dem Amerikanischen im "Amerikanischen Quartett": Ornithologen wollen den Urheber des Zwitscherns als Scharlachtangaren identifiziert haben.
    Musik: Antonín Dvořák: Molto vivace, aus: Quartett F-Dur, op. 96 "Amerikanisches Quartett"
    Viel ist gemutmaßt worden darüber, welche Einflüsse aus der "Neuen Welt" Antonín Dvořák in seinem 12. Streichquartett verarbeitet hat, zumal er sich intensiv mit der Musik des Kontinents beschäftigt und selbst seine Komposition "Amerikanisches Quartett" genannt hat. Reitet da im vierten Satz etwa jemand entlang der riesigen Mais- und Getreidefelder von Iowa? Oder tanzen an anderer Stelle womöglich Mitglieder des Kickapoo-Stammes zu ihren traditionellen Liedern und Rhythmen? Und erklingt da nicht auch noch ein Spiritual?
    Vielleicht ist es müßig, sich auf derartige Spurensuche zu begeben, um die Herkunft einzelner Melodie- und Rhythmusschnipsel zu klären. Dvořák hatte bereits vor seiner Zeit in den Vereinigten Staaten einfache und damit eingängige Themen sowie sogenannte pentatonische Skalen, also Fünftonleitern, verwendet. Der slawische Ton seiner Musik hatte ihn berühmt gemacht, auch über die Grenzen seiner tschechischen Heimat hinaus. Und ganz ähnliche, zum Teil sogar dieselben Elemente finden sich auch im "Amerikanischen Quartett". Was daran ist also Dvořákscher Personalstil, was ist slawische, was amerikanische Musik und was schlichtweg Volksmusik an sich? Für das Verständnis der viersätzigen Komposition ist ihre Entstehungsgeschichte womöglich hilfreicher als die Analyse.
    Musik: Antonín Dvořák: Lento, aus: Quartett F-Dur, op. 96 "Amerikanisches Quartett"
    "Als ich das Quartett 1893 in der tschechischen Siedlung Spillville schrieb, wollte ich einmal etwas sehr Melodiöses und Einfaches schreiben - ständig hatte ich Papa Haydn im Sinn, und deshalb ist es so einfach ausgefallen." Diese Erklärung schrieb Dvořák einem Kollegen, und mit äußerst gekonnter Einfachheit interpretiert auch das Leipziger Streichquartett dieses mit Abstand populärste Quartett von Antonín Dvořák. Während es mit anderen Ensembles bisweilen durchgeht und sie sich von dem der Musik innewohnenden Schwung mitreißen lassen, wissen die Leipziger sehr überlegt zu unterscheiden: Wann ist anspruchsvolle Virtuosität gefragt, wann eine gewisse musikantische Hemdsärmeligkeit erlaubt? Dvořáks Zweiklang aus Folklore und Kunstmusik ist beim Leipziger Streichquartett gut aufgehoben. Wem frühere Interpretationen des "Amerikanischen Quartetts" im Ohr sind, der ist womöglich erstaunt über Details und Feinheiten, die andere Quartettformationen im Überschwang 'verschlucken'. Dass das Leipziger Streichquartett in seiner inzwischen 26 Jahre währenden Geschichte alle erdenklichen Klassik-Preise und -Auszeichnungen erhalten hat, erfährt durch diese vor einem Jahr entstandene Einspielung nochmalige Bestätigung.
    Für das andere Werk auf der neuen CD hat das Quartett einen weiteren der ganz Großen hinzugebeten - ganz groß, in mehrfacher Hinsicht. Der Österreicher Alois Posch ist der begehrteste Kontrabassist in der Kammermusik. Als Professor lehrt er in Wien, spielte an der Wiener Staatsoper und bei den Wiener Philharmonikern, und er tritt mit dem Hagen Quartett ebenso auf wie mit den Capuçon-Brüdern, mit Gidon Kremer wie mit Martha Argerich. Sein feinfühliges Spiel veredelt vom ersten Ton an den Klang des Leipziger Streichquartetts in Antonín Dvořáks G-Dur-Quintett, op. 77.
    Musik: Antonín Dvořák: Allegro con fuoco, aus: Quintett G-Dur, op. 77
    Während das "Amerikanische Quartett" das Werk eines erfolgreichen Komponisten auf der Höhe seiner Schaffenskraft ist, handelt es sich bei Dvořáks G-Dur-Quintett um das Stück eines Spätzünders. Die Opuszahl 77 täuscht ein reifes Werk vor, doch die Nummer geht allein auf die verkaufsfördernden Absichten des Verlegers zurück. Denn eigentlich ist das Quintett 1875 entstanden, da war Antonín Dvořák erst in seinen Dreißigern und als Komponist bislang nur mäßig erfolgreich. Das Quintett sollte sich als Glücksfall entpuppen: "Technische Fähigkeit in der polyphonen Komposition, Meisterschaft in der Form und Kenntnis der Instrumente" - das bescheinigte die Jury eines Prager Kammermusikwettbewerbes dem Komponisten und händigte ihm einen entsprechenden Preis aus. Auch die ungewöhnliche Besetzung wäre eine Erwähnung wert gewesen, denn mit dem Kontrabass war Dvořák ein besonderer Coup gelungen: Der Klang erhält durch das zusätzliche Bassinstrument eine enorme Tiefe. Und gleichzeitig gewinnt das Ensemble ein weiteres Melodieinstrument hinzu, denn das Cello ist nun der Aufgabe entbunden, für das harmonische Fundament zu sorgen. Das übernimmt der Kontrabass, also darf sich das Cello mit den drei hohen Streichern ins Melodie-Getümmel stürzen.
    Musik: Antonín Dvořák: Finale. Allegro assai, aus: Quintett G-Dur, op. 77
    Antonin Dvořák (1841 - 1904): Kammermusik, Interpret: Das Leipziger Streichquartett, Label: Musikproduktion Dabringhaus und Grimm, LC: 06768, EAN: 760623184760, Bestellnummer: MDG 907 1847-6