Mittwoch, 24. April 2024

Archiv

Leiter der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen
"Wir brauchen einen Gesellschaftskonsens, der so etwas tabuisiert"

Eine Gästegruppe von AfD-Fraktionschefin Alice Weidel hat eine Führung in der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen mit revisionistischen Äußerungen massiv gestört. Ein eklatanter Vorfall, sagte Alex Drecoll, Leiter der Gedenkstätte, im Dlf. Mit Blick auf Rassismus und Antisemitismus hätten sich "Grenzen des Sagbaren" in den vergangenen Jahren verschoben.

Axel Drecoll im Gespräch mit Jasper Barenberg | 01.09.2018
    Axel Drecoll, Leiter der Gedenkstätte Sachsenhausen (25.1.2018).
    Axel Drecoll, Leiter der Gedenkstätte Sachsenhausen (dpa / picture alliance / Ralf Hirschenberger)
    Der Vorfall ereignete sich bereits Mitte Juli. Drecoll sagte, das Auftreten der Störer lasse auf Vorsatz schließen. So hätten sie sich in der revisionistischen Literatur zum Nationalsozialismus sehr gut ausgekannt. Dem Besuchsgruppenleiter habe man vorgehalten, "Systemhistoriker" zu sein. Laut Drecoll ist dies ein beliebtes Narrativ der Rechten. Für eine gezielte Aktion spreche auch, dass die Gruppe von Anfang an die Ereignisse in Sachsenhausen verharmlost und infragegestellt habe. Die Störer hätten während des Besuchs die Opferzahlen angezweifelt. Dies sei eine absolute Grenzüberschreitung an einem Ort des Massenmordes. Man sei hier der Würde der Opfer besonders verpflichtet, sagte Drecoll.
    Er habe gesamtgesellschaftlich den Eindruck, dass sich die Grenzen des Sagbaren in den vergangenen Jahren verschoben hätten, so Drecoll. "Die Bereitschaft, offen mit Rassismen oder geschichtsfälschenden oder Verbrechen verharmlosenden Äußerungen aufzutreten, ist größer geworden". Auch habe die schweigende Zustimmung dazu zugenommen. "Es gibt eine Salonfähigkeit". Er könne nur dringend appellieren, dass es einen Gesellschaftskonsens gebe, der so etwas tabuisiere, so Drecoll.
    Von Alice Weidel forderte er eine "ganz klare" Distanzierung.

    Das Interview in voller Länge:
    Jasper Barenberg: Mehr als 200.000 Menschen waren in der NS-Zeit im KZ Sachsenhausen bei Oranienburg interniert, Zehntausende wurden dort ermordet oder starben an den unmenschlichen Bedingungen. Heute kommen Besuchergruppen gewöhnlich, um dort der Opfer zu gedenken, um sich über die NS-Verbrechen zu informieren. Ganz andere Motive hatte offenbar eine Gruppe von Besuchern, die auf Einladung von AfD-Fraktionschefin Alice Weidel am 10. Juli die Gedenkstätte besucht hat. Jetzt, einige Wochen später, wird bekannt, dass einige der Besucher die NS-Verbrechen offenbar relativiert haben, in Zweifel gezogen haben oder verharmlost haben. Die Mitarbeiter der Gedenkstätte hätten daraufhin die Führung abgebrochen und die Gäste von Alice Weidel des Geländes verwiesen, die Polizei in Brandenburg hat inzwischen Ermittlungen eingeleitet. Wir können in den nächsten Minuten darüber mit dem Historiker Axel Drecoll sprechen, er leitet die Stiftung Brandenburgischer Gedenkstätten und ist damit auch für die Gedenkstätte in Sachsenhausen verantwortlich. Schönen guten Morgen, Herr Drecoll!
    Axel Drecoll: Guten Morgen!
    Teilnehmer waren "offensichtlich rhetorisch geschult"
    Barenberg: Herr Drecoll, Besucher aus der Gruppe der AfD-Fraktionschefin Alice Weidel sollen die Führung von Anfang an gestört haben, ihre Mitarbeiter provoziert und ihre Kompetenz in Zweifel gezogen haben. Was haben Ihre Mitarbeiter Ihnen inzwischen von diesen Ereignissen berichtet?
    Drecoll: Na, das verhält sich so, wie Sie das schildern. Diese Gruppe hat wohl – oder Teile der Gruppe, so muss man es richtig sagen, es ist eine Gruppe von ungefähr 20 Teilnehmern gewesen, – und fünf oder sechs Personen aus dieser Gruppe haben nach Angabe des Guides, der dafür verantwortlich ist für diesen Rundgang, haben von Beginn an systematisch – und zwar offensichtlich rhetorisch geschult und auch in der Argumentation geschult, in der Art der Argumentation – insofern die Führung infrage gestellt, den Inhalt der Führung nicht nur kritisch nachgefragt haben, sondern die Zahlen infrage gestellt haben, die Art der Verbrechen infrage gestellt haben mit für mich typisch revisionistischen Argumentationen. Etwa durch eine Gleichsetzung mit vermeintlichen alliierten Verbrechen oder Ähnlichem, sodass ein geordneter Rundgang überhaupt nicht mehr möglich war und letztendlich eben auch die Kompetenz des Guides infrage gestellt haben, seine Fachkenntnis infrage gestellt haben. Also, auch das kenne ich aus anderen Zusammenhängen mit ihnen, als, wenn man so will, als typischen Systemhistoriker dargestellt haben – das ist ja eine beliebte Argumentation der Rechten –, der eben das sagen müsse, was man so sagt in solchen Kontexten. Sodass der Guide dann irgendwann nach längerer Zeit, die er noch versucht hat durchzuhalten, gezwungen war, die Führung abzubrechen.
    Barenberg: Wenn Sie sagen, dass Ihre Mitarbeiter Ihnen berichtet haben, dass nach ihrem Eindruck die Einwände rhetorisch sehr geschult und in den Argumenten auch geschult vorgetragen wurden. Was meinen Sie damit genau, rhetorisch geschult?
    Drecoll: Ja, also die Mitarbeiter haben gesagt, dass sie den Eindruck gewonnen haben, oder der Mitarbeiter, dass eben dieser Teil der Gruppe sich die Bälle zugeworfen hat und auch in der Art der Argumentation durch Zitate aus angeblichen Quellen oder von Berichten, dass sie eben Sachkenntnis hatten und eben auch solche Argumentationsmuster vertreten haben. Also, das heißt, Kenntnis hatten von revisionistischer Literatur und wohl auch nicht das erste Mal bei so einer Art von Veranstaltung mitgemacht haben. Also, das schien dem Mitarbeiter eine in solchen Fragen durchaus versierte Gruppe von Leuten gewesen zu sein.
    "Vieles spricht für eine gezielte Herangehensweise"
    Barenberg: Das würde ja gewissermaßen auf einen Vorsatz hindeuten, auf eine organisierte Aktion gleichsam.
    Drecoll: Vieles spricht dafür, so kann man das in jedem Fall ausdrücken meines Erachtens, dass vieles dafür spricht, dass diese Gruppe von Personen zumindest dort ganz gezielt hingefahren ist, um solche Art von Thesen zu verbreiten. Dadurch dass das wirklich von Beginn an und dann eben über etwa 60 Minuten – das spricht im Übrigen für die hohe Professionalität des Guides, dass er wirklich so lange versucht hat einen geordneten Rundgang aufrecht zu erhalten, denn wir sind natürlich Orte der Information und Diskussion und wissen das auch und wollen das ja auch sein. Wir tun uns nicht leicht damit, Führungen abzubrechen, denn die kritische Reflexion ist eines unserer erklärten Bildungs- und Vermittlungsziele – aber diese Art und Weise der Argumentation und der Infragestellung und Verharmlosung von Beginn an spricht sehr dafür, dass das eine gezielte Herangehensweise gewesen ist. Wie gesagt, dieser Gruppe innerhalb der Gesamtgruppe.
    Barenberg: Können Sie uns ein Beispiel dafür nennen, wo nach Ihrer Ansicht das, was Sie kritische Reflexion nennen sich unterscheidet oder endet und dann eben Verharmlosung oder Relativierung oder gar die Verhöhnung von NS-Opfern beginnt?
    Drecoll: Ja, wissen Sie, kritische Reflexion meint, dass wir natürlich über die Art von Verbrechen, die dort stattgefunden haben, sprechen, dass wir auch erklären, worüber haben wir genaue Erkenntnisse, wie haben wir Erkenntnisse dort vor Ort gewonnen, wo gibt es auch durch die großen Vernichtungsaktionen auch von Aktenmaterial, die es gegeben hat, die SS hat versucht, ihre Spuren zu verwischen, wo haben wir auch Wissenslücken und müssen durch andere Schlussfolgerungen zu unseren Erkenntnissen kommen – das wollen wir ja offen diskutieren. Wir interpretieren auch teilweise Geschehnisse an diesem Ort. Und das alles wollen wir mit Gruppen, Besuchergruppen ja kritisch reflektieren und aber vor allen Dingen zur kritischen Reflexion über die Ereignisse anregen, die dort vor Ort stattgefunden haben. Und die Grenze ist selbstverständlich dort überschritten, und zwar massiv überschritten, wo es nicht mehr darum geht, über auch Methodiken des Wissenserwerbs zu reflektieren bei gesonderten Veranstaltungen, vor allem aber über die Ereignisse selbst zu reflektieren, sondern wenn es darum geht, die Ereignisse selbst infrage zu stellen und die Verbrechenskontexte an sich infrage zu stellen und zu verharmlosen.
    Ein Beispiel von vielen ist, ich habe es, glaube ich, schon erwähnt, die Gleichsetzung mit vermeintlich alliierten Verbrechen oder die Infragestellung von Zahlen oder die Infragestellung von bestimmten Arten des Massenmordes: Na ja, hat es das wirklich gegeben und da seien ja Zweifel angebracht. Also das sind deutliche Grenzüberschreitungen, denn Sie müssen wissen, wir sind ja Orte der Information und der Vermittlung, natürlich, aber wir sind eben auch Friedhöfe, wir sind Orte des Massensterbens und des Massenmordes auf bestialische Art und Weise. Wir sind Friedhöfe und sind der Würde der Opfer in ganz hohem Maße verpflichtet. Deshalb muss dort die Grenze sein, dort, wo Menschen und Gruppen wirklich nur versuchen, genau das zu verharmlosen, was dort vor Ort passiert ist, denn das ist mit diesen Orten, das ist an keinem Ort meines Erachtens möglich und darf nicht sein, aber überhaupt nicht an so einem Ort.
    "Die Grenzen des Sagbaren haben sich verschoben"
    Barenberg: Die Stiftung in Brandenburg leiten Sie, soweit ich das weiß, seit diesem Sommer, vorher waren Sie für den Erinnerungsort Dokumentation Obersalzberg verantwortlich. Haben Sie dort oder vorher so etwas schon einmal erlebt?
    Drecoll: Also, Sie können sich vorstellen, in den drei Monaten, in denen ich jetzt auch für die KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen verantwortlich bin, habe ich das nicht erlebt. Aber die Kolleginnen und Kollegen, die dort seit Jahren, teilweise auch seit Jahrzehnten mittlerweile arbeiten, sprechen auch davon, dass es sich dabei um einen nahezu oder tatsächlich einmaligen Vorgang handelt. Also das hat es in dieser Form entweder noch gar nicht oder kaum gegeben, also das ist schon, wir reden hier schon von einem besonders eklatanten Fall. Mein Gesamteindruck aber ist, das haben Sie ja schon angesprochen im Bezug auf den Obersalzberg und auch von anderen Arbeitskontexten, aus denen ich komme, dass schon, so kann man es wahrscheinlich am treffendsten formulieren, dass die Bereitschaft, in allgemeinen Kontexten, vielleicht kann man sogar sagen, in der Gesellschaft, offen mit Rassismen, mit geschichtsfälschenden, Verbrechen verharmlosenden Äußerungen aufzutreten, größer geworden ist. Und dass entweder das Schweigen – ich hoffe nicht, aber im Bereich des Möglichen liegt es – die schweigende Zustimmung zu solchen Äußerungen zugenommen hat. Also, dass es eine Salonfähigkeit auf einmal gibt von solchen Art von Äußerungen, wie gesagt, ob das Rassismen, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit, Homophobie ist.
    Die Grenzen des Sagbaren haben sich offensichtlich verschoben in den letzten Jahren, da sind Tabus gefallen, die ich eigentlich für ganz wichtig halte. Und da können wir als Gedenkstätten natürlich nur dringend appellieren, dass wir an solchen Orten natürlich solche Führungen dann abbrechen und das nicht dulden können, diese Art von Diskussion, aber wir brauchen natürlich einen Gesellschaftskonsens, der so etwas tabuisiert. Und wenn bei so einem Gesellschaftskonsens das Bröckeln anfängt, dann schlägt sich das eben auch selbst an solchen Orten nieder, die wir mit betreuen dürfen. Und das ist natürlich für uns eine bedrohliche Situation.
    Barenberg: Zum Schluss, Herr Drecoll, weil wir nicht mehr arg viel Zeit haben, aber das muss ich noch loswerden: Was erwarten Sie von Alice Weidel, die diese Besucher eingeladen hat, für die nächsten Termine?
    Drecoll: Also es gibt eine Sache, die ich vor allem erwarte. Ich kenne jetzt keine der handelnden Personen, aber ich muss schon sagen, wenn über eine Partei oder über eine Abgeordnete letztendlich so eine Gruppe vermittelt wird, auch wenn sie persönlich ja nicht dabei war, und solche Äußerungen ja innerhalb der AfD oder zumindest in diese Richtung nun schon öfter gefallen sind, dann ist schon meine Erwartung ganz dringend, also das muss ich schon auch in der Dringlichkeit sagen...
    Barenberg: Herr Drecoll, wir haben nur noch zwanzig Sekunden, verzeihen Sie!
    Drecoll: Natürlich! Dass diese Partei und auch Frau Weidel sich ganz klar distanziert von solchen Arten von Äußerungen. Also das ist meine dringende Erwartung.
    Barenberg: Sagt Axel Drecoll, der Leiter der Stiftung Brandenburgischer Gedenkstätten. Danke für das Gespräch, Herr Drecoll, herzlichen Dank!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.