Samstag, 20. April 2024

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Leiterin der Gedenkstätte Fünfeichen
"Der größte Teil wurde einfach weggesperrt"

In der Sowjetischen Besatzungszone gelegen, waren im sogenannten Speziallager Fünfeichen bis 1948 circa 15.000 Menschen inhaftiert - mutmaßliche NS-Täter, aber auch politisch missliebige Personen. Die meisten seien seelisch kaputt gegangen, sagte Rita Lüdtke von der Arbeitsgemeinschaft Fünfeichen im Dlf.

Rita Lüdtke im Gespräch mit Jasper Barenberg | 05.05.2018
    Der Südliche Friedhof der Toten des NKWD-Speziallagers in der Mahn- und Gedenkstätte Fünfeichen
    Viele der Häftlinge in Fünfeichen starben aufgrund von Hunger und Kälte (picture alliance / Bernd Wüstneck / dpa-Zentralbild / dpa)
    Jasper Barenberg: Die Säuberung des Hinterlandes der kämpfenden Truppen der Roten Armee von feindlichen Elementen – so hat der sowjetische Geheimdienst NKWD im Befehl 00315 vom 18. April 1945 das Ziel definiert und daraufhin nach Kriegsende in der sowjetischen Besatzungszone zehn sogenannte Speziallager eingerichtet. Überwiegend wurden dort zunächst Männer unter dem Vorwurf festgehalten, Nationalsozialisten zu sein, später ließen die deutschen Behörden dort aber mehr und mehr auch politisch missliebige Personen an die Besatzungsmacht überstellen und internieren. Zu den größten dieser Speziallager gehörte Fünfeichen in Neubrandenburg. Bis 1948 waren dort etwa 15.000 Insassen eingesperrt. Ein Drittel von ihnen starb an Hunger, an Krankheiten oder den Folgen von Misshandlungen, die Überlebenden mussten in der DDR darüber schweigen. Heute erinnert die Arbeitsgemeinschaft Fünfeichen an die Schließung des Speziallagers Nummer neun vor 70 Jahren. Leiterin der Arbeitsgemeinschaft Fünfeichen ist Rita Lüdtke, sie ist jetzt am Telefon, schönen guten Morgen, Frau Lüdtke!
    Rita Lüdtke: Einen recht schönen guten Morgen!
    Barenberg: Frau Lüdtke, es ist heute unter anderem ein Treffen von Häftlingen und Angehörigen geplant. Wie wichtig ist das Gedenken vor allem für diese ehemaligen Inhaftierten?
    "Hohen Stellenwert, sich hier zu treffen"
    Lüdtke: Wir haben zurzeit in der Arbeitsgemeinschaft noch 77 ehemalige Inhaftierte, von diesen 77 doch im stolzen Alter, viele sind davon bereits über 90, werden 13 noch lebende Häftlinge daran teilnehmen, auch unser Ältester, der in ein paar Tagen 100 Jahre wird. Das ist also insgesamt ein wichtiger Tag für wirklich die noch lebenden Häftlinge. Bei mir hat heute noch einer abgesagt, mit 89 Jahren, der sagt: Die Treffen Fünfeichen gehören in meinem hohen Alter zu den wichtigsten Erlebnissen meines Alltags noch. Da treffe ich Gleichgesinnte, da kann ich mich über Vergangenheit, über gleiche, ähnliche Situationen unterhalten. Und das hat für sie einen relativ hohen Stellenwert, sich hier zu treffen.
    Barenberg: Ich habe es eingangs ja angedeutet, vor allem Männer wurden dort festgehalten, aber auch Jugendliche von zwölf bis 21 Jahren, so alt waren sie damals. Kleine Funktionsträger oft des NS-Staates ebenso wie alle möglichen sogenannten verdächtigen Elemente. Gibt es so was wie einen typischen Häftling in Fünfeichen?
    Lüdtke: Einen typischen Häftling gibt es nicht. Fest steht, im Lager Fünfeichen waren in der Mehrzahl Männer, es waren aber auch über 700 Frauen und Mädchen in Fünfeichen. Der Anteil Jugendlicher von zwölf bis so um die 20 liegt bei fast 3.000. Also wir hatten doch einen relativ hohen Anteil Jugendlicher. Und die Jugendlichen sind ja jetzt die, die jetzt noch leben, die, die jetzt über 80 sind. Aber ansonsten müssen wir wirklich sagen: Es gibt keine konkrete Statistik über die Frage, wer im Lager war, aber wir haben im Lager, was wir so allgemein recherchiert haben, wirklich von der kleinen Sekretärin, der Krankenschwester, dem Arzt, dem Theaterdirigenten von Berlin, Künstler, wir haben sehr viele Landwirte, wir haben Lehrer, wir haben das ganze Spektrum eigentlich der Berufsgruppen, die sich hier in Fünfeichen treffen.
    "Einfach weggesperrt"
    Barenberg: Das alles geschah ja, soweit ich das weiß, ohne jedes ordentliche juristische Verfahren. Sie sind alle inhaftiert gewesen aufgrund von Anschuldigungen oder aufgrund eines Verdachtes. Ging es dabei, wenn man das überhaupt sagen kann, um so etwas wie Strafverfolgung von NS-Tätern tatsächlich oder war es am Ende doch politische Willkür der Besatzungsmacht und dann der deutschen Behörden, die nach und nach entstanden sind in Ostdeutschland?
    Lüdtke: Ich muss sagen, sowohl als auch. Der größte Teil ist ohne Urteil nach Fünfeichen gekommen und einfach weggesperrt. Wir haben ganz, ganz wenige mit einem Urteil. Ein Beispiel, wir haben eine Krankenschwester, die ist rehabilitiert. Und in ihrem Urteil steht, sie wird für 15 Jahre verurteilt, weil sie deutsche Soldaten wieder einsatzfähig für den Krieg gemacht hat, indem sie die gesund gepflegt hat.
    Leute "nervlich kaputtgegangen"
    Barenberg: Insgesamt kann man wohl sagen, dass es sehr desolate Lebensbedingungen waren. Wie müssen wir uns die Verhältnisse im Lager damals vorstellen?
    Lüdtke: Es gibt ja keine konkreten Unterlagen wirklich, wie es war, sondern wir haben einmal das Tagebuch des Pastor Bartelt, der als Pfarrer im Lager Fünfeichen war und als Einziger ein Tagebuch geschrieben hat von über 120 Seiten. Und dieses Tagebuch ist Gott sei Dank von einem Mithäftling rausgeschmuggelt worden und ist uns erhalten geblieben. Da wissen wir, dass das doch ein ganz, ganz großes Spektrum war von dem, wie sie im Lager das Lager erlebt haben. Einige … und da gehören die vor allem im Südlager dazu, das sind die, die mehr, sag ich mal, mit der Hand gearbeitet haben, Berufsgruppen vom Handwerker, vom Bäcker bis zum Fleischer, bis zum Schlosser, bis zum Frisör. Im Nordlager sind eben Juristen, Leute von der Presse, da sind Lehrer mit drin, da sind die Jugendlichen fast alle ins Nordlager gekommen. Und dieser Bereich im Nordlager hatte es generell schlechter im Lager, weil sie wirklich weggesperrt worden sind. Sie hatten auch keine Chance, an Arbeit ranzukommen. Arbeit war Entlastung, und die sind besser drangewesen, weil die nicht seelisch kaputtgegangen sind. Die Leute sind ja nicht wie im KZ jetzt, sage ich mal, schwer drangsaliert worden oder so etwas, sondern die Leute sind einfach weggesperrt und sind nervlich – und dann natürlich Hunger und Kälte dazu - kaputtgegangen.
    Rita Lüdtke, Leiterin der Arbeitsgemeinschaft Fünfeichen, zeigt am 26.04.2017 in Neubrandenburg (Mecklenburg-Vorpommern) das Tagebuch des Pastors Bartelt, der nach dem Zweiten Weltkrieg im Lager des sowjetischen Geheimdienstes NKWD in Fünfeichen inhaftiert war. Anhand der Aufzeichnungen hatte die AG das Buch "Streng verboten - Das Tagebuch des Pastors Bartelt" herausgegeben. Die Dokumente sind Teil der Sonderausstellung "Gegen das Vergessen", mit der die AG Fünfeichen ab dem 28.04.2017 Arbeit dokumentiert. (zu "Sonderausstellung über Wirken der Arbeitsgemeinschaft Fünfeichen" vom 28.04.2017) Foto: Bernd Wüstneck/dpa-Zentralbild/dpa | Verwendung weltweit
    Rita Lüdtke, Leiterin der Arbeitsgemeinschaft Fünfeichen, mit dem Tagebuch des Pastors Bartelt, das Auskunft über den Lageralltag gibt (dpa / Bernd Wüstneck)
    Barenberg: Und alle, Frau Lüdtke, waren in der einen oder anderen Weise stärker oder schwächer für ihr Leben geprägt. Die Insassen, die dann freigekommen sind 1948, durften allerdings in der DDR nicht über diese Zeit sprechen. Was wissen Sie, was hat das für die Häftlinge zum einen natürlich, aber auch für deren Familien bedeutet?
    Lüdtke: Das ist für den Häftling persönlich natürlich … Er ist drei Jahre weggesperrt gewesen und durfte eigentlich nicht mal der Ehefrau und den Kindern was sagen. Wie viel sie gesagt haben, ist sehr unterschiedlich. Ich weiß nur, dass ich mit Kurt Groth, dem zweiten Sprecher der Arbeitsgemeinschaft, viele, viele Jahre zusammen gearbeitet habe, zusammen gefeiert habe und alles Mögliche. Und wie wir uns 1990 in Fünfeichen getroffen haben, sage ich: Kurt, sag mal, was machst denn du hier? Da sagt er: Ich habe drei Jahre hier gesessen, wir sind entlassen mit der Verpflichtung, dass wir darüber zu schweigen haben.
    "Alle die hier waren, wollten nicht hierher"
    Barenberg: Frau Lüdtke, zum Schluss unseres Gespräches: Fünfeichen war schon während des Zweiten Weltkrieges Kriegsgefangenenlager, unter anderem für Soldaten der Roten Armee. Nach dem Krieg war Fünfeichen für kurze Zeit, soweit ich weiß, auch ein Lager für sogenannte Displaced Persons, also vor allem Verfolgte des NS-Regimes, und dann eben das Speziallager, über das wir jetzt gesprochen haben. Wenn man alles zusammen in den Blick nimmt und wenn man bedenkt, dass es immer weniger Zeitzeugen gibt, welchen Ort muss Fünfeichen, müssen alle Speziallager in der deutschen Erinnerungskultur behalten unbedingt?
    Lüdtke: Ja, ich muss sagen, man muss das insgesamt im Komplex sehen. Wir als Arbeitsgemeinschaft in enger Zusammenarbeit mit der Stadt, haben von der ersten Stunde, nachdem überhaupt Fünfeichen als Speziallager bekannt wurde - das wurde ja erst nach 1989 bekannt -, immer gesagt: Es gibt einen Gedenkort, den wir hier in Fünfeichen entwickeln wollen. Weil, hier sind Opfer, egal aus welchem Land, aus welcher geschichtlichen Epoche, alle die, die hier waren, wollten nicht hierher und wollten gleich gar nicht hier sterben. Also es ist ein Ort, wo obendrüber steht: Wir gedenken aller, egal warum, weshalb. Wir werden, wenn wir in die Gedenkstätte gehen, als Erstes einen Kranz bei den Kriegsgefangenen ablegen und gehen dann zu den Internierten. Die Soldaten wollten auch nicht hierher und die wollten auch gleich gar nicht in Neubrandenburg sterben und begraben sein. Also das ist für uns doch ein ganz, ganz wichtiger inhaltlicher Gesichtspunkt. Und deshalb waren wir stolz, dass wir vor drei Jahren, wie wir die russische Namenstafel übergeben haben, dass unsere Internierten als Erstes bei den Russen die gelbe Chrysantheme hingelegt haben und der russische Botschafter rote Nelken bei den Internierten hinterlegt hat, dass wir gesagt haben: Wir haben einiges begriffen.
    Barenberg: Rita Lüdtke leitet die Arbeitsgemeinschaft Fünfeichen, wir haben gesprochen über das Gedenken 70 Jahre nach Schließung des sogenannten Speziallagers Nummer neun. Frau Lüdtke, ganz herzlichen Dank für das Gespräch!
    Lüdtke: Bitte schön, gern getan!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.