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Lektüre für die Feiertage
Unsere Geschenkbücher

Wunderkammern, Novellen der Weltliteratur, Gesamtausgaben von Günter Grass und Thomas Kling, Schreibtisch- und Kinobesuche, eine weite Reise und eine deutsche Affäre liegen 2020 auf dem Gabentisch der Buchredaktion.

Von der Dlf-Buchredaktion / Jan Drees | 15.12.2020
angeleuchtete Bäume im Winter
Der Baum leuchtet: zur Geschenksendung der Dlf-Buchredaktion (Jelina Berzkalns)
Der Geschenktipp von Angela Gutzeit
So akribisch und analytisch scharfsinnig hatte wohl kein Zeitgenosse die Ausgrenzung der Juden aus dem Alltagsleben zwischen 1933 und 1945 tagtäglich festgehalten. Der Dresdner Protestant jüdischer Herkunft überlebte den Terror – nicht zuletzt dank seiner nichtjüdischen Frau Eva, die an seiner Seite blieb, auch als sie aus ihrem Haus vertrieben wurden und in eines der Judenhäuser umziehen mussten. Was bei diesen Tagebüchern bislang wenig beachtet wurde bzw. den später wohl notwendigen Kürzungen zum Opfer fielen, das waren Klemperers Notizen zu seinen unzähligen Kinobesuchen. Ein absolut empfehlenswertes Buch, das ein Stück Zeit- und Kinogeschichte in einem bietet.
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Victor Klemperer: "Licht und Schatten. Kinotagebuch 1929 – 1945"
Aufbau Verlag. 363 Seiten, 24.- Euro
Der Geschenktipp von Hubert Winkels
Vom Sprachpunk zum modernen Klassiker: Die Kanonisierung des rheinischen Dichters Thomas Klings war nicht aufzuhalten. Bei "Suhrkamp" ist eine fein gestaltete Werkausgabe erschienen, die die Sprachartistik und profunde historische Kenntnis des 2005 verstorbenen Poeten und Essayisten in vier Bänden präsentiert und feiert.
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Thomas Kling: "Werke in vier Bänden"
Herausgegeben von Marcel Beyer
In Zusammenarbeit mit Frieder von Ammon, Peer Trilcke und Gabriele Wix,
Suhrkamp Verlag, Berlin,
4 Bände im Schuber, 2692 Seiten, 148 Euro
Der Geschenktipp von Dina Netz
Michael Faber hat den Verlag Faber und Faber im vergangenen Jahr unter anderem wiedergegründet mit dem Anspruch, literarische Texte "in originären Formen und in besonderer Ausstattung" herauszubringen. Die Neuausgabe von Giovanni Boccaccios "Dekameron" ist nun der erste Band der Reihe "Weltliteratur in illustrierten Ausgaben (Große Reihe)". Groß im Wortsinne: etwas über Dina A4-Format und so schwer, dass man die Lektüre würdig an einem Tisch sitzend vornehmen muss – auf den Schoß passt dieses "Dekameron" nicht. Zehn junge Männer und Frauen fliehen 1348 vor der in Florenz wütenden Pest aufs Land. Sie vertreiben sich die Tage mit dem Erzählen von Geschichten. Olaf Martens hat zu Giovanni Boccaccios berühmtem Novellenband opulente Fotografien in Szene gesetzt – barock, faszinierend und verstörend.
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Giovanni Boccaccio: "Das Dekameron". Novellen
Mit 25 farbigen fotografischen Illustrationen von Olaf Martens
Revidierte Fassung der Übersetzung von Dietrich Wilhelm Soltau
Mit Ergänzungen von Klabund
Verlag Faber und Faber, Leipzig. 336 Seiten, 78 Euro
Der Geschenktipp von Gisa Funck
In Spanien wurde dieses Buch 2018 zum Überraschungsbestseller. In Deutschland hat man es bisher kaum wahrgenommen. Völlig zu Unrecht. Denn "Die Reise nach Ordesa" des bis jetzt höchstens als Lyriker bekannten Manuel Vilas, das ist wirklich ein großer Wurf. Das Erstaunlichste an diesem eigentlich sehr melancholischen Totengesang ist, dass er trotz seines radikalen Alles-In-Frage-Stellens überhaupt nicht schwer verdaulich klingt, sondern in einer klaren, schönen Dichtersprache verfasst ist, voll von der Poesie einer geradezu heiter-erhabenen Trauer-Gelassenheit.
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Manuel Vilas: "Die Reise nach Ordesa". Roman.
Aus dem Spanischen von Astrid Roth
Berlin Verlag, Berlin. 409 Seiten, 24 Euro
Der Geschenktipp von Miriam Zeh
Konzentration am heimischen Schreibtisch kann schwerfallen, vor allem wenn zwischendurch noch schnell die Wäsche aufgehängt und das Mittagessen gekocht werden will. Das beschreiben auch viele Schriftstellerinnen in der Anthologie "Schreibtisch mit Aussicht". Redakteurin und Autorin Ilka Piepgras versammelt darin 23 Essays von Autorinnen aus Europa und den USA. Terézia Mora, Elfriede Jelinek, Leïla Slimani und Zadie Smith erzählen, warum wie sie schreiben, wie sie sich immer wieder aufraffen und damit zu denen geworden sind, die ihre Leserinnen heute bewundern. Einig sind sich alle: Schreiben ist harte Arbeit und braucht kostbare Zeit. Auch beinahe 100 Jahre nach Virginia Woolfs berühmtem Aufsatz "Ein eigenes Zimmer" lädt dieser Band über weibliche Selbstbestimmung zum Schmökern ein!
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Ilka Piepgras (Hg.): "Schreibtisch mit Aussicht. Schriftstellerinnen über ihr Schreiben"
Kein und Aber Verlag, Zürich. 288 Seiten, 23 Euro
Der Geschenktipp von Catrin Stövesand
Hedwig Richter spannt den Bogen vom 18. Jh. Bis in die Gegenwart. Beginnt also mit den Aufklärern in Europa, auch die Unabhängigkeitserklärung der USA spielt natürlich eine Rolle, dann legt sie einen Schwerpunkt auf die Zeit um 1900, thematisiert Massenpolitisierung, die Etablierung demokratischer Praktiken, dann die beiden Weltkriege, der Nationalsozialismus als schlimmste Krise, der zeigt, welche Abgründe sich auftun, wenn Nationalismus und Demokratie sich verbinden. Doch sie hat auch Lösungen. Wer nach diesem seltsamen Jahr eine ehrliche, aber optimistische Perspektive benötigt, sollte dieses Buch lesen.
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Hedwig Richter: "Demokratie. Eine deutsche Affäre"
C.H. Beck, München, 400 Seiten, 26,95 Euro
Der Geschenktipp von Tanya Lieske
Wunderkammern gehen auf die Zeit der Renaissance und des Barock zurück, als die Menschen sich für die Vollständigkeit des Wissens interessierten, als sie andererseits aber an Gott glaubten. Dieses Spannungsfeld erklärt die vielen hybriden Formen und Wesen, die in Wunderkammern aufbewahrt wurden, und die Massimo Listri fabelhaft ausleuchtet und zum Greifen nah an unser Auge bringt: Ein gläserner Pegasus, Silberne Vögel mit Federn aus Perlmutt, Versteinerte Korallen und Fossilien, ausgestopfte Singvögel, Astrolabien, und Mailänder Klingen, Straußeneier, Zuckerdosen, ewige Kalender. Ein Augenschmaus zu Weihnachten.
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Massimo Listri, Antonio Paolucci: "Das Buch der Wunderkammern"
Taschen Verlag, Köln, 356 Seiten, 100 Euro
Der Geschenktipp von Jan Drees
Wir bleiben im Barock: 2020 ist auch das Jahr der Neuen Göttinger Ausgabe: 24 Bände Günter Grass, herausgegeben von Dieter Stolz und Werner Frizen, auf Bibelpapier dennoch einen halben Regalmeter füllend. Das gesamte lyrische, dramatische, epische und essayistische Werk wurde neu gesetzt und bietet den Auftakt für die ab kommenden Jahr erscheinenden Kommentarbände. Wenige deutschsprachige Schriftsteller der Nachkiegszeit haben auf ähnlich opulente Weise noch einmal im Sinne einer Kulturkontinuität geschrieben. Eine der schönsten Gesamtausgaben unserer Gegenwart.
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Günter Grass: "Neue Göttinger Ausgabe"
Auf 1000 Ausgaben limitiert
Steidl, Göttingen, 10.952 Seiten, 480 Euro