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Leo Lania: "Der Außenminister"
Zerrieben zwischen Faschismus und Kommunismus

Der Tod des tschechoslowakischen Außenministers Jan Masaryk im März 1948 gilt als dritter Prager Fenstersturz. Das tragische Ereignis ist tief verwurzelt in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Leo Lanias Roman schildert die Hintergründe, ohne Schlüsselroman sein zu wollen.

Von Kirsten Reimers | 29.11.2019
Leo Lania „Der Aussenminister“ und eine Aufnahme von Jan Mararyk, der die Hauptfigur in dem Buch ist
Leo Lanias Polit-Krimi dreht sich um einen Todesfall, dessen Umstände bis heute nicht geklärt sind. Beging der tschechoslowakische Außenminister Jan Masaryk im März 1948 wirklich Selbstmord? (Buchcover Mandelbaum Verlag / Hintergrund imago-CTK Photo)
In den frühen Morgenstunden das 10. März 1948 wurde der damalige tschechoslowakische Außenminister Jan Masaryk tot aufgefunden. Seine Leiche lag unter dem Badezimmerfenster seiner Dienstwohnung im zweiten Stock des Palais Czernin, zu jener Zeit Sitz des Außenministeriums. Offiziell ging man damals von Selbstmord aus. Doch schon früh gab es Zweifel an dieser Version.
Dieser Tod ist in seiner Vorgeschichte wie in seinen Konsequenzen tief verwurzelt in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Sein Ausgangspunkt liegt im Münchner Abkommen von 1938 und in der völkerrechtswidrigen Annexion der Tschechoslowakei durch Hitler-Deutschland im März 1939. Ende des Zweiten Weltkrieges wurde das Land mit Hilfe von sowjetischen Truppen befreit, aber nicht besetzt. Bis Anfang 1948 war eine demokratisch gewählte Regierung an der Macht, eine breite Koalition aus Sozialdemokraten, Kommunisten und weiteren Parteien wie auch parteilosen Politikern. Die Tschechoslowakei nahm zu dieser Zeit eine Mittlerposition zwischen Ost und West ein.
Dies änderte sich durch die Ablehnung des Marshall-Plans: Auf massiven Druck Stalins wie auch aufgrund des deutlichen Willens der Bevölkerung sprach sich die Tschechoslowakei 1947 gegen den Plan aus. In der Folge schloss sich der Staat stärker an die UdSSR an. Die Entscheidung gegen den Marshall-Plan führte zu großen Spannungen innerhalb der Regierung, die darin gipfelten, dass im Februar 1948 fast alle nicht-kommunistischen Minister zurücktraten, um Neuwahlen zu erzwingen. Dies misslang, da der kommunistische Ministerpräsident die Posten an Genossen vergab und den Staatspräsidenten unter Druck setzte, diese neue Regierung anzuerkennen. Bevor der parteilose Jan Masaryk eine Entscheidung treffen konnte, ob er dem Kabinett weiter angehören wolle, kam er durch den sogenannten dritten Prager Fenstersturz zu Tode. Die Tschechoslowakei rückte danach mit ihrer kommunistischen Regierung noch näher an Moskau heran und war ab Mitte März 1948 faktisch Teil des Ostblocks.
Zwischen Pflicht und Flucht
Leo Lanias Roman "Der Außenminister" setzt in der Nacht des 9. März 1948 ein. Er greift die Ereignisse jener Zeit auf, ohne jedoch Schlüsselroman oder Politthriller sein zu wollen oder das tatsächliche Geschehen zu rekonstruieren. Lania geht es um grundsätzlichere Fragen, er zeigt das Ringen eines namenlosen Außenministers um eine Haltung im Konflikt von Kommunismus, Faschismus und Demokratie.
Dem Minister wurde ein Ultimatum gesetzt: Bis zum nächsten Morgen muss er sich entscheiden, ob er einer kommunistischen Regierung angehören will oder von seinem Amt zurücktritt. In den kommenden Stunden versucht er, einen Standpunkt zu finden: Soll er in der Regierung bleiben und damit die Demokratie und seine Grundsätze verraten? Oder in den Westen flüchten, um von dort Widerstand zu organisieren, damit jedoch das Volk verraten? Oder Selbstmord begehen, um ein politisches Zeichen zu setzen? Um zu einer Entscheidung zu kommen, sucht der Minister das Gespräch mit Vertrauten und Gegnern.
"'Ich verstehe nicht. Was wollen Sie verteidigen?' - 'Das grundsätzliche Recht eines Menschen, sich nicht völlig an eine andere Person, an eine Partei, an ein Programm auszuliefern. Und schon gar nicht an den Staat.'"
Eine Gesellschaft im Umbruch
Lania zeichnet das Porträt einer Gesellschaft im Umbruch. Anhand der Gespräche und Erinnerungen des Außenministers skizziert er einerseits dessen Werdegang und politische Positionierung durch persönliche wie zeitgeschichtliche Ereignisse, zum anderen legt Lania die politischen Prozesse dar, die zur gegenwärtigen Situation geführt haben.
Dies gelingt ihm beeindruckend: Lania macht komplexe Entwicklungen verstehbar, ohne sie zu simplifizieren. Dies ist ein Anspruch, den Lania seit den 1920er-Jahren an sich selbst stellte. Geboren als Lazar Hermann in Charkow – damals in Russland, heute in der Ukraine liegend –, wuchs Lania in Wien auf, wo er nach dem Ersten Weltkrieg für kurze Zeit Herausgeber der "Roten Fahne" war, einer österreichischen kommunistischen Tageszeitung. Anfang der zwanziger Jahre siedelte er nach Berlin über und avancierte zu einem der ersten Investigativjournalisten Deutschlands und zu einem wichtigen Protagonisten des kulturellen Lebens der Weimarer Republik. Sein Ziel war es, in Reportagen, Romanen, Filmen und Theaterstücken die Zusammenhänge von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft so nachvollziehbar aufzuzeigen, das möglichst viele Menschen sie verstanden.
Dem Kommunismus kehrte Lania schon während seiner Berliner Zeit den Rücken, die Enthüllung der Verbrechen Stalins machte ihn zum entschiedenen Anti-Kommunisten. Nachdem er in den 1930er-Jahren zunächst ins europäische Exil gegangen war, emigrierte er 1940 mit seiner Familie in die USA, wo 1956 sein Roman "The Foreign Minister" erschien; 1960 wurde dieser unter dem Titel "Der Außenminister" auch auf Deutsch veröffentlicht.
Politische Aufklärung mit fiktiven Elemente
Lania wählte die Form des Zeitromans, die während der 1920er-Jahre populär war. Zeitromane wollen aktuelle Ereignisse in politisch aufklärerischer Weise aufzeigen; dafür werden reale, dokumentarische wie auch fiktive Elemente vermischt. So sind unter anderem die Figuren in Lanias Roman fiktionalisiert. Sie sind zwar an reale Personen angelehnt, bilden diese jedoch nicht ungebrochen ab. Ziel ist nicht die Rekonstruktion eines historischen Einzel- oder gar Todesfalls, sondern zu zeigen, warum die Welt in zwei ideologische Blöcke zerfällt und wie die Positionen eines intellektuellen Liberalismus zwischen diesen Fronten aufgerieben werden, sodass keine ideologische Alternative bleibt. So erklärt bei Lania der Staatspräsident mit Blick auf einen seiner Vorgänger:
"'[Er] konnte es sich leisten, gleichzeitig gegen den Radikalismus von links und rechts zu sein – gegen die Nationalisten und gegen die Marxisten, gegen Schwarz und Rot, und er erkämpfte den Sieg ohne Kompromisse mit dem einen oder anderen Flügel. (…) Und wir? Das ist es ja, was unsere Position als Liberale so hoffnungslos macht. Um mit Erfolg gegen die Kommunisten vorzugehen, müßte ich mich jetzt mit den Faschisten verbinden, mit Männern, die als Knechte und Söldner Hitlers …' Er unterbrach sich."
Historische Ereignisse verständlich skizziert
Während die historischen Ereignisse bei aller Komplexität verständlich skizziert werden, sind manche Figuren eher holzschnittartig geraten; in ihrer Zeichnung wird Lanias Anti-Kommunismus und seine Bewunderung für die Exilheimat ersichtlich: Zwar gibt es im Roman auch überzeugte Kommunisten, die mit Wärme gestaltet sind, ihnen stehen jedoch kaltherzige Apparatschiks gegenüber, die Abziehbildern gleichen. Die auftretenden Amerikaner dagegen sind oft idealisiert.
Gruselig ist das altbackene Frauenbild, das Frauen auf eine dem Mann dienende Funktion reduziert. Ganz hervorragend hingegen ist das Nachwort von Lania-Experte Michael Schwaiger, das den Roman in die großen Linien weltpolitischer Ereignisse wie auch in den Werkkontext Lanias einordnet und aktuelle Bezüge aufzeigt.
Im Fall des historischen Jan Masaryk gibt es derzeit Bewegung: Aufgrund neuer Ermittlungsmethoden kam man 2004 zu dem Schluss, dass dieser gewaltsam aus dem Fenster gestoßen worden sein musste. Seit Ende Oktober 2019 wird der Fall erneut aufgerollt: Inzwischen gehen Experten davon aus, dass Masaryks letzte Stunden anders verlaufen sein müssen, als bislang angenommen. Die Frage, was damals wirklich geschehen ist, bleibt also weiterhin offen.
Leo Lania: "Der Außenminister"
mit einem Nachwort von Michael Schwaiger
Mandelbaum Verlag, 272 Seiten, 25 Euro