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Lernen per Web: Live-OP inklusive Chat

Damit Studierenden in den ersten Semestern nicht die Lust am Lernen vergeht, gibt ihnen die Uni Tübingen schon früh Einblicke in die klinische Medizin: Mit "sectio chirurgica" können sie eine Operation sogar live im Internet verfolgen.

Von Katharina Thoms | 30.12.2011
    Dr. Thomas Breuer: "Okay, Sauger."

    Der Patient hat eine chronische Rhinosinusitis – eine dauerhafte Entzündung der Nasenschleimhaut und der Nasennebenhöhlen. Für den HNO-Spezialisten Dr. Thomas Breuer eine Standardoperation.

    Dr. Thomas Breuer: "Jetzt hätte ich ganz gern noch mal den Stirnhöhlenlöffel."

    Dieser Fall ist nur simuliert – der Chirurg zeigt die Nasenoperation an einem Toten, einem Körperspender. Breuer wird dabei von Studierenden übers Internet beobachtet. Um ihn herum sind Kameras aufgebaut – die Technik wird hier komplett von HiWis des anatomischen Instituts bedient. Auch Breuer selbst hat eine schmale Stabkamera in der Hand, die er in die Nase des Patienten einführen kann – die Nase erscheint riesengroß auf dem Bildschirm.

    Dr. Thomas Breuer: "Genau, da gibt's ein paar wichtige Arterien. Die kann natürlich hundsgemein bluten, wenn wir die hier erwischen."


    Rund 1500 Studierende sind heute live bei der OP dabei und schauen den Livestream im Internet:

    Moderator Hirt: "Live von der sectio chirurgica. Wir sagen einfach "Hallo" aus dem Südwesten Deutschlands."

    Die "sectio chirurgica"-Veranstaltung hat sich herumgesprochen unter Medizinstudenten von Wien bis Rostock. In WGs, im Wohnheimzimmer oder in einem Hörsaal sitzen jedes Mal Studierende zusammen und verfolgen die Sektion, erzählt Dr. Bernhard Hirt, Leiter der klinischen Anatomie und Ideengeber zu der Lehrveranstaltung. Zuschauen kann dort nur, wer als Medizinstudent von der Uni Tübingen einen passwortgeschützten Zugang bekommen hat, erklärt Hirt:

    "Das ist jetzt für uns natürlich ganz wichtig, weil wir keine sensationsheischende Erlebnisanatomie hier haben wollen, sondern wirklich einen sehr soliden Unterricht gestalten wollen."

    Die Idee dazu kam mit dem neuen OP-Saal in der Tübinger Anatomie. Der Saal wurde vor zwei Jahren mit neuester Medizintechnik ausgestattet, mit sieben verschiedenen Kameras und der Möglichkeit, OPs live zu übertragen. Ursprünglich sollten dort nur Chirurgen weitergebildet werden. Bernhard Hirt wollte, dass die Ausstattung auch den Studierenden während ihrer Anatomiekurse zugute kommt:

    "Es ist so, dass die Studierenden während des Präparationskurses die Möglichkeit haben, die Inhalte, die sie gerade präparieren, live von einem Chirurgen behandelt zu sehen. Das bedeutet, auch die Motivation steigt, das zu lernen."

    Ein- bis zweimal die Woche operiert ein Spezialist in seinem Fachgebiet und erklärt sein Vorgehen. Eingriffe am Schultergelenk, Tumorentfernung, Implantation von Hörgeräten. Während der OP erklärt Moderator Bernhard Hirt immer wieder den anatomischen Aufbau der Nase und vergleicht die OP-Aufnahmen auf dem Bildschirm mit dem Modell, an dem die Medizinstudenten normalerweise lernen:

    "Ich zeig gerade hier noch etwas Besonderes. Nämlich hier, als Picture-in-Picture-Darstellung, genau hier ist die Region. Hier ist eine akzessorische Öffnung zur Kieferhöhle."

    Die zugeschalteten Medizinstudenten sind aber nicht nur Zuschauer im virtuellen Hörsaal. Sie dürfen und sollen auch Fragen stellen. Die posten sie im Chat, der gleichzeitig zum Video-Livestream läuft. Die Fragen werden während der Veranstaltung an den Operateur weitergegeben:

    Chatmoderator: "Aus dem Chat kommt die Frage, ob man mit der Operation die chronische Sinusitis heilen kann."

    Nicht nur über den Chat können Fragen gestellt werden – auch ein Stockwerk höher sitzen im Tübinger Anatomischen Institut rund 80 Studierende und verfolgen die OP aufmerksam.

    Die meisten hier sind im zweiten oder dritten Semester, büffeln gerade für Anatomie und schätzen die Beispieloperationen:

    "Also ich zum Beispiel möchte später Chirurgin werden. Und ich denke, es ist halt auch gut, sich später für ein Fach entscheiden zu können. Wenn ich aus verschiedenen Disziplinen hier was vorgeführt bekomme, ist schon cool."
    "Wir bekommen ja auch immer noch mal von dem Herrn Dr. Hirt die anatomischen Strukturen dann parallel erklärt. Und zum rekapitulieren ist es dann schon ganz gut, ja."

    Wie bei einer echten Show live im Fernsehen überziehen auch Chirurg Thomas Breuer und Moderator Bernhard Hirt ihre Sendung ein bisschen – und verabschieden sich nach mehr als anderthalb Stunden sectio chirurgica:

    "Ganz, ganz herzlichen Dank. Bis demnächst, tschüss!"