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Lese- und Rechtschreibstörung
Kinder mit Legasthenie drohen abgehängt zu werden

Kinder mit einer Lese- und Rechtschreibstörung brauchen aufwendige individuelle Förderung. Schon zu normalen Zeiten hapert es an ausreichend Förderstunden und Lerntherapeuten im Unterricht. Unter Corona-Bedingungen verschärft sich die Situation noch weiter.

Von Katja Hanke | 30.09.2020
Maskenpflicht in der Schule
Bei einer Legasthenie arbeitet das Gehirn in bestimmten Teilbereichen anders, 30 Prozent dieser Kinder haben gleichzeitig auch eine Rechenstörung, eine Dyskalkulie. (imago / MedienServiceMüller)
Der 16-jährige Quint ist Legastheniker. Buchstaben und ihre Laute sind ihm ein Rätsel. In dem Würfelspiel, das er gerade mit seiner Lerntherapeutin spielt, geht es um Wörter mit doppelten Konsonanten. "Muss ich buchstabieren? Nee, ich muss sagen, ob es ein langer oder ein kurzer Vokal ist. Es ist ein …"

Quint und seine Lerntherapeutin Ilona Raake sitzen getrennt durch eine Plexiglas-Scheibe an einem Tisch in einem hellen Ladenbüro in Berlin. Quint hat eine Karte mit einem Bagger gezogen.
Raake: "Um welchen Vokal geht es denn?
Quint: "Da geht es um das A."
Raake: "Lang oder kurz? Versuch mal.
Quint: "Baaaager oder Bagger. Also kurz. Also kommt da ein Doppel-G hin wahrscheinlich." Raake: "Genau."
Ein Grundschüler nimmt bei den Hausaufgaben im Fach Mathematik seine Finger zur Hilfe.
Neue Fördermethoden bei Lese-, Rechtschreib-, Rechenschwäche
Neueste Forschungen deuten darauf hin, dass Legasthenie und Rechenschwäche auf einer klinischen Störung im Gehirn beruhen. Experten setzen vor allem auf Frühförderung.
Lerntherapeutin: Kinder mit Legasthenie brauchen zig Wiederholungen
Bis vor einem Jahr konnte Quint nicht hören, ob ein Vokal lang oder kurz ist – wie die meisten Kinder mit einer Lese- und Rechtschreibstörung. Gelernt habe er das erst in der Lerntherapie, sagt er, nicht in der Schule.
"Da wurde halt nur einmal angerissen, kurzer Vokal, langer Vokal und ich habe es nicht richtig verstanden, weil durch meine LRS nehme ich das nicht so schnell auf wie alle anderen. Deswegen muss ich das sehr oft wiederholen. Und das machen wir hier."
Lerntherapeutin Ilona Raake erklärt, wie: "Wir haben das geübt über das Ausprobieren, also versuch mal Baaaaager und Bagggger. Wir haben das mit Bewegungen gemacht und du hast lange diese Übungen gemacht, in denen du Silben unterteilt hast. Das ist eigentlich ein Unterrichtsstoff aus der zweiten Klasse. Kinder mit LRS brauchen zweihundert Mal mehr Wiederholungen und das findet meist in der Schule nicht statt."
Eine Schülerin einer Frankfurter Grundschule schreibt die neue und alte Schreibweisen für das Wort "Majonäse" an eine Tafel (Foto vom 21.07.2005). Die unstrittigen Teile der Rechtschreibreform werden von 14 der 16 Bundesländer wie geplant am 1. August 2005 in Schulen und Behörden verbindlich eingeführt. Damit sind Bayern und Nordrhein-Westfalen die einzigen Bundesländer, die die Verbindlichkeit der 1998 eingeführten Reform verschieben und an der bisherigen Übergangsregelung festhalten. Foto: Frank Rumpenhorst +++(c) dpa - Report+++ | Verwendung weltweit
Rechtschreibreform - Waffenruhe im Wörterkrieg
Die neue Rechtschreibung gilt nun seit August 2006. Ein jahrelanger Kulturkampf ging der Einführung voraus, sogar das Bundesverfassungsgericht musste sich damit beschäftigen. Doch: Die Regeln gelten nicht überall.
Bundesverband: Glückssache, ob Schule Förderung anbiete oder nicht
Kinder mit Legasthenie brauchen nicht nur mehr Wiederholungen, sie brauchen ganz andere Lernmethoden, um besser Lesen und Schreiben zu lernen. Förderungsstunden mit diesen Methoden gebe es aber nur an sehr wenigen Schulen, sagt Annette Höinghaus vom Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie. "Man kann sagen, viele Lehrkräfte wissen immer noch zu wenig über die Legasthenie und die Dyskalkulie. Natürlich gibt es auch Schulen, die sich damit auskennen, aber das sind immer noch Einzelfälle. Für ein Kind mit einer Legasthenie oder Dyskalkulie ist es also Glückssache, ob es zufällig so eine Schule besucht."
Bundesverband: Home-Schooling verschärfe Situation
Schon vor der Corona-Pandemie war es für diese Kinder schwer, in der Schule mitzukommen. In den Monaten des Home-Schoolings seien noch größere Lücken entstanden, so Höinghaus.
"Insbesondere bei Leseschwierigkeiten konnten Kinder sich die Aufgaben nicht eigenständig erarbeiten und ihnen fehlt nun der Lehrstoff von einigen Monaten. Also, jetzt bereits zu Schulbeginn zeigt sich auch, dass die Kinder mit großen Defiziten jetzt in die nächste Klasse gekommen sind und damit haben sich auch die Bildungschancen für diese Kinder stark verschlechtert und sie brauchen dringend eine gezielte Förderung."
Aus einer aktuellen Befragung von 600 Eltern weiß sie, dass momentan nur 4,5 Prozent der Kinder in der Schule Förderstunden bekommen. Schon Ende Mai hat der Verband mehrere Ministerien angeschrieben und um Hilfe gebeten, so Höinghaus.
"Wir haben ein Nothilfepaket gefordert, mit dem zum Beispiel gut qualifizierte Lerntherapeuten in die schulische Förderung eingebunden werden oder auch außerschulische Lerntherapien für Kinder mit Legasthenie und Dyskalkulie finanziert werden sollen. Schon vor Corona konnten die Lehrkräfte die schulische Förderung ja gar nicht ausreichend leisten, weil auch den Schulen fachkompetente Förderkräfte fehlen. Uns geht es dabei also nicht um eine normale Nachhilfe, sondern um gezielte fachkompetente individuelle Förderung. Man braucht nämlich ganz spezielle Förderansätze, damit den Kindern wirklich geholfen wird, damit sie in der Schule mitkommen."
Es brauche den Willen der Politik
Die Reaktion war enttäuschend, sagt sie. Das Bildungsministerium verwies an das Familienministerium. Dort hieß es auf Nachfrage jetzt:
"Grundsätzlich ist die Behandlung einer Teilleistungsschwäche wie der Legasthenie oder der Dyskalkulie zunächst Aufgabe der Schule. Zuständig für die Anfrage ist das BMBF." Also das Bildungsministerium. Fakt ist aber: In den Schulen findet die notwendige Förderung nur selten statt. Lehrkräfte können sie in der Regel nicht leisten. Die meisten seien dafür auch gar nicht ausgebildet, sagt Annette Höinghaus.
"Dann, denken wir, sollten gut qualifizierte Lerntherapeuten in die schulische Förderung eingebunden werden und diese dort auch durchführen. So, die Lerntherapeuten, die heute im Schwerpunkt außerschulisch arbeiten, könnten ja am Vormittag Ressourcen bereitstellen und einige Schulen haben damit sehr gute Erfahrungen gemacht."
Allerdings bräuchte das den Willen der Politik und die finanziellen Mittel. Auch Lerntherapeutin Ilona Raake aus Berlin findet das eine gute Lösung. Sie arbeitet schon regelmäßig an Schulen – allerdings nur mit Kindern, denen das Jugendamt eine Lerntherapie finanziert.
"Fast alle Lehrerinnen und Lehrer, mit denen ich zusammenarbeite, sind sehr kooperativ und wollen Kinder unterstützen, haben da aber mitunter 28 bis 33 Kinder, von denen jedes seine eigenen Spezialitäten hat und freuen sich, wenn sie Kontakt zu Experten für bestimmte Themen haben."