Mittwoch, 24. April 2024

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Lesetipps eines vermeintlichen Genies
Ab zum Augenarzt, Herr Steingart!

Medienunternehmer Gabor Steingart rief diese Woche dazu auf, Abos bei "SZ", "Spiegel" und "FAZ" zu kündigen. Für Arno Orzessek ein Grund nachzuhaken: Denn was Steingart anderen vorwerfe, habe er selbst schon verbockt.

Von Arno Orzessek | 12.02.2020
Der Autor und Journalist Gabor Steingart zu Gast in der ARD Talkshow Maischberger am 20.06.2018 in Köln.
Gabor Steingart war Chefredakteur des "Handelsblatt" und gründete später sein eigenes Medienunternehmen Media Pioneer (picture alliance/Horst Galuschka/dpa)
Ein publizistisches Genie erkennt man in der Regel schon in jungen Jahren. Bestes Beispiel: Gabor Steingart. Bereits seine Abitur-Arbeit – "Widerspruch unerwünscht. Beobachtungen aus 111 Jahren Fuldaer Zeitung" – wurde 1984 als knapp 200-seitiges Buch veröffentlicht. Und noch heute wird das medienkritische Meisterwerk, auch wenn es den Dom St. Salvator als Wahrzeichen Fuldas nicht ganz verdrängen konnte, im Netz für stolze 49 Euro gehandelt. Vergleichen Sie das mal mit dem Schicksal Ihres eigenen Geschreibsels aus Schulzeiten. Merken Sie da was?
Steingart als Mahner und Tröster Deutschlands
Steingart könnte also wie einst Orson Welles behaupten: "Ich begann ganz oben." Nur dass es mit Welles nach dem Super-Film "Citizen Kane" eher bergab ging, während Steingart Chef des "Spiegel"-Hauptstadtbüros und Chefredakteur sowie Mitherausgeber des "Handelsblatt" wurde. Außerdem schrieb er von "Deutschland – Abstieg eines Superstars" bis "Kopf hoch, Deutschland!" unvergessene Mahn- und Trost-Bücher, ohne die unser betreuungsbedürftiges Land wohl längst aus der Spur geraten wäre.
Arno Orzessek. Seit 1966 Arbeiter- und Bauernsohn, geboren in Osnabrück. Studierte in Köln Philosophie und anderes. Dank "unverlangt eingesandt": SZ- und DLF-Autor; auch: zwei Romane. Lebt seit 2000 rundfunktreu in Berlin. Angesichts der Unordnung der Dinge thematisch unspezialisierter Stoffwechsel-Spezialist. Welt-Erfahrung per Motor- und Rennrad, plus Lektüre. Radio-Ideal: Geistvolles in sinnlicher Sprache; Ziel: Gedankenübertragung; Methode: Arbeit am Text; Verfassung: der Nächste bitte!
Zugegeben, als Steingart vor zwei Jahren beim "Handelsblatt" rausflog, unkte die "FAZ" "Am Boden aufgeschlagen" und erläuterte betroffen "Gabor Steingarts Abstieg". Doch was ein publizistisches Genie ist, kommt wieder hoch. Steingart wurde freier Medienunternehmer, an dessen GmbH der bekannte Verlag für Freigeister Axel Springer übrigens mit über 30 Prozent beteiligt ist.
Ein Leuchtturm im Nebel der Publizistik
Egal. Ein Leuchtturm im Nebel der hiesigen Publizistik ist jedenfalls Steingarts täglicher Podcast mit angeschlossenem Newsletter namens "Morning Briefing". Da erfährt jedermann kostenlos, was zu tun und zu lassen und vom Lauf der Welt zu halten ist.
Und nun rät Steingart also: Abos kündigen! Und zwar für "FAZ", "SZ", "Spiegel" und was sich sonst noch seriöse Presse nennt. Denn, an der genialen Begründung erkennt man das Genie: Die erwähnten Blätter haben prognostiziert, dass Donald Trump die US-Wahlen 2016 verliert, und/oder Martin Schulz als Retter der SPD gefeiert und/oder über AKK's Aufstieg zur CDU-Chefin "Großes" gesagt.
Jede Zeitung ist das Medium vieler Meinungen
Zur Verteidigung der attackierten Presse ließe sich vorsichtig vorbringen: Die Gabe der Unfehlbarkeit ist selbst unter Journalisten selten, AKK wurde gar nicht laut bejubelt und es gab zu allen inkriminierten Punkten auch Gegenstimmen. Denn, Grundkurs Publizistik, 'ne ordentliche Zeitung ist keine Meinung, sondern das Medium vieler Meinungen. Wer das unterschlägt könnte auch gleich "Lügenpresse" wettern. Aber niemand will Sie hier in die falsche Ecke drängen, lieber Gabor.
Wir müssen jedoch festhalten, was Sie selbst im Morning Briefing nach der dritten TV-Debatte vor besagten US-Wahlen 2016 über Donald Trump geschrieben haben. Der ORF-Moderator Armin Wolff hat den Wortlaut dankenswerterweise gestern getwittert: "Trump war ein Kandidat mit zunächst hohem Energiegehalt, dem wir heute Nacht bei der Verpuffung zuschauen konnten."
Offensive Selbstbeschädigung?
Gabor, Gabor, hoffentlich bleiben diese Zeilen unter uns! Sonst würde das Publikum doch glatt bei der Verpuffung Ihres publizistischen Genies zuschauen können. Armin Wolf twitterte anlässlich Ihres Kündigungsaufrufs nämlich schon: "Klingt nach eher offensiver Selbstbeschädigung."
Wir machen uns Sorgen! Immerhin wollen Sie demnächst mit dem innovativen Redaktionsschiff "Pioneer One" vor dem Berliner Regierungsviertel herumschippern. Und gewiss hatte Angela Merkel längst geplant, den besten Staatskurs direkt an Bord mit Käpt'n Steingart zu bekakeln.... Wo Sie doch so ein Alles-Checker sind. Und keiner dieser PR-geilen Windmacher.
"Den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?"
Nach Ihrem leider irgendwie komplett hirnverbrannten Kündigungsappell aber fürchten wir, Pfarrerstochter Merkel wird Ihnen per Matthäus 7,3 die Leviten lesen: "Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?"
Und deshalb unser Ratschlag: Sofort ab zum Augenarzt, Gabor Steingart!