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Seit 1959 wacht er über die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention. Immer wieder sind seine Richter Schrittmacher für Menschenrechte. Doch die Zahl der Kritiker an den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wächst - auch in Deutschland.

Von Gudula Geuther | 06.06.2012
    Zuschauer versammeln sich auf der großen Freitreppe vor dem futuristischen Gerichtsgebäude an der Ill, zwei gigantische Waagschalen, die metallisch in der Sonne glänzen, dazwischen die Licht-durchflutete gläserne Eingangshalle. Justitias Waage, eingebettet in symbolische Transparenz.

    Auf die Zuschauergruppen, russische und serbische Juristen, belgische Soldaten, Studenten aus Deutschland und Georgien wirkt die positive Botschaft: Gelöst und geduldig warten sie auf den Einlass. Und auf eine eher seltene Gelegenheit, das Gericht in Aktion zu sehen.

    Morgen wird der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zwei Urteile verkünden. Wieder einmal geht es um die Sicherungsverwahrung von gefährlichen Straftätern in Deutschland. Um die Frage, ob die Sicherungsverwahrung im Nachhinein angeordnet werden durfte. Aber es wird keine Klingel die Zuhörer ermahnen, aufzustehen. Kein Gerichtsdiener den Einzug der Richter ankündigen. Wie auch bei den meisten Verfassungsgerichten in den Ländern Europas ist Öffentlichkeit eher die Ausnahme in Straßburg. Verkündet wird per Post. Und möglicherweise werden die Reaktionen auf das Urteil dann nicht mehr ganz so wohlwollend sein.

    In Deutschland galt Kritik am Menschenrechtsgerichtshof lange als ein Tabu. Inzwischen hat sich das Blatt gewendet. Und das nicht erst seit den Entscheidungen zur Sicherungsverwahrung. Als aber in deren Folge potenziell gefährliche Männer entlassen wurden, als die Polizei etwa in Freiburg die Entlassenen aufwendig überwachte, war das mediale Echo erstmals laut hörbar. Die Empörung überwog. Auch der stellvertretende Unions-Fraktionsvorsitzende Günther Krings befand:

    "Wir können, um es auf den Punkt zu bringen, wir können von einem Polizisten in Freiburg nicht erwarten, dass er alleine die Schutzlücken wieder stopft, die ein Richter in Straßburg aufgerissen hat."

    Das ist geradezu vornehm zurückhaltend verglichen mit dem Ton, den Politiker in Großbritannien pflegen, immer wieder. Wenn die Anti-Terror-Maßnahmen der Regierung kritisiert werden, wenn ein Terrorverdächtiger nicht ausgeliefert werden darf. Oder – ein heikler Fall -, wenn der Gerichtshof verlangt, dass auch Strafgefangene wählen dürfen. Das Urteil ist sieben Jahre alt, bisher nicht umgesetzt und dabei scheint es auch zu bleiben - nach dem Wortwechsel zwischen dem nordirischen Unterhausabgeordneten Nigel Dodds und Premierminister David Cameron erst vor wenigen Tagen.

    "Wird der Premierminister zusichern, dass er sich dem Diktat des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs in Bezug auf das Gefangenen-Wahlrecht nicht unterwerfen wird; dass er den Beschluss, der in diesem Haus mit überwältigender Mehrheit verabschiedet wurde, verteidigen wird und dass er die Souveränität dieses Hauses und des britischen Volkes verteidigen wird?"

    David Cameron: "Nun, die kurze Antwort ist: Ja. Ich habe immer daran geglaubt, dass wer ins Gefängnis geschickt wird, bestimmte Rechte verliert. Und eines dieser Rechte ist das Wahlrecht. Und ganz besonders glaube ich daran, dass darüber das Parlament entscheiden sollte, nicht ein ausländisches Gericht. Das Parlament hat entschieden und ich stimme vollkommen mit ihm überein."

    Tatsächlich hat der Menschrechts-Gerichtshof seine Entscheidung in einem italienischen Fall inzwischen relativiert. Auf einem anderen Blatt aber steht der Tonfall der Kritik: Die Souveränität des Parlaments und des britischen Volkes gegen ein ausländisches Gericht – Das geht an die Grundlagen der Legitimation des Gerichtshofs. Das geht ans Eingemachte.

    Szenenwechsel. Entlang grauen Beton-Gängen, unterhalb des Verhandlungssaales in Straßburg geht es in einen hallenartigen Raum, geteilt von Regalen, voll mit Aktenmappen, grün für dieses Jahr, orange für das vergangene. In den Akten der Poststelle findet sich die ganze Breite dessen, was der Gerichtshof tut. Dort wird verwaltet, auch das was kaum zu verwalten ist.

    "Es gibt ein Codierungssystem, aus dem hervorgeht, in welchem Stadium sich eine Beschwerde befindet, und da haben wir auch zum Beispiel die Notfallregelung, wenn es um Folterfälle oder Abschiebungsfälle geht. Und diese Codierung, die kennen die Beamten hier natürlich und können dementsprechend reagieren."

    Mirjam Lippert, Assistentin in der Poststelle, zeigt auf Bögen von Strichcode-Aufklebern. Eine Codierung für Folter und Abschiebung, das klingt merkwürdig, ist aber angezeigt, - angesichts der Menge an Briefen, Emails, Faxen, Beschwerden, allesamt rügen sie Menschenrechtsverletzungen.

    "Wir bekommen pro Tag um die 1500 Briefe in 41 Sprachen, die hier geöffnet und gestempelt werden und dann verteilt werden in die diversen Rechtsabteilungen."

    Der Gerichtshof stößt damit an seine Grenzen – das ist nichts völlig Neues. Seit 1959 wacht er über die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention. Mit immer mehr rechtlichen Handlungsmöglichkeiten, mit immer festeren Strukturen. Und nicht zuletzt mit immer mehr Mitgliedern der Menschenrechtskonvention, die sich zur Anerkennung der Rechtsprechung des Gerichts verpflichtet haben. Mit Ausnahme Weißrusslands und des Vatikans sind es alle Staaten Europas, in einer sehr weiten Interpretation, denn auch die Kaukasusrepubliken Armenien, Aserbeidschan und Georgien sind dabei. Der Geist und das Anliegen des Gerichtshofs seien stets gleich geblieben, sagt Angelika Nußberger, Professorin für Völkerrecht, Expertin für osteuropäisches Recht und seit eineinhalb Jahren die deutsche Richterin in Straßburg.

    "Aber es hat sich die Praxis, der Alltag des Gerichts geändert.
    Wir sind so sehr überflutet von Fällen, dass wir uns sehr darum kümmern müssen, die Fälle in einem solchen kurzen Zeitraum abzuarbeiten, dass die Gerechtigkeit noch erreicht wird, die gewünscht wird. Also wenn unsere Fälle zu lange bei uns anhängig sind, dann können wir den konkreten Fällen meistens nicht mehr adäquat helfen."

    Die konkreten Fälle, das kann Vieles sein. Die Europäische Menschenrechtskonvention, auf deren Grundlage der Gerichtshof urteilt, schützt neben Leib und Leben Eigentum und Familienleben, Freiheit und Sicherheit, Meinungsfreiheit und vieles mehr. Gerügt werden kann nicht alles, was irgendwie mit diesen Rechten zu tun hat, sondern spezifische Menschenrechtsverletzungen. Bei den Zuschriften aus den verschiedenen Mitgliedsländern sind der Poststellenmitarbeiterin Mirjam Lippert vor allem quantitative Unterschiede aufgefallen.

    "Russland, die Türkei, Polen, die Ukraine und auch Deutschland gehören mit zu den Ländern, die die meisten Beschwerden schicken. Das sind Auffälligkeiten, von den Zahlen her ganz einfach."

    Da geht es um Post-Eingänge, nicht um Verurteilungen. Aber alle Länder, egal ob etablierte Rechtsstaaten oder nicht, alle Beschwerden, egal aus welchem Land, werden gleich behandelt, betont die Richterin Angelika Nußberger. Darauf gründe sich gerade die Autorität des Gerichtshofes. Auch wenn es in den tatsächlichen Voraussetzungen Unterschiede gebe.

    "Wir stellen halt systematische Rechtsverletzungen fest, wenn zum Beispiel die Justiz dysfunktional ist. Wenn zum Beispiel grundsätzlich die Prozesse nicht in einer bestimmten Zeit zu Ende gebracht werden, oder, was ein Problem in vielen osteuropäischen Staaten ist, wenn rechtskräftige Entscheidungen nicht vollstreckt werden. Solche systemischen Probleme haben andere Staaten nicht, entsprechend kommen die Beschwerden nicht zu uns. Oder auch wenn die Situation in den Gefängnissen grundsätzlich so ist, dass die einzelnen Insassen nicht ausreichend Platz haben oder gefährdet sind, sich mit Tuberkulose anzustecken, dann kommen derartige Fälle natürlich nur aus den Ländern, die mit diesen Problemen konfrontiert sind."

    Die Türkei führt die Statistik an bei Verstößen gegen die Grundrechte auf Freiheit und Sicherheit und auf Schutz des Eigentums. Russland verstieß nach den Erkenntnissen des Gerichts besonders oft gegen das Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung und die Verpflichtung, effektive Rechtsmittel bereitzustellen. Solche Länder-Vergleiche hinken. Der Bekanntheitsgrad des Gerichts in den Ländern ist unterschiedlich. Vor allem aber ist es ungerecht, die Zahl der Verurteilungen in der Summe miteinander zu vergleichen: Die Türkei zum Beispiel erkennt das Gericht seit 1959 an, Russland seit 1997. Auf der anderen Seite hat Russland besonders viele Einwohner und damit potenzielle Fälle. Aber auch aus Staaten wie Russland kommen zum Beispiel Beschwerden von Eltern, die glauben, in Kindschaftsfragen werde gegen ihr Recht auf Familienleben verstoßen.

    Darüber beschweren sich auch deutsche Eltern. Zuweilen mit Erfolg. Was den Kontakt des leiblichen Vaters zu seinem nicht ehelichen Kind betrifft zum Beispiel. Hier ist deutsches Recht maßgeblich von Straßburg geprägt. Und zwar nach einer Methode, die zeigt, sagt die deutsche Richterin, dass die Konvention lebt. Durch den Vergleich, was wo wie geregelt ist, versuchen die Richter herauszufinden, ob sich ein Konsens in Europa gebildet hat. Zum Beispiel der Fall Petrovich gegen Österreich in den Neunziger Jahren:

    Angelika Nußberger: "Da ging es um Erziehungsurlaub, und der wurde nur Müttern gewährt. Und zu dem Zeitpunkt argumentierte der Gerichtshof: Kaum ein Staat würde Erziehungsurlaub überhaupt finanzieren, und dann sei es eben ein erster Schritt, ihn Müttern zu garantieren. Und man müsse Österreich nicht verurteilen, weil es nicht sofort für beide Geschlechter diese Möglichkeit eingeführt hat. Inzwischen ist festgestellt worden, dass eigentlich alle Staaten des Europarates Erziehungsurlaub gewähren und ihn auch sowohl Vätern als auch Müttern gewähren. Und dann ist es eben fragwürdig, ob einzelne Staaten noch, wie sie es in den 90er-Jahren konnten, als es innovativ war, auch jetzt noch abweichen können."

    Allerdings beschränkt sich Straßburger Rechtsprechung nicht auf die Feststellung solcher mehr oder weniger gemeinsamer Nenner. Immer wieder sind die Richter Schrittmacher für Menschenrechte. Wenn sie Mindeststandards für Europa festlegen. Denn was heißt Mindeststandards?

    Angelika Nußberger: "Beispielsweise im Umgang mit unehelichen Kindern: In den 50er-Jahren war es völlig normal, uneheliche Kinder ungleich zu behandeln. Heutzutage ist es als ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot erachtet, und das ist absolut selbstverständlich. Und hier in diesem Bereich denke ich hatte der Gerichtshof eine sehr gute Rolle als gesellschaftlicher Schrittmacher, weil er eben ein Diskriminierungsproblem – in Anführungszeichen – entdeckt oder zumindest aufgegriffen hat. Und da ist die Rolle sicherlich, auch eine europäische Rechtsidentität zu schaffen."

    Angelika Nußberger verwahrt sich in einem ihrer seltenen Hörfunk-Interviews als Straßburger Richterin gegen ein in Deutschland verbreitetes Vorurteil: Etablierte Rechtsstaaten müssten eben hinnehmen, dass sie hin und wieder verurteilt werden, damit die anderen, rechtsstaatlich nicht so entwickelten Staaten die Urteile gegen sie akzeptieren. Die eigene Verurteilung als Preis des Rechtsschutzes anderswo sozusagen.

    "Ich denke, dass Fälle wie beispielsweise die Sicherungsverwahrung in Deutschland ein sehr grundsätzliches Problem des Rechtsstaates aufgreifen, wenn jemand nach dem Ablauf der Strafhaft festgehalten wird, weil er noch gefährlich sei – wenn man's mal ganz pauschal sagt. Und das ist nicht ein Versuch, einen etablierten Rechtsstaat in einer bestimmten Weise nun auch vorzuführen, sondern das ist als ein gravierendes Problem erkannt worden."

    Das sehen in Deutschland manche anders. Aber auch in anderen Ländern wächst die Kritik. Nicht nur in Großbritannien, auch in Russland. Was wiederum Ausdruck des Erfolgs des Straßburger Gerichts ist, glaubt Angelika Nußberger, Folge der immer größeren Bekanntheit in den Mitgliedstaaten, was dazu führe, dass mehr Fälle in Straßburg landen.

    "Ein Gerichtshof, der auf internationaler Ebene Fälle löst und Staaten verurteilt wird immer kritisiert werden, das ist unvermeidbar. Und das war eigentlich auch schon immer. Und natürlich – die Anzahl der Urteile, die es jetzt gibt – mehr Urteile, mehr Urteile, die als kritikwürdig empfunden werden, das ist sicherlich so."

    Die britische Regierung wollte es nicht allein bei der Kritik belassen, sondern hat sich zuletzt für eine Reform stark gemacht, die am Gerichtshof als bedrohlich empfunden wurde. Großbritannien, zweifelsohne einer der ältesten Rechtsstaaten der Welt, wollte radikale Änderungen. Zum Beispiel Rechts-Gutachten, zu Fällen an nationalen Gerichten, womit die Möglichkeit einzelner in Straßburg zu klagen, blockiert wäre. Patrick Titiun, der Kanzleichef des britischen Gerichtspräsidenten in Straßburg Sir Nicolas Bratza:

    "Ein Fall, der schon auf nationaler Ebene untersucht wurde, sollte nicht noch einmal vor Gerichtshof untersucht werden. Das war unserer Ansicht nach zu restriktiv."

    Patrick Titiun ist zufrieden, dass die britische Regierung mit diesem Punkt nicht durchkam auf der Konferenz zur Reform des Gerichtshofs im südenglischen Brighton Ende April. Dieses Ansinnen war etwas,

    "…das wir gar nicht mochten, gar nicht. Weil wir glauben, dass schon jetzt sehr viel unzulässig ist, mit 90 bis 95 Prozent. Wir müssen da keine neuen Kriterien schaffen. Aber das ist ja dann auch nicht in die Brightoner Erklärung aufgenommen worden."

    Ohne direkte Beteiligung der Straßburger Richter selbst, denn sie saßen in Brighton nicht mit am Verhandlungstisch. Vor allem Deutschland und Österreich, lobt Patrick Titiun, hätten sich sehr für den Gerichtshof eingesetzt. Angelika Nußbergers erleichtertes Fazit nach der Diskussion:

    "Man muss eine Institution auch immer wieder hinterfragen, wie viel Macht sie haben darf oder auch nicht haben darf, ob sie sich zurückbesinnen muss auf eine Kernaufgabe, wenn sie eben aufgrund der Vielzahl von Falleingängen nicht mehr alles bewältigen kann. Also diese Diskussion hat grundsätzlich nichts Negatives. Wenn sie natürlich umschlägt in einen Versuch, dem Gerichtshof die Möglichkeit zu nehmen, in individuellen Beschwerdefällen adäquat zu reagieren, dann ist der Zeitpunkt gekommen, wo man auch sehr deutlich Gegenposition beziehen muss. Und das hat ja auch stattgefunden."

    Auch Richter in Straßburg und Juristen, die den Gerichtshof unterstützen, haben Verständnis dafür, dass die Rechtsprechung unter Beobachtung steht. Es geht eben nicht einfach darum, Rechtssicherheit und damit überhaupt Regeln zu schaffen. So wie es in den Nationalstaaten der Fall ist. Es geht um spezifische Verletzungen von Menschenrechten. Unter diesem Blickwinkel kann auch Angelika Nußberger manche Kritik am Gerichtshof verstehen:

    "Die Frage ist ja auch oft, wie weit er ganz neue relevante Probleme entscheiden kann, die eigentlich ihrer Natur nach in den verschiedenen Gesellschaften unterschiedlich entschieden werden können. Es muss ja in Europa nicht alles einheitlich sein. Und das ist eine ganz grundsätzliche Frage, die sich der Gerichtshof bei fast jeder Grundsatzentscheidung stellt und die unter dem Schlagwort des Ermessensspielraums diskutiert wird: Wo haben die Staaten ein Ermessen' Wo können sie unterschiedlich Probleme lösen? Und wo sollten sie eben doch Grundstandards einhalten?"

    Ermessensspielraum, im Gerichtshofs-Jargon: margin of appreciation. Eine Spielart dessen, was bei anderen Gerichten, etwa beim deutschen Bundesverfassungsgericht, als richterliche Zurückhaltung diskutiert und eingefordert wird. Theoretisch definierbar ist eine rote Linie, die sich daraus ergeben würde, kaum.

    Dafür gilt der Ermessensspielraum Kritikern immer dann als Kampfargument, wenn sie glauben, der Gerichtshof habe es übertrieben, zusammen mit dem sogenannten Prinzip der Subsidiarität, wonach Entscheidungen möglichst von nationalen Gerichten getroffen werden sollten. Beobachter meinen, festgestellt zu haben, dass sich der Gerichtshof gerade in den vergangenen Monaten besonders zurückgehalten habe, im Vorgriff auf die umstrittenen Reformen. Angelika Nußberger bestreitet das. So oder so – dass die Richter den Ermessensspielraum ganz besonders zu beachten haben, ebenso wie das Subsidiaritätsprinzip, das steht nun nur in der wenig bindenden Präambel und wurde dem Gerichtshof nicht in als formale Regel vorgeschrieben. So wie auch manch anderes abgewendet wurde. Doch die Reformdiskussionen sind nicht etwa mit der letzten Konferenz vorbei. Vielleicht, glaubt Nußberger, habe es davon in letzter Zeit ein bisschen viel in allzu kurzer Zeit gegeben.

    "Aber dass eine Reform des Gerichtshofs notwendig ist, um ihn für seine Aufgaben noch besser aufzustellen, darin sind sich wohl alle einig. Aber es war eben auch nie vorherzusehen, dass der Gerichtshof mit so großer Liebe – in Anführungszeichen – von den Bürgern angenommen werden würde und dass wir so oft die Instanz sein würden, auf die die Bürger ihre letzte Hoffnung setzen."

    Dennoch bleibt das Problem der Überlastung. Patrick Titiun stellt erfreut fest, dass im vergangenen halben Jahr die Zahl der Verfahren zurückgegangen ist. Er führt das zum einen darauf zurück, dass Unzulässiges schneller aussortiert wird. Und darauf, dass mehr Juristen aus den Haupt-Beschwerdeländern am Gerichtshof arbeiten.

    "Natürlich können Sie sagen, dass 148.000 Fälle immer noch sehr viele sind. Aber ich gehöre zu denen, die statt des halb leeren lieber das halb volle Glas sehen. Ich glaube, wir müssen optimistisch sein und sehen, dass 12.000 Fälle weniger in sechs Monaten etwas Positives sind."

    Für Angelika Nußberger zeigt dieser Trend noch etwas anderes:

    "Ich denke, dass ein ganz wesentlicher Punkt das Bewusstsein der Menschen ist: Da gibt es noch eine Institution, die uns kontrollieren könnte. Also dieses Gefühl, der einzelne Staat wäre eine gewissermaßen geschlossene Kiste und alles was darin passiert, würde überhaupt nicht kontrolliert, und auch wenn man willkürlich handelt, dann handelt man eben willkürlich, Hauptsache man handelt gemeinsam willkürlich – dieses Gefühl, glaube ich, kann nicht mehr funktionieren in den einzelnen Staaten."

    Auch nicht in einzelnen russischen Gefängnissen zum Beispiel, in denen immer wieder Verstöße festgestellt würden. Und deshalb weitere Klagen abzusehen sind.

    "Also wir sehen ja auch anhand der Akten, dass etwas gemacht worden ist. Natürlich sind das sehr langfristige Prozesse und es ist auch zu verstehen, dass man bei wirtschaftlich schwierigen Situationen nicht als Erstes neue Gefängnisse baut, sondern andere Prioritäten setzt. Aber wir haben Geduld und wir sagen eben immer wieder, dass etwas falsch ist."

    Aber für ganz wesentlich hält sie auch die Entwicklung in den einzelnen Mitgliedstaaten in Bezug auf Gerichte und Rechtspflege. Wenn etwa in der Türkei jetzt im verfassungsgerichtlichen Verfahren eine Individualbeschwerde eingeführt worden ist, ein Instrument wie es in Deutschland der Verfassungsbeschwerde entspricht, wie es aber durchaus nicht in allen etablierten Rechtsstaaten existiert. Patrick Titiun, der Kanzleichef des Gerichtspräsidenten, setzt darauf, dass sich Gerichte und Rechtspflege in den einzelnen Mitgliedsstaaten weiter entwickeln. Auch weil er darauf hofft, dass damit gerade die Menschenrechtskonvention mehr Verbreitung findet. Wieder lobt er Deutschland, das den Gerichtshof so sehr unterstütze. Nicht nur finanziell.

    "Wenn Sie die Rechtsprechung gut erklären, heißt das, dass der nationale Richter sie gut anwenden wird. Wenn der Richter sie gut anwendet, kommen die Fälle nicht zu uns. Wenn Sie im Land in der Landessprache unsere Zulässigkeitskriterien erklären, werden die Fälle nicht kommen. Sie werden auf Ebene der Mitgliedstaaten entschieden. Es ist nicht Sache des Gerichtshofs, sich mit allem zu befassen. Es ist Sache des Gerichtshofs, sich mit den Fällen zu beschäftigen, die auf nationaler Ebene nicht behandelt werden."

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