Dienstag, 16. April 2024

Archiv


Letzter Auftritt des kleinen Tramp

Die Melone zu klein, die Hose zu groß, zerfetzte Schuhe und ein Spazierstöckchen: Charlie Chaplin in der Rolle des kleinen Tramp. 1936 verabschiedete sich der Regisseur und Schauspieler mit einem letzten großen Auftritt von seiner Leinwandfigur – im Film "Moderne Zeiten", der vor 70 Jahren in den USA anlief.

Von Nicole Maisch | 05.02.2006
    Wien an einem klaren Märztag Anfang 1931: Eine jubelnde Menschenmenge umkreist wie ein Wirbelsturm sein statisches Epizentrum, einen kleinen Mann. Der schaut, Stock und Hut fest an sich gepresst, nervös in eine Tonfilmkamera der österreichischen Wochenschau. Er soll sprechen. Misstrauisch mustert er das Mikrofon und wird erneut aufgefordert.

    Der umjubelte Mann, der in dieser historischen Aufnahme Deutsch spricht, ist Charlie Chaplin. Seine Kunst? die Pantomime. Angespannt ist er, weil bei diesem Besuch in Wien zum ersten Mal in seinem Leben Kamera und Mikrofon auf ihn gerichtet sind. Die Situation spiegelt Chaplins damalige Unsicherheit gegenüber dem sich etablierenden Tonfilm wider. Wie sollte er, dessen Kunst jenseits der Sprache liegt, mit diesem neuen Medium umgehen? Er entscheidet sich für Worte ohne Sinn:

    In dem Film "Moderne Zeiten" der am 5. Februar 1936 in die amerikanischen Kinos kam, verdingt sich der von Chaplin dargestellte Tramp unter anderem als singender Kellner. Die Stimme der populären Stummfilmfigur ist in dieser Szene ein erstes und letztes Mal auf der Leinwand zu hören.
    Mitte der 30er Jahre musste Chaplin befürchten, mit einem Stummfilm altmodisch zu wirken. Er wusste aber auch, dass der Zauber des Tramps im Tonfilm verfliegen würde und verzichtete deshalb auf Dialoge. Damit wurde "Moderne Zeiten" trotz verschiedener Tonelemente zu Chaplins letztem Stummfilm.

    Der Regisseur Chaplin verzichtet auf Dialoge, aber nicht auf das gesprochene Wort. In "Moderne Zeiten" kommt Sprache erst dann vor, wenn sie durch technische Apparate wie Radios gefiltert wird. So ist auch der Fabrikchef nur zu hören, wenn er mittels einer Orwellschen Überwachungsanlage wortgewaltig seinen stummen Untergebenen befiehlt:

    "Man! Section 5, more speed, 47!"

    Mittels Sprache stellt Chaplin in seinem Film Machtverhältnisse dar und kritisiert sie. Kritik, die der Regisseur beeindruckend in Szene setzt, wenn er den Tramp an einer Maschine arbeiten lässt, deren Fließbandtakt so schnell ist, dass der kleine Mann nur verlieren kann. Er wird aufgesogen und im Innersten des stählernen Molochs durch ein Räderwerk gepresst. In den Eingeweiden der Maschinerie irre geworden, wird der Tramp wieder ausgespuckt. Verrückt und befreit zugleich tanzt er nun dem harten Stakkato der Fließbandarbeit davon.

    Der Tramp und seine Gefährtin sind "die beiden einzigen lebendigen Geister in einer Welt der Automaten", schreibt Chaplin in seinen Produktionsnotizen. Für "Moderne Zeiten" hat sich der Regisseur diese Welt genau angesehen, denn erstmals zeichnet Chaplin ein explizit sozialkritisches Bild seiner Wirklichkeit, das heißt für die USA der 30er Jahre ein Bild der großen Depression. Die tragikomischen Momente entstehen, wenn der weltfremde Tramp mit dieser Realität konfrontiert wird, mit Technisierung, Massenarbeitslosigkeit und Armut.

    Chaplin ist komisch und kritisch zugleich, wenn er den Tramp, als ihm eine rote Fahne vor die Füße fällt, in wenigen Sekunden zum Anführer einer Demonstration werden lässt.

    Das FBI allerdings hielt nichts von Chaplins humorvoller Sozialkritik und sah im schwarzweißen Film nicht nur bei der Fahne rot. "Moderne Zeiten" galt als systemfeindlich und antikapitalistisch. Der Regisseur wurde unter Dauerbeobachtung gestellt, was 1952, auf dem Höhepunkt der McCarthy-Ära, dramatische Folgen hatte. Damals wurde Chaplin die Wiedereinreise in die USA derart erschwert, dass er es vorzog, sich in der Schweiz niederzulassen.