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Leutheusser-Schnarrenberger: Beschneidungsgesetz ist nicht durchgepeitscht worden

"Wir haben sehr intensiv diskutiert", betont Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) zum Gesetzentwurf zur religiösen Beschneidung, der heute in zweiter Lesung im Bundestag ist. Auch das Kindeswohl sei dabei berücksichtigt worden. Die Religionsausübung aller Religionen in Deutschland müsse aber frei und ohne Eingriff des Staates möglich sein.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger im Gespräch mit Jürgen Liminski | 12.12.2012
    Jürgen Liminski: Am Telefon begrüße ich die Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Guten Morgen, Frau Leutheusser-Schnarrenberger.

    Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Guten Morgen, Herr Liminski.

    Liminski: Frau Leutheusser-Schnarrenberger, es gibt zwei gegensätzliche Positionen, die in zwei Wortmeldungen Ausdruck finden. Ich darf Ihnen die kurzen O-Töne einmal vorspielen:

    O-Ton Heinz Hilgers: "Zunächst einmal ist es ja so, dass der Kinderschutzbund für das Recht auf körperliche Unversehrtheit eines jeden Kindes eintritt. Deswegen ist es ja so, dass zunächst auch Mutter und Vater im besten Interesse des Kindes handeln sollen."

    Liminski: Das war der Vorsitzende des Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers. Und der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dieter Graumann, sieht das so:

    O-Ton Dieter Graumann: "Das Urteil ist aus unserer Sicht besorgniserregend und sogar bestürzend, denn es ist ein extremer Eingriff in die Religionsfreiheit. Im Judentum ist die Beschneidung ganz elementar, sie wird seit Jahrtausenden praktiziert und sie wird auch in allen Ländern der Welt respektiert. Dass das nun gerade in Deutschland und nur in Deutschland anders werden soll, daran mag ich gar nicht glauben."

    Liminski: Die Koalition hat sich nun für die Position, wenn man so will, von Herrn Graumann entschieden. Halten Sie das für sachgerecht?

    Leutheusser-Schnarrenberger: Der Regierungsentwurf, der im Bundesministerium der Justiz, also in meinem Hause, erarbeitet wurde, stellt das klar, was in Deutschland immer galt. Und natürlich hat gerade die Überlegung, wie wir das Kindeswohl einbeziehen können, eine ganz große Rolle gespielt. Und von daher haben wir nicht den Gegensatz, dass wir etwas jetzt gegen die Anliegen von Müttern und Vätern machen. Wir wollen das gewährleisten, was in Deutschland immer möglich war für Muslime, für Juden. Und das passiert mit diesem Gesetzentwurf.

    Liminski: Nun steht da die Frage im Raum, ob man da nicht doch zu schnell dem Druck von diesen Gruppen nachgegeben hat, etwa dem Druck aus dem Zentralrat. Der Deutsch-Jude Wolffsohn bemerkt in einem Zeitungsartikel, ich zitiere: "Nicht von der Vorhaut hängt das Judentum ab. Die Halacha, das jüdische Religionsgesetz, ist eindeutig: Ein unbeschnittener Jude ist Jude, sofern er Sohn einer jüdischen Mutter ist. Und dass einige politisch-jüdische und rabbinische Repräsentanten den Bogen zum Holocaust schlugen oder mit Auswanderung drohten, war bezogen auf die bewährte bundesdeutsche Demokratiesubstanz und taktlos" – Zitat Ende von Wolffsohn. Frage also: Hat man hier nicht doch zu schnell dem Druck aus dem Zentralrat nachgegeben?

    Leutheusser-Schnarrenberger: Wir haben keinem Druck nachgegeben, sondern es war eine Situation in Deutschland mit dieser Einzelentscheidung eines Landgerichtes in Köln, die dazu geführt hat, dass es zu Strafverfahren gegen Ärzte oder Mohalin gekommen ist, die Beschneidungen vornehmen. Und deshalb haben wir als Bundesregierung, den Auftrag des Bundestages ausfüllend, nach der Sommerpause einen Gesetzentwurf vorgelegt, der genau das macht, was bisher auch schon galt, nämlich das Recht der Eltern zur Erziehung und aber auch die Verpflichtung, sich um ihr Kind zu kümmern und sein Wohl in Blick zu nehmen, ausdrücklich im Gesetz noch mal klarzustellen. Also wir sind keinerlei Druck gefolgt, aber wir haben auch die Überzeugung in der Bundesregierung, dass die Religionsausübung aller Religionen in Deutschland frei und ohne Eingriff des Staates möglich sein muss.

    Liminski: Stichwort Kindeswohl. Ich greife mal ein Bedenken aus der Wissenschaft auf. Der Düsseldorfer Professor für psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Matthias Franz, weist zusammen mit immerhin 700 Kollegen auf einige Folgen hin. Er sagt, die Entfernung der Vorhaut im Säuglings- und Kindesalter stelle ein mögliches Trauma dar und könne zu erheblichen körperlichen, sexuellen oder psychischen Komplikationen bis ins Erwachsenenalter hinein führen. Hätte man bei so schwerwiegenden Folgen nicht ausführlicher diskutieren müssen? Immerhin ist der Eingriff ja irreversibel.

    Leutheusser-Schnarrenberger: Wir haben sehr intensiv diskutiert. Hier ist auch nichts durchgepeitscht worden, sondern wir haben sehr, sehr viel Zeit uns genommen. Aber es war ja der Bundestag, der den ganz besonderen Zeitdruck eigentlich gegenüber der Regierung erzeugen wollte, indem er sie aufgefordert hat, innerhalb weniger Wochen hier mit einem Gesetzesvorschlag in den Bundestag zu gehen. Es hat viele Gespräche mit Fachleuten, mit Ärzten, mit Psychiatern, mit Psychologen gegeben und die Komplikationsrate, auch was Traumatisierung von Kindern angeht, liegt bei 0,01 Prozent weltweit. Wir haben aus vielerlei Gründen Beschneidung gerade auch in anderen Staaten, in den Vereinigten Staaten von Amerika. Und von daher ist gerade so, wie wir es vorschlagen, mit dem Anspruch, dass die Regeln der ärztlichen Kunst selbstverständlich der Maßstab sind, denke ich, hier alles getan, damit dieser Eingriff, der nicht rückgängig zu machen ist, der aber auch nicht in der Regel nachteilige Folgen hat, auch in Deutschland vorgenommen werden kann.

    Liminski: Darüber wird ja gerade gestritten. Es gab auch ein Hearing. Wurden bei diesem Hearing auch kritische Stimmen hinzugezogen, etwa von diesen Professoren Putzke, Merkel, Herzberger, die sich ja dazu öffentlich geäußert hatten – auch kritisch?

    Leutheusser-Schnarrenberger: Ja, natürlich! Der Herr Merkel war ja in vielen Anhörungen dabei. Er hat auch den Ethikrat mit seiner Position noch mal informiert. Und auf dieser Grundlage hat dann ja auch der Ethikrat sich für eine wirklich sachgerechte Regelung unter Berücksichtigung der ärztlichen Kunst ausgesprochen. Das haben wir alles aufgenommen und es gibt in der Ärzteschaft eben unterschiedliche Positionen. Aber zum Beispiel hat ja der Verband der Kinderärzte in den Vereinigten Staaten von Amerika ausdrücklich empfohlen, dass Beschneidung vorgenommen werden soll aus präventiven hygienischen Gründen. Also ich denke, wir haben hier wirklich auch die kritischen Stimmen nicht nur gehört, sondern haben dann auch eine sehr sachgerechte Abwägung vorgenommen.

    Liminski: Es geht hier um die Abwägung von Menschenrechtsgütern. Rechnen Sie damit, dass die Sache beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte landet?

    Leutheusser-Schnarrenberger: Das kann niemand ausschließen, wenn es die Möglichkeit gibt, einen Rechtsweg auch gegen ein Gesetz, wenn man sich betroffen fühlt, zu beschreiten. Ich bin aber absolut zuversichtlich, angesichts der weltweiten Rechtslage, die nicht Beschneidung verbietet – das ist die weltweite Rechtslage -, dass auch das, was wir jetzt hier sehr angemessen, auch sehr nachdenklich im Bundestag beraten, Bestand hat vorm Verfassungsgericht und vorm Europäischen Menschenrechtsgerichtshof.

    Liminski: Das Gesetz zur Beschneidung geht heute durch den Bundestag – das war Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Besten Dank für das Gespräch.

    Leutheusser-Schnarrenberger: Ich bedanke mich, Herr Liminski.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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