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Lew Kopelew
Aufbewahren für alle Zeit!

Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus dem Osten des Landes - sie waren die direkte Folge des Vormarsches der Roten Armee, damit natürlich auch ein Thema für russische Schriftsteller. Und gleich zwei der prominentesten von ihnen, nämlich Lew Kopelew und der spätere Literatur-Nobelpreisträger Aleksandr Solschenizyn waren als junge Sowjet-Offiziere beim Vormarsch durch Ostpreußen 1944/45 dabei.

Von Karla Günter-Hielscher | 24.01.2005
    In "Aufbewahren für alle Zeit", dieser zum Klassiker gewordenen Autobiographie Kopelews wird dieser Zeitabschnitt breit behandelt. Karla Günter-Hielscher hat sein Buch wiedergelesen und mit einer in Ostpreußen spielenden, autobiographisch gefärbten Erzählung Solschenizyns verglichen, die erst jetzt erschienen ist. Deren Titel: "Schwenkitten ’45".
    Als die Rote Armee im Januar 1945 in Ostpreußen die deutsche Grenze überschritt, war das der Anfang vom Ende des Zweiten Weltkriegs. Es gibt genügend Berichte über diese dramatischen Tage und Wochen im eisigen Kriegswinter: über das Grauen der Kämpfe, das Leid der falsch informierten und von den Nazibonzen im Stich gelassenen Zivilbevölkerung, das unendliche Elend der viel zu spät aufgebrochenen Flüchtlingstrecks.

    Nun ist es natürlich höchst aufschlussreich, diese Ereignisse auch aus der Perspektive der einmarschierenden Sowjetarmee zu betrachten. Deshalb weckt das kürzlich erschienene Buch des Nobelpreisträgers Alexander Solschenizyn "Schwenkitten ´45" mit zwei autobiographischen Kriegserzählungen, von denen eine in Ostpreußen spielt, große Neugier.

    Und man erinnert sich an Lew Kopelews schon 1976 publiziertes Buch "Aufbewahren für alle Zeit", in dem er seine Entwicklung vom überzeugten Kommunisten zum radikalen Kritiker des Sowjetsystems beschreibt, ein Weg, der in eben diesen Januartagen 1945 in Ostpreußen seinen Anfang nahm. Die bei uns bekanntesten und einflussreichsten russischen Dissidenten waren also beide in der Roten Armee beim Einmarsch in Ostpreußen dabei, und für beide begann hier ihr jahrelanger Leidensweg durch die Gefängnisse und Lager des GULAG.

    Bei der geistigen Auseinandersetzung mit der furchtbaren Geschichte dieses Krieges brauchen wir auch ihre Sicht. Denn - wie Heinrich Böll im Nachwort zu Kopelews Buch schrieb:

    Der ganze Zusammenhang muss hergestellt, gemeinsam erörtert und analysiert werden.

    Und wenn Böll vor nun fast dreißig Jahren zu Recht den Nachdruck seiner Argumentation darauf legte, dass die Deutschen nie vergessen dürften, was sie vor 1945 den anderen angetan haben, ehe sie sich damit beschäftigen, "was" - Zitat: - "uns nach 1945 angetan wurde", so haben wir heute - zwei Generationen später - vielleicht sogar die Pflicht, auch dem verdrängten Leid von deutschen Menschen seinen Platz im kollektiven Gedächtnis zu geben. Lew Kopelew hat das schon in seinem autobiographischen Buch von 1976 getan.

    Denn natürlich ist die Perspektive der beiden Dissidenten nicht die der damaligen offiziellen Sowjetpropaganda mit ihrem siegestrunkenen Heldenpathos und der kritiklosen Zuordnung von Gut und Böse.

    Solschenizyns erst Ende der 90er Jahre entstandene Erzählung hat allerdings ein anderes Anliegen. Wenn der Titel nicht den Namen des ostpreußischen Dorfes "Schwenkitten" trüge - im russischen Original sogar "Adlig Schwenkitten" - hätte man diesem Text hierzulande wohl kaum Beachtung geschenkt. In der Geschichte schildert Solschenizyn - in fiktionaler Form - die von ihm als Kommandeur einer Schallmessbatterie durchlebten tragischen Geschehnisse einer Nacht im Januar 1945: Da kam es - aufgrund eines sinnlosen Befehls von unfähigen und verantwortungslosen Politfunktionären aus Führungsstab und Smersch, der militärischen Spionageabwehr, die im Siegestaumel den Luxus der ostpreußischen Häuser mit ihren Daunendecken und den in den Kellern zurückgelassenen Köstlichkeiten genossen, zu unnötigen Verlusten und Opfern. Solschenizyn geht es - wie schon die Widmung für zwei bei Schwenkitten gefallene Majore beweist - darum, gerade durch seine scharfe Kritik an der eigenen Armeeführung, den heldenhaft kämpfenden einfachen Sowjetsoldaten noch einmal ein Denkmal zu setzen.

    Der Major der Roten Armee Lew Kopelew aber, der - perfekt deutsch sprechend - in der Politverwaltung "für" - wie es hieß - "die Arbeit unter den Truppen des Gegners und in der Feindbevölkerung" zuständig war, beschreibt in seinem dokumentarischen Bericht das Leiden der Zivilbevölkerung. Die moralische Empörung des damals überzeugten Kommunisten und Parteigänger Stalins über das brutale Verhalten der Sowjetarmee trug ihm den Vorwurf von - so der Wortlaut: "mangelnder Wachsamkeit und bürgerlich-humanitärer Einstellung in Form von Mitleid mit den Deutschen" ein und führte schließlich zur Anklage vor einem Militärtribunal. Ihn bringt es zur Verzweiflung, dass völlig unversehrte Orte wie Neidenburg oder Großkoslau sinnlos in Brand gesteckt werden, dass Marodeure auf ihren Raubzügen ganze Lastwagenfuhren voller so genannter "Trophäen" in Beutedepots stapeln. Den Sowjetsoldaten war nach Überschreiten der deutschen Grenze ausdrücklich erlaubt worden, Pakete nachhause zu schicken, was einer direkten Aufforderung zum Plündern gleichkam. Darüber schreibt auch Solschenizyn:

    Und überall der verstreute, teils noch warme deutsche Reichtum. Sammel ihn ein, schick ihn nachhause. Dem Soldaten sind fünf Kilo erlaubt, dem Offizier zehn, dem General ein Pud.

    ... also etwas über 16 Kilogramm. - Kopelews Vorgesetzter, der ihn später denunziert, begründet das so:

    Wir sind Materialisten, wir müssen uns darüber klar sein. Das heißt: was ist zu tun, damit der Soldat Lust zum Kämpfen behält? Erstens: Er muss den Feind hassen wie die Pest, muss ihn mit Stumpf und Stiel vernichten wollen. Und damit er seinen Kampfwillen nicht verliert, muss er zweitens wissen: Er kommt nach Deutschland, und alles gehört ihm - die Klamotten, die Weiber, alles! Schlag drein, dass noch ihre Enkel und Urenkel zittern!

    Aber nicht die Plünderungen waren das eigentlich Schreckliche, sondern das tagelange Morden und Vergewaltigen von Zivilisten, ehe der Befehl von Marschall Rokossowski diesem furchtbaren Treiben Einhalt gebot.

    Kopelew schildert in eindringlichen Bildern seine bedrückenden Erlebnisse: die Greisin, die ihn anfleht, sie zu erschießen, da alle ihre Angehörigen tot sind; die schneebedeckten Leichen geschändeter Frauen:

    Mitten auf der Straße kommt eine Frau. In einer Hand trägt sie ein Bündel und eine Tasche, an die andere klammert sich ein Mädchen. Die Frau hat um den Kopf, quer über die Stirn, ein schon durchblutetes Tuch als Verband. Ihre Haare sind zerzaust, das Mädchen ist ungefähr 13 oder 14, hat weißblonde Zöpfe, ein verweintes Gesicht. Das kurze Mäntelchen ist schmutzig, die hellen Strümpfe an ihren langen Fohlenbeinchen sind blutig. Vom Bürgersteig her rufen Soldaten sie an, lachen.


    Kopelew fühlt sich für alles, was passiert, mitverantwortlich:

    Wir gehören alle zusammen: der General, der auf dem Bahnhof das Einheimsen deutscher Koffer befehligte, der Pionieroberleutnant, der an den Internationalismus glaubt und alle die jetzt dort an der vordersten Linie kämpfen, durch den Schnee mit den schwarzen Flecken frischer Einschläge vorstoßen, die sterben, verbluten, und alle, die in den Etappen saufen und Frauen quälen. Wir alle gehören zusammen. Die Anständigen und die Schufte, die Tapferen und die Feiglinge, die Gutherzigen und die Grausamen Ruhm und Schande lassen sich nicht voneinander trennen.

    Kopelew geht es in seinem Buch um die Schande, Solschenizyn um den Ruhm der Roten Armee trotz alledem. Auch die Sichtweisen dieser beiden russischen Zeugen gehören zusammen.

    Karla Günter-Hielscher besprach: Lew Kopelew: "Aufbewahren für alle Zeit!", erschienen im Verlag Steidl, Göttingen. 672 Seiten zum Preis von 12 Euro 50 und: Alexander Solschenizyn: "Schwenkitten ’45". Verlag Langen-Müller, München. Der Preis: 19 Euro 90