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Liberaler Protestantismus (Teil 1)
Lessing und die Theologie der Aufklärung

Philosophen und Theologen der Aufklärungszeit waren überzeugt, dass sich die Menschheit stetig zum Positiven hin entwickelt, wenn sie ihr Handeln durch die Vernunft lenken lasse. Diese Vorstellung teilte Gotthold Ephraim Lessing in seinem Werk "Erziehung des Menschengeschlechts". Er grenzte sich aber auch gegen die radikale Rationalisierung der Religion durch manche Aufklärer ab.

Theologieprofessor Matthias Kroeger im Gespräch mit Rüdiger Achenbach | 04.08.2015
    Rüdiger Achenbach: Herr Kroeger, in der Zeit der Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert wird die Vernunft zur Norm der Erkenntnis und Urteilsbildung. Diese Vorstellung hält auch Einzug in den Protestantismus und führt bei manchen Theologen auch zu einem neuen Verständnis der biblischen Schriften.

    Matthias Kroeger: Der primäre Vorgang hieß: Wenn wir uns wörtlich an die Heilige Schrift halten, dann bleiben wir ständig unter ihrem Diktat. Wir dürfen selber nachdenken. Und deswegen hat zum Beispiel Lessing diesen Satz an den Anfang gestellt, der seine Auseinandersetzung mit dem Hauptpastor Götze darstellt: Der Geist ist nicht der Buchstabe und die Bibel ist nicht die Religion. Das ist das Fanal, mit dem er eingetreten ist in diese Auseinandersetzung.

    Achenbach: Obwohl, das war ja schon ganz gut lutherisch gedacht, denn Luther hat ja auch zwischen Geist und Buchstabe unterschieden.

    Kroeger: Ja, aber man muss wohl sagen, dass in der Folge der Reformation in der Tat die Bibel zum neuen Papst gediehen ist. Und die lebendige Form, in der Luther die Heilige Schrift durchaus auch nach inneren Kriterien behandelt hat, die ist einer fast Vergötzung der Bibel gewichen. In der Orthodoxie ist die Bibel eine absolute Autorität, die die Flexibilität Luthers nicht mehr an sich hat.

    Achenbach: Das heißt, man ging von der Verbalinspiration aus – in der Orthodoxie – und hat von diesem Verständnis her Gott als denjenigen verstanden, der den Verfassern der biblischen Schriften sozusagen die Wörter der Bibel inspiriert hat.

    Kroeger: Wörtlich eingeblasen hat. Die sind die Flöte, auf der der Heilige Geist geblasen hat. So war das Bild, in dem man sich das vorstellt. Und diese Direktheit der Vergötzung der Schrift, die hat Luther nicht gehabt und die wurde jetzt auch weiterhin angefochten.

    Achenbach: Sie haben gerade den Namen Lessing angesprochen. Lessing gehört zu den Personen, die uns ja nicht nur aus der Theologie bekannt sind, obwohl er eine ganze Reihe religiöser Schriften verfasst hat. Und Lessing ist ein Vertreter der Aufklärung, wenn er auch sich gegen eine bestimmte Form der Aufklärungstheologie abgrenzt, das heißt die sogenannten Vermittlungstheologen oder das, was man in dieser Zeit auch die Neologie, die neue Lehre, genannt hat, und die Botschaft des Evangeliums auf die Nützlichkeit und auf das, was man brauchbar machen kann für das praktische Leben reduziert – an vielen Stellen. Dagegen grenzt sich Lessing ja dann deutlich ab.

    Kroeger: Das ist eine seiner markanten Sätze, der in einem Brief an seinen Bruder Karl steht. Er sagt: "Natürlich ist die kirchliche Lehre verunreinigtes Wasser. Aber ich weigere mich, dieses verunreinigte Wasser auszuschütten, wenn man hinterher die Kinder in reiner Mistjauche baden muss. Denn, das wirst du wohl verstehen, dass die heutige Aufklärungstheologie nichts anderes als Mistjauche im Vergleich zur Orthodoxie ist." Das ist ein scharfer Satz, den Lessing da ausspricht. Und er distanziert sich von der durchgehende Rationalisierung. Was er aber selber an dieser Stelle gelehrt hat, ist nicht so furchtbar weit von dem, was seine Neologenfreunde, mit denen er ja durchaus in freundschaftlichen Kontakt und Zusammenhang war, was die gelehrt. Man kann das am schönsten und am einfachsten in der sogenannten Ringparabel in Lessings Theaterstück von Nathan, dem Weisen sehen. Das heißt, Lessing reduziert faktisch die Kriterien des christlichen Glaubens auf vernünftiges, unbestochenes Tolerant-Sein und Tun der Liebe und Ergebenheit in Gott. Das ist ein gut aufklärerisches Programm, das er da vertritt. Aber er grenzt sich gleichzeitig in der Tat von Übergangstheologen und von der Neologie ab.

    Achenbach: Bei Lessing kommt ja noch hinzu, dass er das Problem vor allem von einer hermeneutischen Seite her betrachtet, indem er sagt: "Zufällige Geschichtswahrheiten können nie der Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten werden." Und hier trifft er eine Unterscheidung. Vernunftwahrheiten sind die Wahrheiten, die sozusagen der zeitlich übergreifende Inhalt einer Religion sind. Während auf der anderen Seite die Geschichtswahrheit die Religion als historisches Phänomen betrachtet.

    Kroeger: Nachdem, was Sie eben sagen, in der Tat, beruht eine Freundschaft mit Mendelssohn.

    Achenbach: Moses Mendelssohn.
    Kroeger: Das ist sein Freund. Und darin ist Lessing durchaus ungewöhnlich, weil die allerwenigsten Menschen damals Anlass haben, über einen Menschen anderer Religion nachzudenken. Sie kennen nämlich gar keine. Lessing aber hat einen intimen Freund, einen Juden. Und er denkt so, dass dieser Jude so gut wie er – Lessing als Christ – berechtigt im Religionsbegriff ist. Er mindert ihn nicht, sondern er gibt ihm das gleiche Recht wie sich selber. Er sagt: Mendelssohn und die jüdischen Freunde sind demselben Kriterium ausgesetzt wie wir Christen, nämlich: unbestochene Liebe, Freundschaft und Toleranz und Gottergebenheit. Und das können die Juden genauso gut wie wir Christen.
    "Kritik an der gegenwärtigen Christlichkeit erscheint als eine vorläufige"
    Achenbach: Diese Unterscheidung, die er dann trifft, die wir vorhin angesprochen haben, die Vernunftwahrheit und die Geschichtswahrheit, die wendet er auch auf die Person Christus an. Jesus Christus ist für ihn einmal der irdische Jesus, den man sehen muss als denjenigen, der den zeitübergreifenden Inhalt der Religion übermittelt, während Christus, der gepredigte Christus – wie Lessing es nennt – dann auf der anderen Seite derjenige ist, der als zeitliches Phänomen sozusagen die Auferstehungsbotschaft und die Gottessohnschaft verkörpert – als Lehre der Kirche.

    Kroeger: Das ist etwas, was sich erst im Laufe der Erziehung des menschlichen Geschlechtes herausstellt. Nämlich zunächst einmal scheint es, als wenn die Offenbarung und das, was die Religionsstifter bringen, durchaus noch nicht vernunftgedeckt sind, sondern – das ist eben diese westeuropäische Form – dass man Vernunft und Offenbarung aufeinander abstimmt. Lessing sagt, die Offenbarung geht voran und zeigt zum Beispiel, dass es nicht viele Götter, wie es sich am Anfang der Menschheitsgeschichte nahe legt, sondern dass es nur einen Gott gibt. Und langsam begreift die Vernunft das selber, sie braucht nachher keine Offenbarung mehr dazu. Und dasselbe gilt im Blick auf das, was der Religionsstifter Jesus gebracht hat, über die Erkenntnis Gottes und über die Sühne und alles dies. Das wird langsam immer mehr von der Vernunft selbst erkannt unter Vorgabe der Offenbarung, bis dann schließlich in der Erziehung des Menschengeschlechts erstmals das Merkwürdige passiert, dass die Vernunft der Offenbarung eine Vorgabe gibt. Und sie ist schneller in der Erkenntnis der Wahrheit, und die Offenbarung in ihrer Interpretation lernt das erst langsam. Dieses Hin und Wider in der Offenbarung und in der Vernunft, die sich die Hand reichen, ist etwas, was Lessing in der Geschichte des Christentums in Phasen sich abspielen sieht.

    Achenbach: Das heißt, Lessing denkt hier in Entwicklungsstufen.

    Kroeger: Richtig.

    Achenbach: Er sieht auch die christliche Religion in einer Entwicklungsstufe und, so wie Sie es gerade angedeutet haben, könnte man sagen, es gibt eine Phase der christlichen Religion, die ist mehr gebunden an das Alte Testament, an alttestamentliche Lehre, und das wäre dann eher auch seiner Sicht die Gesetzesreligion. Dann kommt Neues Testament mit einer Religion der Dogmen. Und dieses entwickelt sich weiter in ein ewiges Evangelium der moralischen Vernunftreligion.

    Kroeger: Die dritte Stufe ist seine große Hoffnung, dass wir jetzt am Anfang einer neuen Religionsstufe stehen, in der alles das, was uns heute beengt, erneut und neu begriffen werden wird.

    Achenbach: Das heißt also, Lessing ist mit diesem Gedanken der Entwicklungsstufe in der Religion auch ein typischer Vertreter der Aufklärungszeit mit einem Fortschrittsdenken.

    Kroeger: Ja, aber er hat es noch prägnanter und nachdrücklicher ausgeführt als seine Zeitgenossen. Bei Lessing ist dieser Gedanke so grundlegend gemacht, dass die Kritik, die er an der gegenwärtigen Christlichkeit übt, als eine vorläufige erscheint. Und er sagt: alle Potenziale sind in der Religion in der nächsten Stufe auch zu erreichen, das Zeitalter des Geistes steht uns bevor. Das ist ein unglaubliche positive Erwartung und optimistische Bestimmtheit.

    Achenbach: Wenn man das zusammensieht – einmal Ringparabel in Nathan, dem Weisen, und dann auch in seiner Schrift "Erziehung des Menschengeschlechts" – kann man eigentlich den Eindruck bekommen, dass für Lessing das Kriterium für echte Religiosität allein die moralische Wirkung ist.

    Kroeger: Die Vernünftigkeit und die moralische Wirkung, beides zusammen.

    Achenbach: Und dass die Menschheit unterwegs ist, immer auf der Suche nach der Wahrheit?

    Kroeger: Nach der Wahrheit und nach der Reinheit des moralischen Gebotes, welches im Liebesgebot dann gipfelt.

    Achenbach: Aber Wahrheit ist dabei kein definitiv Abgeschlossenes.

    Kroeger: Nein, das ist eine der – für die damalige Zeit – wunderbar und eindrücklichen Stellen, wo Lessing sagt, wenn Gott mir sagt, in die eine Hand habe ich die Wahrheit und in der anderen Hand habe ich die Suche nach der Wahrheit, was möchtest du haben, Lessing? Dann würde ich, Lessing, sagen: Gib mir die Suche. Denn die Wahrheit ist ja nur für dich, Gott, für uns ist nur die Suche. Das ist nach den – muss man sagen – Jahrhunderten der allzu überdefinitorischen Auffassung von Wahrheit, wo die Theologen immer alles wissen, eine wunderbare Befreiungsgeste. Wir sind die Suchenden und das ist unsere Wahl.
    "Spinoza ist nicht ein Pantheist, sondern Panentheist"
    Achenbach: Wie würden Sie denn den Gottesbegriff von Lessing definieren?

    Kroeger: Erst nach seinem Tode ist durch eine Indiskretion von Jacobi, einem philosophischen Freund, der ihn besucht hat im Jahre '81, also ein Jahr vor seinem Tod, ist etwas herausgekommen. Das gibt es ein Gespräch, das Jacobi mit Lessing geführt hat, und sie kommen auf einen großen jüdischen Philosophen Spinoza zu sprechen, der in seiner Ethik – speziell im 4. Buch der philosophischen Ethik – den Gedanken vertreten hat, dass keine eigene jenseitige Person ist, sondern – die Formel heißt "Deus sive natura" – Gott, das ist der Inbegriff der Natur und ihrer Kräfte. Und dieser Gedanke ist in der damaligen Generation, bei Goethe, bei Herder, bei Lessing, bei diversen anderen umgegangen. Und Lessing hat sich in diesem – damals noch privaten – Gespräch zu diesem Gedanken bekannt. Er sagt, eine jenseitige Gottheit ist nicht mehr für mich, Gott ist der Inbegriff aller Kräfte dieses Kosmos und dieser Welt. Wenn es einen Theologen gibt, sagt er, auf den ich mich berufen kann, so ist es Spinoza, der Jude aus dem 17. Jahrhundert in Amsterdam.

    Achenbach: Kann man sagen, dass Spinoza Geist und Natur zusammenfallen lässt?

    Kroeger: Absolut. Das hat zunächst einmal zu der Formel geführt, dass Spinoza der pantheistische Theologe sei, also die pantheistische Religiosität, dass alles, was Natur ist, göttlich ist. Diese Gleichung ist ein bisschen problematisch. Es ist noch nicht ganz entschieden, wie man dieses 4. Buch der Ethik von Spinoza verstehen muss. 50 Jahre später hat es eine Interpretation gegeben, die sagt, Spinoza ist nicht ein Pantheist, sondern Panentheist, das Göttliche ist in allem.

    Achenbach: Aber es gibt die Transzendenz.

    Kroeger: Richtig. Und es ist ein bisschen die Frage, ob man Spinoza pantheistisch oder panentheistisch verstehen soll und muss. Das ist bei Lessing nicht ganz klar. Diese Unterscheidung wurde damals noch nicht gemacht. Aber das ist die Bandbreite der Interpretation. Sowohl bei Herder, wie Jacobi, wie Goethe, wie natürlich bei Hegel auch, bei Schelling spielt das auch alles eine Rolle. Es ist die Frage, ob Gott der Inbegriff aller Kräfte des Kosmos ist, aber nicht identisch mit der Natur, sondern in der Natur.
    (Dieses Gespräch ist eine Wiederholung vom 21.01.2013)

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