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Licht auf die Schattenfigur

Manfred Flügge führt Heinrich Mann in seiner Biografie in einem ständigen Ausnahmezustand der wogenden Widersprüche, der Daseinsimprovisationen, des steten Wechsels vor. So lebendig hat sich noch kein Heinrich-Mann-Biograf sein Studienobjekt vergegenwärtigt. Flügge bewährt sich vor allem als Finder bislang unentdeckter Einzelheiten.

Vob Wilfried F. Schoeller | 20.08.2006
    Ganze Bibliotheken sind über die Manns, diese Jahrhundertfamilie, diese Buchstabendynastie, diesen literarischen Götterverbund zusammengeschrieben worden. Aber die Rätsel, die an den strategischen Punkten dieser Lebens- und Karrierelinien, dieser Fluchtwege und Untergangsverläufe sitzen, wollen nicht weniger werden. Je mehr über diese Familie geschrieben und gefilmt wird, desto sicherer vermehren sich ihre Geheimnisse.

    Die Schattenfigur in diesem Clan ist Heinrich Mann. Sein Bildnis ist vom erfolgreicheren Bruder Thomas verdunkelt worden. Bei einem früheren Biografen firmiert er nur als "der Bruder", als wären seine Existenz und sein Werk allein durch die Gnadensonne Thomas Manns verbürgt. Der unselige Bruderzwist, von Germanisten und Politologen routiniert in Gegensatzpaaren verwaltet, hat ihn unzulänglich typisiert. Andererseits ist Thomas Mann seinen Bruder niemals losgeworden: Er klebte an ihm wie ein unwillkommener Alias, was jener gewiss nicht wollte. Von dieser Sachlage haben sich die bisherigen Fachleute und Mann-Auguren kaum lösen können.

    Hochwillkommen ist deshalb die neue Heinrich-Mann-Biografie von Manfred Flügge, die ihre Vorgänger weit hinter sich lässt. Sie hat einen, aufs Ganze gerechnet, unschätzbaren Vorzug: Ein unbefangener Erzähler berichtet von Leben, Werk und Seltsamkeiten eines Schriftstellers. Er hält sein Material in Fluss, will für diesen Bürger, der noch aus der Bismarck-Zeit herkommt, um in den Katastrophen des 20. Jahrhunderts sich intellektuell und künstlerisch zu bewähren und zu verirren, nicht letzte Wahrheiten, sondern eher episodische Einsichten bereit stellen. Am meisten überzeugt ein direkter, bisweilen geradezu schnoddriger Ton, der das Rettungspathos vieler Heinrich-Mann-Verehrer unterspielt. Es ist eine gebrochene Sympathie, aus der heraus Manfred Flügge seine Figur und ihr Zeitalter besichtigt. Er sucht mit seiner epischen Neugier seinen Helden dort auf, wo sich die Widersprüche sammeln:

    "Was also gilt es zu besichtigen? Einen Träumer, der die Realität erklären will, einen Vorgestrigen, der von morgen sein will, einen Außenseiter, der zuweilen ins Zentrum der Ereignisse rückt, einen Romantiker, der ein Kämpfer und Aufklärer sein will, einen Besucher von Nachtbars, Kabaretts und Bordellen, der von Moral, Verantwortung und Gewissen sprechen will, einen Phantasten, der von Politik redet, einen Symbolisten, der Gegenwartsromane schreiben will, einen Einsamen, der unablässig die Gesellschaft beschwört, kurzum: einen Dichter, der bewusst in und zugleich neben seiner Zeit lebt, als Mahner, als Utopist, als kritischer Essayist, dessen große Stunden wie dessen blamable Momente aus derselben Attitüde stammen"

    Und so rotieren Flügges Gegensatzpaare noch manche Zeilen weiter.
    Die zeitliche Spanne dieser Biografie hält für ihn eine Gewissheit bereit:

    "Wer von 1871 bis 1950 lebte, hat kaum Gelegenheit gehabt, sich mit Deutschland anzufreunden."

    Heinrich Mann wird in einem ständigen Ausnahmezustand der wogenden Widersprüche, der Daseinsimprovisationen, des steten Wechsels vorgeführt. So lebendig hat sich noch kein Heinrich-Mann-Biograf sein Studienobjekt vergegenwärtigt. Flügge hat seinen Helden mit einer kühnen Umkehrung ins Leben gesetzt:

    ""Heinrich Mann war der allerletzte Romantiker, ein in das 20. Jahrhundert verirrter Taugenichts."

    Man reibt sich verdutzt die Augen: Ist er nicht, durch eigene und fremde Zuschreibung als Aufklärer, als Rationalist, als "Zivilisationsliterat", als Gesellschaftskritiker benannt? Nun also das krasse Gegenteil: ein Romantiker hoch über den realistischen Niederungen, nichts anderem als der eigenen inneren Welt verpflichtet. Da ist, aus Heinrich Manns Neigung für den Symbolismus gedeutet, manches Treffende zusammengetragen, aber das Großbild des Romantikers mag fürs ganze Werk doch wohl keine gültige oder einzig verbindliche Kennmarke abgeben.

    Der junge Heinrich Mann, vor 1900, wird mit den großen Augen der Befremdung gemustert. Er fing unbedenklich, aber äußerst konventionell an: aus träumerischen Anfängen, den Heine-Ton imitierend, konservativ bis chauvinistisch, aber mit der französischen Kulturkritik eines Paul Bourget ausgestattet, Antisemit, wie seine zahlreichen Artikel in der einschlägigen Zeitschrift "Das Zwanzigste Jahrhundert" erweisen. Wenige Jahre später, noch vor der Jahrhundertwende, wird die Scham des Autors einsetzen und er wird bis ins hohe Alter alles tun, um diese Jugendsünden auszulöschen. Flügge verweilt ein wenig zu lange auf dieser Jugendepisode, zumal er in dieser Hinsicht nicht mit Neuigkeiten aufwarten kann, alle Verinnerungen bereits bekannt sind. Seit 1892 kam bei Heinrich Mann das Wanderdasein vorwiegend in Italien dazu. Mit Recht schränkt Flügge jedoch die Wirkung des Südens auf seine geistige Statur ein:

    "Seinen Stil, seine Stoffe, sein Ambiente fand er dort; aber wo immer er sich aufhielt, Heinrich blieb in seiner eigenen Welt, die gleichsam mit ihm reiste."

    In Italien konfrontierte er sich vorwiegend mit deutschen Stoffen: 1900 eröffnete der Roman "Im Schlaraffenland" die Reihe der gesellschaftskritischen Bücher über den Wilhelminismus. Heinrich Mann erprobte sich als Satiriker mit einem großes Betätigungsfeld, das über "Professor Unrat" bis zum "Untertan" von 1914 reicht. Wo man eher gelangweilt Kursorisches erwarten würde wie zum Beispiel über die schönheitsversessene Trilogie "Die Göttinnen" von 1902, da sieht Flügge genauer hin und macht interessante Funde aus. Über den Kanon des halben Dutzend an Heinrich-Mann-Romanen, deren Wirkung über die Jahrzehnte hinweg anhält, streift Flügge dagegen eher achtlos. Er sucht in den abgelegten Werken das interessante Aparte. Er bewundert die Novellen Heinrich Manns, ihre Lakonik, die Kunst der Zuspitzung, klaubt aus verstreuten Texten Schmerz und Schönheit einzelner Passagen, bewundert den "Meister der Dialogführung". Flügge bewährt sich vor allem als Finder bislang unentdeckter Einzelheiten, als leidenschaftlicher Spurenleser im Verborgenen, als ironischer Beleuchter abgedunkelter Bezirke.

    Der Erotiker wird offensiv nüchtern betrachtet - wie noch nie zuvor. Die Sensationen der Liebe, von Heinrich Mann freimütig erzählt in ihren Passionen und Obsessionen, haben die zeitgenössischen Leser mindestens so erregt wie seine politischen Gewagtheiten.

    "Heinrich Mann hatte schon früh eine pragmatisch-unromantische Auffassung von Liebe und Sexualität. Die Selbstverständlichkeit, mit der in seinen Erzählungen und Romanen von Sexualität die Rede ist, machte ihn zum Avantgardisten des Eros, obwohl er in der Darstellung dem Kitsch nicht immer ausgewichen ist. Von einem expliziten Frauenideal, von Heirat, von Familie, geschweige denn von Kindern war bei alldem nie die Rede."

    Flügge erweist sich als kundiger Cicerone durch die Liebeswirren Heinrich Manns. Einige unbekannte Verhältnisse, durchaus ins Werk verwandelt oder als Lebensmöglichkeit erprobt, hat er aus neuen Quellen aufgespürt. Dennoch bleibt die Grundfigur der erotischen Prägung etwas undeutlich: Heinrich Mann war, das ist in "Professor Unrat" wie im "Untertan" überdeutlich, den starken Frauen ausgeliefert, suchte sie, band sich an sie und hat sie in seinem zeichnerischen Spätwerk als obszöne Fleischpersonen sehnsuchtsvoll skizziert. Er war, wenn man es rabiater formuliert, ein veritabler Masochist und hat daraus im "Untertan" eine groß geartete politische Dialektik von Knechtseligkeit und Machtinstinkt entwickelt.

    Der "Romantiker" und der "Utopist" werden in Flügges Buch schier gleichgesetzt. Aber oft waren es Außenerwartungen, denen der Autor folgte: Vor 1910 galt er als der Cheferotiker der deutschen Gegenwartsliteratur, sein Verleger Albert Langen trug ihm die Rolle des deutschen Maupassant an, der Zeitschriften-Herausgeber Franz Pfemfert erklärte ihn zum Vater der Expressionisten, wo er doch zum Vater untauglich war und nannte ihn "politischer Erwecker".

    Als der Erste Weltkrieg zu Ende ging und der Roman "Der Untertan" erschien, überlastete ihn Kurt Tucholsky mit der Rolle des gesellschaftskritischen Sehers und Bildners. Als die Weimarer Republik in die letzte Krise ging, schlug ihn Kurt Hiller zum Reichspräsidenten vor. Im französischen Exil galt er als antifaschistische Leitfigur, so dass Ludwig Marcuse über ihn als den "Hindenburg des Exils" spötteln konnte.

    Bei so prägenden Rollenerwartungen ist es mehr als verständlich, dass sich das erzählerische und das publizistische Werk bisweilen nicht in unbehelligter Kontinuität entwickelte, sondern nach dem Druck, der auf ihm lastete. Genauere Einsichten erhält man erst, wenn man den "Realisten" nicht mit dem "Romantiker" überblendet, sondern sie in ihren energetischen Spannung zeigt. Dazu wäre nötig, auch den politischen Intellektuellen, den Kommentator der laufenden Ereignisse, den Redner und Leitartikler minutiös in Stellung zu bringen. Die Schwäche dieser Biografie, die so viele Vorzüge und ausnehmend frische Kenntnisse aufweist, liegt vielleicht darin, dass der Chronist des öffentlichen Lebens zu kurz kommt.

    Flügge hält seine Figur in dieser Hinsicht vorwiegend auf Abstand, auch wenn zum Beispiel die Bewunderung für Heinrich Manns "Zola"-Essay, für die Kardinalschrift der geistigen Opposition inmitten kriegsbegeisterter Intellektueller, unverkennbar ist. Aber merkwürdig blass bleibt der politische Essayist und Kommentator, von dem man etwas salopp sagen kann: Er war der Heinrich Böll der 20er Jahre. Wie Heinrich Mann, halbdiplomatischer Gast bei Briand, Stresemann und dem tschechischen Staatspräsidenten Masaryk, diese Republik vertrat gegen ihre Verächter von rechts und links, das wäre einer in alle Einzelheiten stochernden Beschreibung wert. Hier wird sie nicht geleistet.

    Fesselnd wiederum sind die Lebensumstände des französischen Exils in Nizza erzählt: die Alltagsgeschichten, die Turbulenz der Tätigkeiten, die Eskapaden und Notlagen der Frau Nelly Kroeger, der "Bardame", die ihm ins Exil gefolgt war, das Beziehungsgeflecht der Emigranten. Mit Kopfschütteln registriert Flügge die Annäherung Heinrich Manns an die KP im französischen Exil:

    "Im Bemühen um eine Aktionseinheit der Emigration ist Heinrich Mann ein enges Bündnis mit dem kommunistischen Lager eingegangen und hat sich dabei von dessen Ideologie und Strategie stärker vereinnahmen lassen, als es reine Bündnispolitik verlangt hätte. Sein Engagement sollte, mit einigen Krisen, bis zum Ende seines Lebens bestehen bleiben, als hätten sich sein unstetes Leben und sein wechselhaftes Schreiben auf diesen Fixpunkt hin bewegt. Mit dem Urteil über diese Orientierung stand und fiel dann auch das Urteil über sein gesamtes Werk und seine Person."

    Flügge hat zum ersten Mal einen durchgängigen Deutungsversuch über Heinrich Manns Zusammenarbeit mit Vertretern der Komintern, über seine Volksfrontpolitik, seine Stalin-Verehrung und seine unakzeptable Deutung der Moskauer Prozesse unternommen. So viele Einzelheiten, auch über die materielle Abhängigkeit des Autors von Zahlungen aus der Sowjetunion und später aus der werdenden DDR sind bisher nicht zusammengetragen worden. Für Flügge zeigt dieses Beziehungs- und Meinungsgeflecht ein moralisches Manko sondergleichen. Doch steht die eigentliche Überschau noch aus, und sie müsste weitergehende Wahrnehmungen miteinbeziehen: Heinrich Manns vergebliche Erwartung, nach Hitlers Machtantritt würden sich die alten Linksparteien erneuern und nicht wie die Kommunisten in ihrem Dogmatismus verharrren. Stalin erschien als der nach außen überzeugendste Hitler-Gegner, wogegen die westlichen Politiker Appeasement-Gesten machten; die Rolle Feuchtwangers, der sich als der eigentliche, wenn auch durchaus gewandte Stalin-Freund erweist, ist noch nicht genügend aufgehellt; der frenetische Wunsch, den eigenen politischen Impuls, dass Geist zur aufklärerischen Tat werde, zu konservieren – und vieles andere mehr. Flügge hat sich reichlich mit Material versehen, aber es bleibt eben dabei: Erhellt der Biograf die eine dunkle Stelle, werden andere sichtbar.
    1940 musste Heinrich Mann mit den Werfels, seiner Frau Nelly und seinem Neffen Golo zu Fuß durch die Ausläufer der Pyrenäen, um den Nazis zu entgehen. In Lissabon fand der unwiederrufliche Abschied von Europa statt.

    "Ein Lebensabschnitt ging zu Ende. Heinrich Mann betrat eine Art Jenseits seiner Biographie, schon zu Lebzeiten. Waren die Exiljahre in Frankreich schon unwirklich genug – jenseits des Atlantiks wartete eine Form gesteigerter Unwirklichkeit."

    In den USA blieb er unbekannt, in Los Angeles ein Fremder, die materiellen Verhältnisse waren zeitweise katastrophal, eine Außenwirkung ist mehr oder weniger nicht mehr vorhanden. Flügges Kapitel über diesen in Amerika Verschollenen ist vielleicht das beste: anrührend und gerecht, achtungsvoll gegenüber dem Unglück, das dieses seltsame Paar heimsuchte. Nach einem Autounfall beging die alkoholkranke und depressive Nelly Selbstmord. Ein Epitaph des Biografen gilt ihr:

    "Seine Frauen besagen auch etwas über Heinrich Mann. Mit einer 'Fürstin' hätte er nicht leben können. Glücklich war er nur mit dem drallen Engel, der ihm jene Mischung aus hohen Bildern und niedrigen Empfindungen erlaubte, die zu seinem Gefühlshaushalt gehörten. Immerhin hat er sich zu ihr bekannt durch die Heirat, die ja nicht leicht zu bewerkstelligen war.

    Nellys Schicksal hinterlässt ein Gefühl von sinnlosem Verlust und unnützem Leiden. Als eine Legendenfigur in seiner Biographie hat sie eine kleine Form der Ewigkeit gefunden. Aber auch unter ihrer winzigen Grabplatte in Santa Monica lag sie allein. Immerfort mußte sie zahlen. Er aber wusste, was er ihr schuldig war."

    Mit allen Registern der Ironie breitet Flügge die Komödie der späten Jahre Heinrich Manns aus: er wurde von wechselnden Autoritäten der werdenden DDR gebeten, nach Berlin zurückzukehren, um die Präsidentschaft der neu gegründeten Akademie zu übernehmen. Thomas Mann riet ihm heftig zu, denn er wollte ihn loswerden. Heinrich Mann antwortete ausweichend, stellte neue Fragen und hielt alle zum Narren. Und als er dann schließlich doch zusagte, war es zu spät: Er starb im März 1950, kurz vor der geplanten Überfahrt. Der Biograf kommt noch einmal auf einen späten Briefwechsel mit einer Freundin Nellys zurück, als er ihm seine Reverenz erweist:

    "Ganz im Versteckten, Wochen nur vor dem Abschied von der Welt, spielt sich noch einmal dieses kleine Gefühlstheater ab, das sein Leben und Schreiben immer war, rührend, grotesk und doch echt. Das Kleingeld der Liebe, die nie groß war, außer in Träumen und Texten, die immer nur unzureichender Ersatz war, wie in seinen frühen symbolistischen Geschichten. In diesen kleinen Zeugnissen ahnt man, dass dieser Autor, der kein ganz großer wurde, dieser verirrte und von seinem Zeitalter umhergestoßene Politiker, doch eine suggestive Gestalt war, gerade in seiner Unzulänglichkeit, seinem Abstieg in die Niederungen, weil er in allem und trotz allem – nicht Haltung bewahrte, das klänge zu preußisch - sondern Stil hatte, jenseits des Lächerlichen. In dieser verwunderlichen Mischung ist er ein Mensch, auf den zu schauen sich lohnt. Ecce Heinrich."

    Gegen diese Sätze könnte man einige Reserven mobilisieren. Aber in Biografien kommt es vor allem darauf an, ob ein in sich schlüssiger Entwurf geboten wird, der seinerseits zur Reibung und Auseinandersetzung anregt. Und Manfred Flügge ist der so gestellten Aufgabe bestens gewachsen, als Erzähle" einer Biografie, der seinen Helden nicht glättet, der sich vielmehr an ihm reibt; als ein kenntnisreicher Rechercheur von Einzelheiten, als ein Forscher, der den Mut hatte, seinen Helden in seinen Widersprüchen aufzusuchen. Die letzte Biografie über Heinrich Mann wird auch diese nicht sein.