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Liebe im eigentlichen Sinn

"Lieben" - das kann genau genommen alles und überall sein. Dafür müssen 25, zur Hälfte bereits anderswo veröffentlichte Prosastücke von Irene Dische gerade stehen, die je zur Hälfte mit "traurigen und glücklichen Enden" versehen sind.

Von Marli Feldvoss | 16.04.2007
    "Niemand hinderte Romeo und Julia am Heiraten." Das ist ein handfester Einstieg in eine Thematik, bei der man sich getrost auf die Nomenklatur der romantischen Liebe einstellen kann. Was aber ist mit Begriffen wie Vaterlands- oder Ahnenliebe? Weitere Titel aus diesem "Brevier der Liebe", das der Verlag etwas vollmundig gleich mit dem Etikett "Kulturgeschichte" versehen hat, vielleicht weil Irene Dische sich streng genommen nicht mit den Soaps oder amour fous zufrieden gibt, sondern im Zeitalter des anything goes einen viel weiter gefassten Liebesbegriff im Auge hat. "Lieben" - das kann genau genommen alles und überall sein. Dafür müssen nun 25, zur Hälfte bereits anderswo veröffentlichte Prosastücke gerade stehen, die je zur Hälfte mit "traurigen und glücklichen Enden" versehen sind.

    Aber im Grunde ist es Irene Dische schon immer auch um die Liebe im eigentlichen Sinne gegangen. Was sonst hält die verrückte jüdische Familie in "Großmama packt aus" zusammen, die jetzt unter dem Titel "Rosa" für den Epilog des Buches herangezogen wird? "Rosa", das letzte nur noch gehauchte Wort der sterbenden Renate, Irenes Mutter - schon eher ein "Altrosa" -, malt noch einmal die Grundstimmung der hier versammelten Erzählungen an die Wand. So richtig optimistisch stimmende Leuchtfarben sind nicht darunter.

    "'Unbekannte Schöne im herrenlosen Koffer' lautete die Schlagzeile am nächsten Tag. Der Leichenbeschauer klassifizierte sie als weiß, jung und weiblichen Geschlechts. Der Tod hatte sie von zwei Seiten in die Zange genommen: in erster Linie durch Quetschung infolge des Gewichts anderer Gepäckstücke. Der Koffer war doch nicht so stabil gewesen. Während des Fluges jedoch musste er zuoberst gelegen haben. Der Tod hatte sich Zeit gelassen und war erst beim Ausladen eingetreten, als sie schon wegen Unterkühlung im Sterben lag. Als einige Tage später auch Romeos Leiche entdeckt wurde, fand man in seiner Manteltasche die fehlende Banderole. Das Rätsel war gelöst, was inzwischen aber niemand mehr wissen wollte, und so bekam es nur noch ein paar Zeilen in einer Lokalzeitung.""

    Ein trauriges Ende, wie man es von "Romeo und Julia" nicht anders erwartet. Denen hat nicht mehr der Familienzwist, sondern das amerikanische Konsulat einen Strich durch die Rechnung gemacht.

    Ein Junge, der unbedingt als Rapper berühmt werden will, versucht es erst gar nicht auf die legale Art, in Amerika einzureisen und erfriert als blinder Passagier im Fahrgestell des Flugzeugs. Dass der abgehalfterte eitle Ex-Schauspieler Frank zum Mörder wird, nur um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zu lenken, nachdem er sich zuvor als Heiratsschwindler durchgeschlagen hat, lenkt den Blick ein weiteres Mal auf ein überhebliches, letztlich selbstzerstörerisches männliches Ego. Darauf hat es Dische besonders abgesehen: grundsätzlich auf ausgefallene Lebensläufe, die sich in den verschiedensten Milieus, Ethnien, Altersgruppen, Örtlichkeiten abspielen. Aber zumeist bleibt man auf dem amerikanischem Mutterboden, die historische, Europa zugewandte Rückschau bleibt die Ausnahme. Im für Dische heimatlichen Amerika wütet auch besagte "Vaterlandsliebe", die als "Krankheit mit vier Verläufen" angekündigt wird und eigentlich mit einem "traurigen Ende" aufwartet. Das hier zum Ausbruch kommende patriotische, zum chronischen Leiden neigende Fieber, das sich am Nahen Osten entzündet, verrät ausnahmsweise eine politische Zielrichtung. Wie schwer sich die Erzählungen der zweiten Kategorie tun, zu einem dann "glücklichen Ende" vorzustoßen, zeigt eindrucksvoll der Schluss von "Seozeres Bogart".

    "Ich habe meine Besuche bei Mr. Slater eingestellt, sie waren nicht mehr nötig. Ich bin die Kälte los. Seozeres erklärte ich, Mr. Slater habe etwas dagegen, uns beiden gleichzeitig zu helfen. Und ich sei gern bereit, die Interessen meines Mannes über meine eigenen zu stellen. Seozeres ist deswegen ein bißchen verunsichert, und er hat ein sonderbares Gefühl in der Herzgegend, wenn er an mich denkt, eine Art Schmerz. Es ist der Gedanke an mich, an meinen warmen, dicken Körper, an mein bereitwilliges Lächeln, der diese seltsame Empfindung in ihm hervorruft. Er hat Mr. Slater schon sein Leid deswegen geklagt. Aber der hat ihm gesagt, er brauche sich keine Sorgen zu machen, das Gefühl sei nicht tödlich, es sei Liebe."

    Das letzte Wort hat der Analytiker Mr. Slater, der seinem egozentrischen Patienten erst wieder ein Gefühlsleben beibringen muss. Und wie Irene Dische hier das "glückliche Ende" auf den letztmöglichen Augenblick, den letzten Satz hinauszögert, ist große Erzählkunst. Damit erhöht sie fraglos den Spannungsbogen, drückt aber auf die gute Stimmung, die - pendelnd zwischen Verzweiflung, Melancholie und Groteske - nicht mehr zum befreiten hohen Gefühl abheben kann.

    Um der Überraschung willen das Erzählruder herumreißen, das verrät aber auch Irene Disches originär amerikanische Handschrift, ihr Vertrautsein mit der short story, die auf die Pointe als Abschluss nicht verzichten kann. Dergleichen Absichten hatte sie natürlich schon hinter den Überschriften "traurige und glückliche Enden" versteckt. Aber zur Technik der short story gehört eben auch die Miniaturisierung, pralle Erzähldichte, kühne Erzählkonstruktionen, die wenig Raum für die Psychologie der Akteure selbst lassen. Wenn es gar nicht anders geht, nimmt Dische, wie bei dem Text "Liebe Mom, lieber Dad", einfach ein Postscriptum zu Hilfe, um den vorangestellten Brief als Fake und Lügengeschichte zu entlarven. Die gelegentlich doch vorrangig auf stilistische Performanz angelegten Stücke machen das Lesen zuweilen ziemlich mühsam. Deshalb ist es dann wie eine Belohnung, wenn nur durch einen einzigen Satz winzige Stellungswechsel des Bewusstseins vollzogen werden.