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Liebe in Zeiten der Katastrophen

Hermann Kesten wurde 1900 im Kronland Galizien, der heutigen Ukraine geboren. Die jüdische Familie siedelt 1904 nach Nürnberg über. Der Vater stirbt zu Ende des Ersten Weltkrieges in einem polnischen Kriegslazarett. Ein schwerer Verlust, den der Autor Kesten immer wieder in seinem Romanen thematisiert. Nach dem Abitur kann Hermann sich nicht so recht entscheiden, er versucht sich in Jura und Nationalökonomie, besucht Vorlesung in Geschichte, Germanistik und Philosophie. Während er seine Mutter im Trödelhandel unterstützt, schreibt er. Er will Dramatiker und Erzähler werden. Zurück von einer Reise nach Portugal, veröffentlicht er in der "Frankfurter Zeitung" seine erste Novelle "Vergebliche Flucht".

Von Arnold Thünker | 02.07.2007
    Sein Freund Fritz H. Landshoff überredet ihn, sich als Lektor im Verlag Kiepenheuer in Berlin zu versuchen. Mit seiner Frau Toni, Schwester und Mutter zieht Kesten nach Berlin. Kesten liebt und braucht das Familienleben. Die Lektoratstätigkeit fand er vergnüglich, anregend und abwechslungsreich. Landshoff berichtet, dass Kesten ein Talent besaß, Autoren für den Verlag zu gewinnen. Seine Methode, die Kollegen von seiner Entdeckung zu überzeugen, war immer die gleiche: er legte ein Manuskript von einem meist unbekannten Autoren vor "mit der ihm eigenen Eindringlichkeit und mit schönem, überzeugenden Pathos."

    Für die Weltstadt Berlin kann sich Hermann Kesten nicht begeistern. Die Literaturschickeria ist ihm zuwider. Doch innerhalb kürzester Zeit spricht man vom dem Mann aus der Provinz, der sich als Lektor der Avantgarde etabliert hat. Kesten hat ein Gespür für neue Talente. Debütanten unter seiner Regie sind Marie Louise Fleißer, Wolfgang Weyrauch, Hans Georg Brenner, Josef Breitbach und Gustav Regler. Aber auch renommierte Autoren wie Bert Brecht und Joseph Roth kann er für den Verlag gewinnen.

    Seinem Freund Erich Kästner gesteht er, dass er sich nach Paris sehne. Landshoff drängt ihn, selbst einen Roman zu schreiben. Mit "Josef sucht die Freiheit" gelingt Kesten auf Anhieb ein Überraschungserfolg. Das Buch wird für den Kleist - Preis nominiert, Kesten gilt von nun an als eloquenter Vertreter der Neuen Sachlichkeit.

    Die Machtergreifung der Nazis zwingt den Juden Herman Kesten zur Flucht. Kesten flieht mit seiner Frau nach Frankreich. Als Lektor des Exilverlages Allert de Lange, Amsterdam, pendelt Kesten zwischen europäischen Städten. Unermüdlich versucht er, den Autoren, die wie er auf der Flucht sind, durch Veröffentlichungen wenigstens ein bescheidenes Einkommen zu sichern. Das Exil ist für ihn die Zeit der intensivsten literarischen Freundschaften. Mit Heinrich Mann und Joseph Roth bewohnt er 1934 gemeinsam ein Haus in Nizza. Im Angesicht der drohenden Katastrophe in Europa diskutieren die Freunde kontrovers über die Bedeutung des historischen Romans. Kesten ist sehr produktiv. Seine historischen Romane "Der Gerechte", Ferdinand und Isabella", "König Philipp der Zweite" und "Die Kinder von Gernika" erscheinen innerhalb von drei Jahren. Geschrieben hat er sie, wie das meiste in seinem Leben, an einem Caféhaustisch.

    Zu Kriegsbeginn wird auch Hermann Kesten als feindlicher Ausländer in Frankreich interniert. Kesten ist von den Franzosen bitter enttäuscht. Im Mai 1940 erhält er ein Besuchervisum für die USA, seiner Frau gelingt erst im September die Flucht über den Atlantik. In New York engagiert sich Kesten im Emergency Rescue Commitee für Rettung von Künstlern vor der Verfolgung durch das NS - Regime. 1949 nimmt Kesten die amerikanische Staatsbürgerschaft an. Im gleichen Jahr reist er zum PEN - Kongress nach Venedig und unternimmt eine Europareise, auf der er auch alte Freunde in Deutschland besucht. Erst Anfang der fünfziger Jahre findet der Ruhelose und Getriebene einem Ort, an dem er bleiben will. Rom ist seine Stadt. Bis zum Tod seiner Frau 1977 wird er dort arbeiten und leben.

    In Rom schrieb Hermann Kesten auch einen seiner letzten Romane "Die Abenteuer eines Moralisten". Der Roman erschien erstmals 1961 im Verlag Kurt Desch. Es ist ein satirischer Liebesroman, in dem Kesten, Orte und Zeiten seines eigenen Lebens bunt inszeniert. Prall gefüllt mit Handlung aus zeitkritischen Momenten, erotischen Verwicklungen und stark idealisierten Figuren, tritt Kesten in diesem Spätwerk noch einmal den Beweis an, dass Literaten origineller als Gelehrte, hier meinte er vor allem Historiker, sein können und müssen.

    Im Mittelpunkt steht der Amerikaner und Moralist Franz Mark. Die Welt ist für den Professor der vergleichenden Literatur noch immer so, wie sein Vater sie ihm erklärt hat. "Sieh dir die Welt an. Sie gehört dir, soweit du sie kennst. Hörst du Franz". Sein Vater glaubte an das Glück, an Weisheit und Tugend. Sieben Kinder hat er mit drei Frauen gezeugt, dutzende von Berufen ausgeübt und zuletzt wurde er in Dachau erschlagen. In Amerika hatte er seinen Namen geändert, Mark statt Pfennig, das Leben mal hundert. Während Franz Mark auf seinem Weg nach Rom, die italienische Landschaft und Erinnerungen an sich vorbeiziehen lässt, denkt er, dass er noch zwanzig vielleicht dreißig Jahre zu leben hat.Gleich nach der Ankunft im römischen Hotel wird er von einer italienischen Familie für den reichen Onkel aus Amerika gehalten. Es gelingt ihm nur schwerlich, die wimmelnde Familie zu überzeugen, dass er Professor Franz Mark ist und nicht Alfredo, der eine üppige Erbschaft zu verteilen hat. Den satirischen Auftakt der Geschichte nutzt Kesten, um die für den ganzen Roman typischen weltanschaulichen Statements abzugeben.

    ... in New York geboren, in Paris erzogen, in Berlin akademisch ausgebildet, hatte schon vor der Abfahrt gewusst, er gehe gefährlichen Abenteuern entgegen. Manchmal fühlte er Morgens, sein Leben sei eine Sammlung diffuser Schicksale gewesen und abends, er habe kaum zu leben begonnen. Morgens zählte er seine Erfolge und abends seine Niederlagen. Er gehörte zu jenen wenigen Menschen, die Weltkriege, Revolutionen, das allgemeine Schicksal für Teile ihres privaten Lebens halten.

    Keine Revolution findet statt, der Krieg ist vorbei, aber nicht das zeitlose Verlangen nach seiner alten Liebe. Silvia, die er in den letzten Jahren immer wieder durch Zufall getroffen hat und die immer wieder entschwand. Jetzt hört er ihre Stimme am Nebentisch. Sie ist seit fünfzehn Jahren Gattin des erfolgreichen New Yorker Verlegers Middleway. Der Verleger kennt Professor Franz Mark, den sagenumwobene Geliebten seiner Frau. Vor Jahren hat er ihn in sein Sommerhaus in Freeport, Long Island eingeladen. Dort hat er, übertrieben weltmännisch, das Liebespaar der immerwährenden Geschichte ihrer Liebe überlassen.

    Franz und Silvia haben sich Mitte der Dreißigerjahre an einem märkischen See verliebt. Franz war hingerissen von der eigenwilligen und energischen Silvia. Auf einer Bank hatte sie gesessen und geweint. Er hat sie angesprochen. Das Eis war schnell gebrochen. Sie verstehen sich, sind neugierig aufeinander und genießen den Taumel der Großstadt Berlin. Machen Pläne für die Ewigkeit.

    Doch aus Gründen, die Franz selber nicht aussprechen kann, lässt er sich nicht verführen. Silvia zieht die Konsequenz und findet ihre Liebhaber. Einer der Nebenbuhler heißt ebenfalls Franz, Franz Schwarzbach und ist aktiver Kommunist. Franz Mark bringt der koketten Silvia Veilchen, Franz Schwarzbach kommunistische Handzettel.

    Auf einem Sommerball der "Roten Hilfe" wird ein Genosse niedergestochen. Franz Mark, der nur widerwillig mitgekommen ist, flüchtet kopflos. Er wird verhaftet, aber man kann ihm nichts nachweisen. Von der Wohnungswirtin Silvias, der Architektenwitwe Rabe, erfährt er, dass Silvia mit Pippo, dem Kellner aus ihrem Stammcafé, nach Neapel geflüchtet ist. Er schwört sich, Silvia nicht mehr zu lieben. Franz lässt sich von der attraktiven Witwe verführen und versucht zu vergessen.

    Bis hierhin hat Kesten ein imposantes Verwirrspiel um eine ideale Liebe aufgebaut. Doch zusehends werden die Protagonisten zu Stereotypen, deren Lebendigkeit zu Gunsten von moralischen Betrachtungen und ironischen Momentaufnahmen geopfert werden. Der Verleger Middleway wird zur Marionette, der Franz freizügig, im wörtlichen Sinne, seine Frau anbietet. Silvia bleibt die Unantastbare, Umtriebige und Göttliche, die immer wieder entschwindet. Aus Pippo, dem Kellner des Berliner Cafés, wird ein Gewerkschaftsboss in Amerika, der wegen seiner mächtigen Stellung um sein Leben bangen muss. Der Kommunist Franz Schwarzkopf ist zum Botschafter eines kommunistischen Landes mutiert. Man verdächtigt ihn des Landesverrats.

    Auch wenn Kesten seine Figuren über die Ironie hinaus überzeichnet, karikiert, an manchen Stellen die leichten Effekte der Unterhaltungsliteratur nutzt, spannend bleibt es, wenn er die Situationen der Hilflosigkeit einer Liebe in Zeiten der Katastrophen schildert. Mit Humor lässt er Moralvorstellungen wie Sand durch die Finger rieseln.

    Schließlich lockern sich die Fessel der Erinnerung wieder bei Franz Mark. Der Reigen ist zu Ende getanzt. Silvia verschwindet wieder. Sie will in sieben Tagen zurück sein. Franz Mark fühlt wieder die alte Zuversicht, singt Figaros erste Arie und sieht sich im Spiegel an. "Willkommen, alter Freund, sagte er zu sich selber."

    Hermann Kesten hat in seinem Roman "Die Abenteuer eines Moralisten" Stationen seiner Biographie genommen, um die Geschichte einer idealen Liebe zu bewältigen. Er ist ein eigenwilliger Chronist, der immer wieder die großen Themen Geschichte, Exil und Liebe neu angegangen ist. Bleibt die Frage, wo in der heutigen Welt Platz für einen Moralisten wie Hermann Kesten noch ist. Wer mit solch einer Energie wie Hermann Kesten die historische Bühne nutzt, um die Tragikkomödie einer Liebe niederzuschreiben, der hat zeitlose Literatur geschaffen.

    Nach dem Tod seiner Frau verstummt Hermann Kesten. Er stirbt am 3. Mai 1996 im jüdischen Altersheim "La Charmille" in Riehen bei Basel.

    Hermann Kesten: Die Abenteuer eines Moralisten
    Erschienen im Atrium Verlag, Wien, 2007, Euro 19,90