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Liebe in Zeiten von Tito und Stalin

Der dritte Roman von Eginald Schlattner beginnt 1947/48 mit der Vertreibung des rumänischen Königs durch die Kommunisten und endet mit dem Konflikt zwischen Tito und Stalin. In den märchenhaft-magischen Momenten des Buches wird die erdrückende historische Geschichte nicht etwa verharmlost. Es lebt vor allem durch Schlattners Fabulierlust: sprachlicher Reichtum, aufblitzender Witz und überraschende Wendungen.

Von Jan Koneffke | 21.11.2005
    Eginald Schlatter ist ein wundersamer - und wunderbarer - Grenzgänger der deutschen Literatur. 1933 im rumänischen Arad geboren, aufgewachsen in Fogarasch bei Hermanstadt, heute Sibiu, veröffentlichte er sein erstes Buch, den Roman "Der geköpfte Hahn", der ihn schlagartig bekannt machen sollte, erst 1998, im Alter von 65 Jahren. Das Buch endete mit dem Selbstmord des deutschen Botschafters von Killinger in Bukarest, im August 1944, als Rumänien das Bündnis mit Hitlerdeutschland aufgekündigt hatte, und mit dem symbolischen Tod des Erzählers, eines jungen Siebenbürger Sachsen, beim anschließenden Strafbombardement der deutschen Wehrmacht. War der Tod des unschuldigen Erzählers die traurige Bedingung für den Autor? Ist vielleicht auch der Tod des Diktators Ceausescu und des Regimes die Bedingung gewesen, um den "Geköpften Hahn" und den zweiten Roman, "Rote Handschuhe" schreiben zu können, fragte ich Eginald Schlattner, als wir uns in Bukarest trafen.

    "Durchaus, der Tod des Diktators oder der Tod des Regimes, war die Voraussetzung. Ich hätte diese Bücher nie schreiben können unter der Diktatur. Nachdem ich zwei Jahre in Untersuchungshaft bei der Securitate in Kronstadt/Stalinstadt, heute Brasov gehockt bin, und endlosen Verhören ausgesetzt gewesen bin, hätte ich nie die innere Freiheit gehabt, etwas zu schreiben. Und nachdem ich die innere Freiheit nicht hatte, dachte ich mir, auf keinen Fall, Konzessionen machst du keine und anders ergibt es sich nicht."

    Doch Schlattner spricht auch von der anderen, vielleicht noch wichtigeren Bedingung, dem Exodus der deutschen Minderheit aus Rumänien binnen eines Jahres.

    "Denn es gab ja einen doppelten Tod, der dies Schreiben bedingt hat, und zwar war es nicht nur der Tod des Regimes, sondern es war ein paar Monate später oder ein Jahr später auch bitteschön der Tod einer Lebensform, für die es keine Restauration mehr gibt, du kannst noch so optimistisch sein, ich bin durchdrungen vom Gott der Überraschungen und das gibt dem Leben hier auch eine besondere Würze und einen besonderen Charme. Wer weiß, was unserem Herrgott noch alles einfallen wird, der eine ganz andere Phantasie hat als wir. Aber eines weiß ich genau - dafür bin auch der homo technicus, ich bin ja von Haus aus auch Ingenieur, und nicht nur die Statistik belehrt mich, dass aus 14.000 alten Leuten nie mehr ein neues Reis erwachsen wird - die Lebensform achthundertfünfzig Jahre, wie sie sich nun gewandelt hat und die wir noch gelebt haben zu Weihnachten 1989, als beim Weihnachtsgottesdienst in Hermanstadt noch geschossen wurde, eine Restauration gibt es nicht mehr! Und in meiner Kirche, wo es seit drei Jahren keinen Gottesdienst mehr gibt, und wo ich trotzdem jeden Tag hingehe, um den Herrgott zu trösten, der auch nicht weiß, was passiert, ist nach so vielen Jahrhunderten, ein verwöhnter Herrgott hat dort gewohnt, nicht wahr, und der jeden Sonntag auf einen Gottesdienst rechnet."

    Der schockartige Verlust einer Lebenswelt, der Lebenswelt der Siebenbürger Sachsen, scheint Eginald Schlattners Erzähllust beflügelt zu haben. Nach seinen Studien der evangelischen Theologie, der Mathematik und Hydrologie, war er 1957 in Vorbereitung eines stalinistischen Schauprozesses zum Zeugen der Anklage gepresst worden, nicht ohne wegen angeblicher "Nichtanzeige von Hochverrat" selber verurteilt zu werden. Nach seiner Entlassung arbeitete er als Tagelöhner und Ingenieur, bis er zum Gefängnispfarrer in Rosia (Rothberg) wurde. Das Kapital des Pfarrers und Schriftstellers Schlattner ist nicht nur sein reicher Erfahrungsschatz, der sich einem krummen Lebenslauf verdankt, erlittenen Verletzungen und Entbehrungen, aber auch der transsilvanischen Vielvölkerwelt aus Deutschen, Rumänen, Ungarn, Zigeunern - sein Kapital ist vor allem eine erstaunliche Vergegenwärtigungskunst, ja eine Erinnerungspräsens, die der Autor allerdings nicht nur als Rettung, sondern auch als Bedrohung bezeichnet.

    "Wenn einmal der eiserne Vorhang vor der Zukunft fällt, dann wird die Vergangenheit über mich daherrauschen und wird mich in einer Weise verschlingen, dass es mir heute noch graust. In jeder schlaflosen Nacht ist die Vergangenheit in einer Intensität hier. Außerdem, diese übergenaue, Sie sagten vom "Aufleuchten", dieses Aufleuchten der Erinnerung hat auch ein Moment der Vereinsamung, bringt Vereinsamung mit sich."

    "Ich habe aber Angst vor der Erinnerung. Nur, dass diese Bücher doch diese Intensität, diesen Grad an Sinnlichkeit vermitteln, das hängt ganz bestimmt auch damit zusammen, dass diese Dinge in dieser leuchtenden oder brennenden Weise präsent sind."

    Eginald Schlattners neuer Roman "Das Klavier im Nebel" bildet das chronologische Mittelstück seiner beiden Vorläufer. Während jene von den frühen 40er beziehungsweise ausgehenden 50er Jahren handeln, beginnt das neue Buch 1947/48, mit der Vertreibung des rumänischen Königs durch die Kommunisten und endet mit dem Konflikt zwischen Tito und Stalin, Anfang der 50er Jahre. Trotzdem ist "Das Klavier im Nebel" nur bedingt als Abschluss einer Trilogie zu betrachten. Denn mit ihm nimmt Schlattner von der autobiographischen Erzählung seiner unmittelbaren Geschichte Abstand, und schildert stattdessen die teils kuriosen, teils ergreifenden, teils traurigen und teils märchenhaften Liebes- und Lebenserfahrungen eines nahen Verwandten.

    Der junge Held heißt Clemens, ist Sohn des bereits inhaftierten Industriellen Otto Rescher und lebt in Schäßburg (Sigisoara), dem mittelalterlichen Stadtjuwel siebenbürgischer Baukunst. Der Bogen seiner Erlebnisse spannt sich von der Vertreibung der Familie aus ihrem Haus, einer großbürgerlichen Villa, bis zu seinem Besuch in einem Banater Dorf an der jugoslawischen Grenze, das aufgrund des Konflikts zwischen Tito und Stalin von den Behörden komplett - und brutal - umgesiedelt wird. Auch Clemens wird somit erneut vertrieben, aber, da er kein Ortsansässiger ist, nicht zusammen mit der in Viehwaggons verfrachteten Dorfgemeinschaft, in der er endlich Fuß gefasst zu haben glaubte. Wie das zum Bahnhof transportierte Klavier, das am Ende nicht mitreisen darf, am Schluss auf dem Bahnsteig im Nebel zurückbleibt, so bleibt auch Clemens Rescher im Nebel der - willkürlichen und grausamen - historischen Geschichte zurück.

    Der episch ausufernde und gleichzeitig spannend zu lesende Roman lebt aber vor allem durch seine Fabulierlust, die die kühnsten und vergnüglichsten Kapriolen zu schlagen versteht. So platzt in die Rede der kommunistischen Außenministerin Ana Pauker auf dem Marktplatz von Fogarasch ein pompöser Beerdigungszug und hält direkt unter dem Balkon, auf dem die berühmte Genossin ihre flammende Rede hält, um den Verstorbenem vor dem Haus, das ihm einst gehörte und in dem inzwischen die Partei residiert, nach altem Brauch die letzte Ehre zu erweisen. Im offenen Sarg und gebettet auf helles Chevrauxleder, liegt aber nicht der Tote selbst, sondern nur sein schwarz blinkender Hosenknopf, denn das ist die einzige Hinterlassenschaft des bei der Zwangsarbeit ums Leben gekommenen Mannes. Spontan schließt sich die zur Rede der Außenministerin auf den Marktplatz bestellte Menge dem Leichenwagen an, und die Genossin Ana Pauker, von der die Legende geht, ihr sei bei den Verhören durch die königliche Geheimpolizei das linke Ohr abgeschnitten worden - eine Legende, die nicht überprüft werden kann, da eine schwungvolle Haarwelle die linke Gesichtshälfte verdeckt - bleibt am Ende allein zurück und "ihre beiden Ohren flatterten im Wind. Niemanden interessierte diese Sensation. Die Legende jedoch blieb".

    Genauso lebendig und in atemberaubendem Crescendo erzählt Schlattner die brutale Vertreibung der Banater Dorfgemeinschaft am Ende seines Buches, die in einem rumänischen Tanz, der Hora staccato, gipfelt, die Clemens Rescher auf das Klavier hämmert, noch ehe der Zug mit den voll gestopften Viehwaggons den Bahnhof verlassen hat, und mit ihr die Soldaten zum Tanzen bringt. Als der Befehl gegeben wird, man solle ihm die Hände abhacken, ruft der Knecht Eduard Niederkorn - eine der vielen eindrucksvollen, im wahrsten Sinne des Wortes, "fabelhaften" Gestalten in diesem figurenreichen Buch - mit dem Waldhorn und der Melodie "Üb immer Treu und Redlichkeit bis an das kühle Grab" den ihm ergebenen Bienenschwarm herbei. "Sie umschwirrten den jungen Mann am Klavier, bildeten eine Glocke von Schutz und Schirm. Kein Mensch wagte, ihm ein Haar zu krümmen".

    In den märchenhaft-magischen Momenten des Buches wird die erdrückende historische Geschichte nicht etwa verharmlost, wie eine selber zur Ideologie erstarrte Ideologiekritik einwenden könnte, stattdessen stehen diese Passagen für die Einsicht Walter Benjamins, dass es nicht darauf ankomme, die Geschichte so zu schildern, wie sie gewesen sei, sondern in ihr die "Spuren der Hoffnung" lesbar zu machen.

    Eine solche Spur der Hoffung verfolgt Schlattner auch im Mittelteil seines Romans, einem mit "Das Hohelied" betitelten Kapitel. Es handelt sich dabei um die Liebesbegegnung des Helden Clemens Rescher mit der Rumänin Rodica Tatu.

    "Er kommt aus einer bürgerlichen Familie wie auch sie, beide sind durch die Ereignisse nach 1947/48 aus der Beletage gekippt, er ist Arbeiter irgendwo in der Ziegelfabrik und sie ist Kuhmelkerin geworden. Sie ist eine Rumänin, eine Erzrumänin, mit allem, was dazugehört, und er ist ein Siebenbürger Sachse im Jahre 48 bis 50 aus Schäßburg. Und diese beiden Welten, die nun aufeinanderprallen, und nun im Versuch über eine große Liebe irgendwie miteinander zu Harmonie gelangen wollen, das ist das Herzstück dieses ganzen Romans, glaube ich, und da sind beide Optiken drin."

    " Sie nimmt ihn dann mit, mein Gott, über das Gebirge hinüber nach Curtea de Arges, zu den Königsgräbern, nach Bukarest, bis nach Constanza, die Welt wird für ihn immer fremder und fremder und sie ist immer mehr zu Hause. Wir werden sehen, wie das Ende ist. Tillich hat einmal gesagt: Liebe ist die Kraft, die imstande ist, die Brücke zu schlagen zum Ufer des Fremdartigen hinüber. Mann und Frau sind ja sehr fremd, und wenn die Liebe da ist, kann man ja doch hoffen, dass sich daraus eine Kommunion ergibt."

    In diesem Herzstück des Buches geht es Schlattner um nicht weniger als erzählend eine alte Wunde zu schließen. Über Jahrhunderte hatten die Siebenbürger Sachsen die neben ihnen lebenden Rumänen und ihre Kultur nicht zur Kenntnis genommen. Die Liebe des jungen Schlattnerschen Verwandten zu Rodica soll nun die Brücke zur anderen Welt schlagen. Trotz des immer wieder aufblitzenden Witzes und überraschender Wendungen - etwa wenn der Held sich überlegt, in welcher Sprache er Rodica seine Liebeserklärung machen soll und zu guter Letzt die ungarische wählt, "Szeretleg. Das klingt männlich. Und vielleicht versteht sie es nicht." - bewegt sich die Erzählung aber ausgerechnet hier gelegentlich auf Bleifüßen, was vor allem daran liegt, dass die beiden Kulturen sich einander erst recht umständlich erklären müssen. Tatsächlich entschuldigt den Autor seine eigene Liebe zu dem Land Rumänien und seinen Bewohnern, mit der er, unter den Siebenbürger Sachsen, ziemlich alleine dastehen dürfte. Nicht umsonst blieb er da, als Hunderttausende seiner Landsleute die Flucht ergriffen, kaum, dass die Grenzen offen standen. Als wahrer Grenzgänger entpuppt sich aber Eginald Schlattner, als Grenzgänger zwischen den Kulturen, und stellvertretend für ihn sein Held Clemens, der zusammen mit Rodica die Karpaten Richtung Süden in das "Altreich" überschreitet.

    Nicht zuletzt der Sprachreichtum des Buches sorgt für seine Lebendigkeit. Rumänische Sprichwörter, vergessene Liedzeilen, Gedichte und Bibelstellen, Dialekte und altmodische Wendungen, psalmodierender Duktus und Umgangssprache wechseln farbig einander ab. Und sogar der Autor taucht verschiedentlich unter seinen beiden anderen Vornamen Norbert Felix im Geschehen auf, als "siebengescheiter" oder "verdrehter" Cousin, der seinem Verwandtem die ein oder andere Lektion auf den Weg gibt - aber der Leser bekommt ihn nie zu Gesicht. Ein Kunstgriff, mit dem Schlattner Vergangenheit und fernes Land und vor allem sein Alter Ego, Clemens Rescher, auf wunderbare und wundersame Weise beglaubigt.

    Eginald Schlattner: "Das Klavier im Nebel"
    Zsolnay Verlag