Donnerstag, 28. März 2024

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Liebe und Pest in London

Mit der Pest verhält es sich so: Zuerst bekommt der Patient starke Kopfschmerzen. Dann bilden sich in der Leistengegend und den Achselhöhlen große Eiterbeulen, die furchtbar wehtun. Wenn man jetzt den Kranken nicht sofort und richtig behandelt, dauert es nur noch ein paar Stunden, bis er tot ist. Zuletzt ist der Körper übersät mit schwarzen Flecken. Deshalb nennt man die Pest auch "den schwarzen Tod". In früheren Jahrhunderten gab es kein Gegenmittel, weil man nicht wirklich wusste, wie die Krankheit entsteht. Die Ärzte experimentierten mit allen möglichen Methoden. Und dabei sahen sie selbst zum Fürchten aus:

Von Joachim Scholl | 13.03.2004
    Aus der Dunkelheit in Doktor da Silvas Laden kam mir eine monströse Gestalt entgegen, die mich laut aufschreien ließ. Das Geschöpf hatte den Kopf eines riesigen Raubvogels, kleine glänzende Augen und einen großen gebogenen Schnabel, und sein Atem ging rasselnd, als es schwerfällig auf mich zukam. "Bleib weg!" schrie ich. Ich wich zitternd zurück und tastete nach der Tür hinter mir, durch die ich gerade getreten war. Dann hörte ich Schritte durch das Geschäft eilen, und Toms Stimme rief: "Es ist alles in Ordnung, Hannah! Es ist bloß Doktor da Silva." Vor Schreck und Erleichterung brach ich in Tränen aus, und Tom legte seinen Arm um mich. "Es ist der Doktor in der Kluft, die er trägt, wenn er die Pestkranken besucht!" sagte er.
    Man kennt diesen gräulichen Anblick aus alten Bildern: Die Ärzte trugen schwere schwarze Umhänge, damit sie nicht in Kontakt mit der Haut der Patienten kamen. In dem langen Schnabel war ein Kräutersud, durch den man die eingeatmete Luft zu reinigen glaubte. Aber das muss man erst einmal wissen, um nicht zu Tode zu erschrecken, zumal wenn man ein junges Mädchen frisch vom Lande ist. Die 15-jährige Hannah hat einiges auszuhalten, in diesem Sommer des Jahres 1665. Wie hatte sie sich darauf gefreut, aus ihrem kleinen Dorf in die brausende Metropole London kommen zu dürfen! 300.000 Menschen leben hier, eine für Hannah unvorstellbare Zahl, und ebenso unglaublich erscheinen ihr Gewimmel und Größe der Stadt, mit den vielen prächtigen Bauten, den zahllosen Straßen und Gassen, den Kneipen und Geschäften, in denen alles feil geboten wird, was das Herz begehrt. Und dann die vielen eleganten Damen und Herren, die man überall sieht, in vornehmen Kutschen und Sänften! Inmitten dieser Fülle an aufregenden Dingen betreibt Hannahs ältere Schwester Sarah einen kleinen Laden: Sie ist die Zuckermacherin, und die Kunden sind ganz verrückt auf ihre kandierten Veilchen und Orangenscheiben, die glasierten Rosenblätter, gezuckerten Nüsse und köstlichen Karamellbonbons. Aber jetzt, in den heißen Juni-Wochen, vergeht den Menschen allmählich die Lust auf süße Erfrischungen. Denn die Pest ist ausgebrochen und verbreitet sich in der Stadt, die Zahl der Toten steigt mit jeder Woche. Doch Hannah ist entschlossen, sich nicht die Laune verderben zu lassen. Sie ist ein fröhlicher Teenager, der London erobern will – und die blöde Pest ist ja noch weit, in ganz entfernten Stadtteilen! Sarah, die die kleine Schwester zunächst zurückschicken will, wird umgestimmt, jetzt kann es losgehen. In ihrer freien Zeit stromert Hannah begeistert durch die neue aufregende Umgebung:

    Das Royal Exchange, die Börse, war ein stattliches Gebäude aus schwarz gewordenen Steinen, das in der Mitte einen Hof hatte. Vor jedem der zwei Stockwerke befand sich eine Galerie, auf der sich kleine verlockende, von Kerzen beleuchtete Geschäfte aneinander reihten. Gruppen junger Männer standen im Innenhof zusammen und musterten die vorbeigehenden Frauen – diese wiederum taten so, als ob sie sie überhaupt nicht bemerkten. Ab und zu hörte ich einen langen, leisen Pfiff oder schnappte einen Kommentar auf: "Bei Gott!" oder "Sieh dir die an!" Ich versuchte mir zu merken, wie die Leute gekleidet waren, um Sarah später davon erzählen zu können. Die meisten Männer trugen Kniehosen aus Samt in satten Farben, die unten mit Gold eingefasst waren, und dazu schöne knielange schwarze Mäntel mit Silber- und Goldstickerei an den Manschetten. Manche von ihnen trugen Degen oder Dreispitze mit langen Federn, andere kurzen Perücken. Die Allervornehmsten hatten kunstvolle Lockenperücken, und ihre Gesichter waren beinahe ebenso sorgfältig gepudert und mit Schönheitspflästerchen bedeckt wie die der Frauen.

    Mit den großen Augen von Hannah blickt der Leser auf das London von 1665. Mary Hooper hat diese Welt von einst sorgfältig recherchiert, sie ist eine grandiose Erzählerin, die ganz leicht, wie nebenbei zahlreiche Details in ihren Text mischt: Was die Leute so anhaben, wie die Frauen frisiert sind und welche Unterröcke gerade schick sind, interessiert den Teenager Hannah natürlich besonders, aber auch das Leben auf der Straße, der normale Alltag von Arbeit, Essen und Schlafen werden durch ihre Beobachtung lebendig. Dabei gelingen Mary Hooper Passagen, die zuweilen an Patrick Süßkinds Erfolgsroman "Das Parfüm" erinnern. Wenn es etwa um die hygienischen und sanitären Verhältnisse geht: Man macht sich ja heute keinen Begriff davon, wie entsetzlich schlecht die alten Zeiten gerochen haben müssen. Schweine und Hühner wühlen und picken im Schlamm der unasphaltierten Gassen herum, die Nachttöpfe werden morgens einfach vors Haus gekippt, überall ist der Rauch von tausenden von offenen Feuern der Kochstellen. Mary Hooper hat für diese glänzenden Schilderungen vor allem ein berühmtes Buch benutzt: Das geheime Tagebuch des Samuel Pepys. Über mehrere Jahre hat dieser hohe Beamte im Flottenministerium alles genau notiert, was mit ihm und um ihn herum so los war. Seine privaten Aufzeichnungen, die erst 150 Jahre später entdeckt und veröffentlicht wurden, gelten heute als die wichtigste soziologische Quelle für das England des 17. Jahrhunderts. Durch Samuel Pepys weiß die Nachwelt über all die grausigen Einzelheiten der Pest-Epidemie Bescheid, die schließlich mehr als 100 000 Menschen, ein Drittel der Bevölkerung Londons, hinwegraffte. Jedes Kapitel leitet die Autorin mit einem Pepys-Zitat ein, und in einer kleinen versteckten Szene lässt sie den feinen Herrn sogar in Sarahs Zuckerbäckerladen einkaufen, wo der notorische Schürzenjäger, der er auch war, sogleich mit Hannah zu schäkern beginnt. Doch Hannah hat nur Augen für einen, für Tom, den Gehilfen des Apothekers und Doktors da Silva. Zwar hat die schöne, zarte Liebesgeschichte kaum Zeit sich zu entwickeln, aber mit Toms Hilfe gelingt Hannah auf dem Höhepunkt der Seuche, als niemand mehr die Stadt verlassen darf, die rettende Flucht aus London. Und bestimmt werden sie sich wieder sehen...