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Lieber Junge als Mädchen

Das Mädchen Laure kleidet sich wie ein Junge, trägt die Haare kurz, tollt mit Jungs herum und spielt gern Fußball. Im Film "Tomboy" nutzt das zehnjährige Mädchen die Chance zum Geschlechterwechsel und verhält sich wie ein Junge.

Von Josef Schnelle | 03.05.2012
    "Ich bin Lisa. Ich wohne hier. Du bist schüchtern."
    "Ich bin nicht schüchtern."
    "Und verrätst du mir Deinen Namen?"
    "Ich bin Michael. Mein Name ist Michael."

    Da ist es passiert. Das Mädchen Laure kleidet sich wie ein Junge und trägt die Haare kurz. Nach einem Umzug in eine ganz neue Nachbarschaft sieht die zehnjährige in diesem Moment ihre Chance, einmal auszuprobieren, wie es ist als Junge zu leben. Sie tollt mit den Jungs herum, spielt Fußball und hat in dem Mädchen Lisa sogar schnell eine treue Verehrerin. Als junge Michael. Um das gleich einmal klarzustellen. Dies ist kein Film über die Transgender-Thematik. Laure hat einfach ihre Geschlechterrolle noch nicht gefunden. Hin und hergerissen zwischen Mädchenglück und Jungenkraft fasst sie die Gelegenheit am Schopfe, einmal das "andere Ufer" des Geschlechterkampfes zu erkunden. Zum Beispiel beim Fußball.

    "Unsere Mannschaft ist die mit den nackten Oberkörpern."

    Wunderbar leicht und überzeugend gelingt der französischen Regisseurin Céline Sciamma in ihrem zweiten Film ein Ausflug in die Kindheit, in der noch nicht zählt, was alle denken. Sind taffe Jungen wirklich anders als zarte Mädchen? Was interessiert die Geschlechter eigentlich tatsächlich aneinander? All diese Fragen verhandelt die Regisseurin in einer heiteren Sommergeschichte und setzt dabei einen Ton, der alle Fenster weit aufstößt zur vorurteilsfreien Betrachtung des Themas. Wird man als Mädchen geboren und darf gar nichts über andere Geschlechteridentitäten erfahren? Was ist falsch am Rollenspiel im Schwimmbad. Jungs raufen, Mädchen schauen zu. In einer zünftigen Keilerei lässt sich der Chef des Affenfelsens ermitteln. Das Mädchen Laure beherrscht die Regeln und wird als Michael zum anerkannten Alphatier. Doch vor dem Abfrageritual der sowieso besorgten Mutter muss sie sich in Acht nehmen.

    "Hast Du Freunde gefunden?"
    "Nur eine Freundin. "
    "Oh wirklich. Also das ist ja schön. Sonst spielst Du nur mit Jungs."
    "Und wie heißt sie."
    "Sie heißt Lisa."
    "Nimmst Du mich mal mit?"
    "Du bist noch zu klein."

    Die fünfjährige Schwester der Heldin stellt ein gewisses Problem dar. Bald weiß sie alles oder ahnt es zumindest. Laure muss sie mit ins Boot nehmen, ihrer kleinen Verschwörung gegen die gängigen Rollenklischees zu schützen. Doch die kleine Jeanne – immer im Prinzessinnenoutfit - bewundert ihre Schwester, auch wenn sie so brüderlich tut - und hält mit harter kindlicher Konsequenz dicht. Ein bisschen Erpressung ist aber auch dabei, wenn sie ihren Anteil an dem außergewöhnlichen Leben ihrer großen Schwester einfordert.

    "Du tust so als wärst Du ein Junge."
    "Halt die Klappe."
    "Ich werd es Mama sagen."
    "Nein Du wirst nichts sagen."
    "Sei bloß still. Wenn Du nichts sagst, werd ich Dich jeden Tag mitnehmen."

    Natürlich ist der schöne Sommer der Geschlechteranarchie stets bedroht und am Ende kaum mehr aufrecht zu erhalten. Das garantieren schon die Erwachsenen, die eine ordentliche Rollenverteilung einfordern. Ausgerechnet eine Keilerei aus der Laure als Siegerin hervorgeht bringt alles an den Tag. Laure muss ihrer Freundin Lisa alles gestehen und ein Umzug in eine andere Gegend ist wohl unvermeidbar. Vielleicht aber wollte Laure wirklich anders sein und wird von den Erfahrungen dieses Sommers noch profitieren. Der Jury des schwul-lesbischen Teddy-Awards auf der Berlinale war dieser Film einen speziellen Jurypreis wert. Es wäre aber schade, wenn dieser schöne, mit leichter Hand inszenierte ambivalente Film nur als Statement zur Transgender-Frage aufgefasst werden würde.

    Er schildert nämlich den wunderbaren Augenblick im Leben der Menschen, in dem alles noch möglich erscheint mit großer Liebe und Sorgfalt. Es ist noch das Kinderland, in dem wir uns befinden. Als die Jungs zusammen schwimmen gehen wollen, muss sich Laure etwas einfallen lassen. Aus ihrem Badeanzug schneidet sie die rote Badehose heraus. Und aus Kinderknete bastelt sie sich einen kleinen Penis, den sie in der Badehose platziert. Später dann nach dem gelungenen Badeabenteuer weiß sie nicht so recht, wo sie Attrappe unterbringen soll. Da fällt ihr ein. Es gibt doch dieses kleine Döschen mit den Milchzähnen, die sie aufgehoben hat. "Tomboy" ist ein schlichter aber kluger Film der ebenso poetisch wie direkt lauter wichtige Nebensächlichkeiten verhandelt.