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Liebesgeschichte
Bestechend präzise Wahrnehmungsästhetik

Irgendwann hat die Liebe zwischen Marie und dem Ich-Erzähler begonnen, und es bleibt zu hoffen, dass sie nie enden wird. Jean-Philippe Toussaint ist mit seinem Roman "Nackt" ein eindrucksvolles Werk gelungen. Schwerelos erzählt er eine Liebesgeschichte, die sich als eine der schönsten in der französischsprachigen Gegenwartsliteratur entpuppt.

Von Ursula Nowak | 10.11.2014
    Der belgische Schriftsteller Jean-Philippe Toussaint
    Die nackte Protagonistin ist eine "taffe" Geschäftsfrau, wie sie im Buche steht. Einerseits. Andererseits höchst sensibel. (AFP / JEAN-PIERRE MULLER)
    In seinem Roman "Nackt" erzählt Jean-Philippe Toussaint davon, wie es ist, wenn zwei Liebende sich nicht trennen und gleichwohl nicht zusammen bleiben können. Die Beziehung zwischen seinem namenlosen Ich-Erzähler und der Modedesignerin Marie Madeleine Marguerite de Montalte ist eine der paradoxen Art. Marie ist im Modegeschäft tätig. Höhepunkt ihrer Herbstkollektion ist ein Kleid ohne Nähte, ein Kleid wie aus einem Guss: ein Honigkleid. Das Model geht, von glänzender Süße überzogen, nackt über den Laufsteg, begleitet von einem lebendigen Bienenschwarm. Während der Erzähler in seiner Pariser Wohnung vergeblich auf einen Anruf von Marie wartet, erinnert er sich an einen vergangenen Abend. Es war der Tag, nachdem sich die beiden getrennt hatten. Nach zwei Monaten ruft Marie endlich wieder an.
    "Als ich abhob, hörte ich die Stimme Maries, die nur "Hallo" sagte und dann eine Pause einlegte, nicht sofort weitersprach - ich hörte sie atmen, ihr Schweigen - die unentschlossene, zaghafte Marie, die nichts sagte und mich schließlich fragte, ob wir uns sehen könnten. Ich möchte dich gerne sehen, sagte sie mit sanfter Stimme, ich muss dir etwas sagen, und sie verabredete sich mit mir eine Stunde später in einem Café an der Place Saint-Sulpice. (S. 81)"
    Präzision seiner literarischen Schilderungen
    Jean-Philippe Toussaint ist in der Art seiner genauen Beschreibungen ein "écrivain-cinéaste", er schreibt nicht nur, er ist bekanntlich auch ein Regisseur und Fotograf. Seine Wahrnehmungsästhetik besticht durch die Präzision seiner literarischen Schilderungen. Vergleichbar mit der filmischen Zoom-Technik lässt er Szenen und Objekte vor unserem Auge sprachlich entstehen.
    "Ich glaube, für die Beschreibung des Honigkleides hat es mir geholfen ein Filmemacher zu sein, weil ich alle Hintergründe kenne. Ich weiß, wie es bei Drehaufnahmen abläuft mit Kulissen, Beleuchtung, Maske. Ich hatte vor zwei Jahren eine Ausstellung im Louvre, ich weiß, was dort hinter den Vorhängen passiert. Aber alles, was mit der Mode zusammenhängt, kenne ich nicht. Da habe ich keine Erfahrungen. Aber ich habe mir viel vorgestellt."
    In seinen Vorstellungen ist es Jean-Philipp Toussaint bravourös gelungen, ein ihm fremdes Terrain literarisch geradezu perfekt darzustellen. Schillernd tummelt sich Marie in der Modewelt herum. Nackt geht sie nicht nur auf die Bühne, nackt bewegt sie sich auch in der freien Natur, nackt geht sie baden, nackt arbeitet sie in ihrem Garten. Nacktheit ist auch das Ideal ihrer Mode. Vor der Kreation des Honigkleides hatte Marie bereits ein Kleid aus Ginster und Rosmarinzweigen geschaffen, auch ein Sorbet floss in einer Modenschau am nackten Körper eines Models herab. Marie ist nicht nur naturverbunden, sie ist auch ein Großstadtmensch. Routiniert bewegt sie sich mit vollem Terminkalender zwischen Modemetropolen, handelt Verträge aus und kommandiert einen ganzen Stab Mitarbeiter rigide und egozentrisch. Eine "taffe" Geschäftsfrau, wie sie im Buche steht. Einerseits. Andererseits höchst sensibel.
    "..., all das war auch Teil ihrer Persönlichkeit, aber eben nur auf eine sehr oberflächliche Weise, etwas, das sie umschloss, ohne sie zu kennzeichnen, sie umriss, ohne sie zu erfassen, und am Ende nur Schall und Rauch im Vergleich mit der alles bestimmenden einen Eigenschaft, die allein ihren Charakter umfassend kennzeichnete, ihrer "ozeanischen Disposition". Marie fand immer, intuitiv und spontan, eine Übereinstimmung mit den Naturelementen, mit dem Meer, mit dem sie genussvoll verschmolz, nackt im salzigen Wasser, das sie umhüllte, mit der Erde, liebte den ursprünglichen Kontakt mit ihr, wenn sie grobkörnig trocken oder etwas feucht klebend in ihrer Hand lag. Instinktiv erreichte Marie eine kosmische Dimension des Seins... (S. 35)"
    "Ich denke, das ist sehr wichtig, um Marie zu charakterisieren, denn diese Veranlagung ist einzigartig und dieses Adjektiv "ozeanisch", eine Sache wie ein Moor, eine Flut, ein Wasser, das gefällt mir gut und das ist zusammen in dem Buch etwas wie eine Möglichkeit, mit der Welt eins zu sein, mit sich und dem Universum. Das ist charakteristisch für Marie und sehr existenziell, denn es zeigt, dass sie eine sehr tiefgründige Persönlichkeit ist. Aber gleichzeitig ist sie auf der anderen Seite eine Frau des 21. Jahrhunderts, eine Modedesignerin mit vielen superextravaganten Attributen."
    Ein Leben zwischen Nähe und Distanz
    Der Erzähler beobachtet seine geliebte Marie oft aus der Ferne. Oder schaut durch das Fenster. Virtuos konstruiert Jean-Philippe Toussaint das Szenario zweier Menschen, die sich andauernd finden und verfehlen. Ein Leben zwischen Nähe und Distanz. Gegenwart und Erinnerung. Es ist tragisch und komisch zugleich, wie der Erzähler seine Figuren vorführt. Marie ist eine Frau, die in ihrer Unberechenbarkeit den Liebenden spürbar fasziniert.
    "... es war hier, in diesem Zimmer, in dem wir am Ende des Sommers uns geliebt hatten, und in meiner Vorstellung begannen diese beiden Momente, sich zu überlagern, ich befand mich gleichzeitig in der Gegenwart und in der Vergangenheit, in den letzten Tagen des Augusts, als Marie am frühen Morgen zu mir ins Zimmer gekommen war, und im Jetzt, in den Armen Maries schwankend, in der kompletten Finsternis dieses hermetisch abgeschlossenen Raums, dessen Fensterläden zugenagelt waren. Der Ort war derselbe, die Personen waren dieselben, unsere Gefühle waren dieselben, nur die Jahreszeit hatte gewechselt... (S. 157)"
    Der Erzähler erinnert sich an gemeinsame Ferien auf der Insel Elba und an Aufenthalte in Japan. Marie wird zu einem Bild in seinem Kopf. Mal vergleicht er sie mit den Figuren aus Edward Hoppers "Nightwalks", ein anderes Mal mit einem Bildnis von Botticelli. Marie verkörpert die Renaissance und das 21. Jahrhundert in einer Person, sie verhält sich mal kühl und abweisend, mal wie ein hilfloses Mädchen und weint hemmungslos. Über Gefühle sprechen können weder Marie noch der Ich-Erzähler. Beide verharren in ihrer Einsamkeit und in ihrem Zweifel an dem Anderen. Das Bedürfnis nach Distanz und die Sehnsucht nach Nähe sind die zentralen Motive des Romans. Sie treffen auf beide Figuren.
    "In "Nackt" interessiert mich eine Sache sehr: Man sieht immer den Standpunkt des Erzählers. Er beweist Marie seine Liebe, aber er drückt es nicht aus, er sagt es ihr nicht. Er ist immer in der Position des Zweiflers. Er fragt sich, ob sie ihn liebe, warum sie nicht anruft, was wohl passiert sei etcetera. Man kennt immer nur die Position des Erzählers. Der Leser fragt sich vielleicht, ob Marie auch Zweifel hat. Schließlich sind es beide, die zweifeln, alle beide sind besorgt. Das erklärt, dass beide immer bereit sind, sich zu trennen und die Liebe sich nicht einstellt. Jeder erwartet immer den anderen und was Ihnen bleibt, das ist der Rückzug."
    Der Zweifel verhindert sowohl das Zusammensein als auch die Trennung. Minutiös beobachtet der Erzähler Marie und ihre Umgebung. Er versucht, sie wie ein rätselhaftes Gebilde zu entziffern, doch es gelingt ihm nicht. Irgendwann hat die Liebe zwischen Marie und dem Erzähler begonnen, und es bleibt zu hoffen, dass sie nie enden wird. Schwerelos erzählt Jean-Philippe Toussaint eine Liebesgeschichte, die sich als eine der schönsten in der französischsprachigen Gegenwartsliteratur entpuppt.
    Jean-Philippe Toussaint: Nackt. 158 Seiten gebunden; erschienen in der Frankfurter Verlagsanstalt, aus dem Französischen übersetzt von Joachim Unseld, 19,90 Euro.