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Liebesgeschichte eines Zeitreisenden

Nicht immer sind die Klappentexte, die sich Lektoren oder Marketingexperten ausdenken, um das Publikum auf Autoren neugierig zu machen, dazu angetan, diesen Zweck zu erfüllen. Ja, manchmal erzeugt die Absicht, Schriftsteller markig und originell vorzustellen, eher Abschreckungseffekte und mindert die Lust, sich mehr als diesen Klappentext zu Gemüte zu führen. Über Audrey Niffenegger zum Beispiel, eine bis vor kurzem völlig unbekannte amerikanische Schriftstellerin, erfahren wir – dem S. Fischer Verlag sei gedankt - nicht nur, dass sie Kunst und Buchgestaltung am College Chicago Center lehrt, Lewis Carrolls "Alice im Wunderland" und Rainer Maria Rilkes Gedichte liebt, Schmetterlinge und Comics sammelt, sondern auch den für die Lektüre eines Romans nicht unbedingt wissenswerten Umstand, dass der Niffenegger'sche Haushalt ohne ein Fernsehgerät auskommen muss.

Von Rainer Moritz | 26.12.2004
    Wer sich davon nicht vergraulen lässt und den Weg ins Buchinnere findet, lernt ein intelligentes Debüt kennen, das zum großen Überraschungserfolg im allmählich zu Ende gehenden Bücherherbst wurde. Audrey Niffeneggers "Die Frau des Zeitreisenden" eroberte - was Newcomern in der Belletristik zuletzt kaum gelang - die Bestsellerlisten und fand überdies hymnischen Zuspruch aus den Reihen der Literaturkritik. "Die Welt" beispielsweise feierte den Roman als eine der "schönsten Liebesgeschichten" des -
    zugegeben: noch jungen - "Jahrhunderts".

    So viel Überschwang ist verdächtig, zumal an Romanen, die Liebesglück und Liebesleid verhandeln, hierzulande kein auffälliger Mangel herrscht. "Ich wollte eine Liebesgeschichte erzählen, die nicht sentimental oder gar kitschig ist", hat Audrey Niffenegger ihre Absicht in einem Interview beschrieben, und dass dies in großen Teilen gelungen ist, gehört zu den erstaunlichen Qualitäten ihres Buches und verdankt sich einer pfiffigen Idee, die die Struktur des Romans vorgibt. Dessen Protagonisten – der Bibliothekar Henry DeTamble und die Objektkünstlerin Clare Abshire – sind ein Paar, das unter die Kategorie "Schwierige Sonderfälle" fällt. Herkömmliche Dauer ist ihrer Liebe nicht beschieden, denn Henry leidet an einer rätselhaften Erbkrankheit, dem Chrono-Syndrom, das ihn zum unberechenbaren Pendler zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft macht:

    Ich reise durch die Zeit. Im Augenblick bin ich sechsunddreißig Jahre alt. Heute Nachmittag war der 9. Mai 2000, ein Dienstag. Ich war bei der Arbeit, hatte gerade eine Präsentation für eine Gruppe des bibliophilen Caxton Clubs beendet und war ins Magazin gegangen, um Bücher in die Regale einzuräumen, als ich mich plötzlich in der School Street im Jahr 1991 wiederfand. Wie immer war mein Problem, mir etwas zum Anziehen zu besorgen. Ich versteckte mich eine Weile unter einer Veranda. Mir war kalt, aber es kam niemand vorbei, bis schließlich ein junger Typ auftauchte, der wie ein bunter - nun, du hast gesehen, wie ich angezogen war. Ich hab ihn überfallen, ihm sein Geld und alles, was er am Leib trug, abgenommen, außer der Unterwäsche. Er hatte eine Heidenangst. Ich glaube, er dachte, ich will ihn vergewaltigen oder so. Jedenfalls hatte ich was zum Anziehen.

    Henry bricht - ohne dies beeinflussen zu können - von einer Sekunde auf die andere aus seiner Gegenwart aus und erwacht meist in der Vergangenheit, gelegentlich auch in der Zukunft, seiner Kleidung beraubt und von den Menschen mit verständlichem Argwohn betrachtet. Das Motiv der Zeitreise gehört - nicht nur in der Science-Fiction - zum Fundus der Weltliteratur, spiegelt es doch den unstillbaren Menschheitswunsch, aus dem Gefängnis des Hier und Jetzt auszubrechen, das Kommende im Vorhinein zu erfahren und sich als Flaschengeist zu Orten und Menschen der Vergangenheit zu beamen. Als Fünfjähriger macht Henry Bekanntschaft mit seiner seltenen Gabe, und zeitlebens wird es ihm nicht gelingen, die Reisen durch die Zeit zu steuern oder abzustellen.

    Seine Beziehung zu Clare steht von Anfang an unter diesem paradoxen Stern. Im so genannten realen Leben werden sich beide erst 1991 begegnen, als Henry auf die Dreißig zugeht und Clare zwanzig ist. Doch ihr erstes Aufeinandertreffen fand bereits 1977 statt, als eine Zeitreise Henry auf die Wiese vor Clares Elternhaus in Michigan befördert und er weiß sofort, dass dieses Mädchen die Frau seines Lebens werden wird. In unregelmäßigen Abständen und Altersstufen treffen sie immer wieder aufeinander – beseelt von der Aussicht auf das kommende Glück und doch verunsichert durch die Verkehrung der Zeitenfolge. Henrys lapidare Feststellung "Für jemand wie mich ist alles irgendwie kreisförmig. Ursache und Wirkung geraten durcheinander" zwingt Clare dazu, sich von der Normalität eines Teenagerlebens zu verabschieden. Was auf sie zukommen wird, steht fest, und doch hat sie einen Alltag zu meistern, der von Unbestimmtheit und Wartephasen geprägt ist:

    Es ist schlimm, wenn man zurückgelassen wird. Ich warte auf Henry, weiß nicht, wo er ist, und hoffe, es geht ihm gut. Allein zurückzubleiben ist schlimm. Ich sorge dafür, dass ich immer beschäftigt bin. So vergeht die Zeit schneller. Ich gehe allein ins Bett und wache allein auf. Ich mache Spaziergänge. (...) Früher fuhren die Männer zur See, und die Frauen warteten zu Hause, sie standen am Ufer und suchten den Horizont nach dem winzigen Schiff ab. Nun warte ich auf Henry. Er verschwindet unfreiwillig, ohne Vorwarnung. Ich warte auf ihn. Jeder Augenblick des Wartens erscheint mir wie ein Jahr, wie eine Ewigkeit. Jeder Augenblick ist träge und durchsichtig wie Glas. Hinter jedem Augenblick sehe ich endlos aneinander gereihte Augenblicke warten. Warum ist er fort, und ich kann nicht mitkommen?

    Audrey Niffeneggers Liebende bewegen sich auf dünnem Eis. Verlässlichkeit und Sicherheit sind Begriffe, die sich Clare und Henry mühsamer als andere Paare aneignen müssen. Ihre Verbindung wird auf unerhörte Geduldsproben gestellt, und die Kraft beider, sich durch alle Zeitsprünge nicht irre machen zu lassen und Schicksalsschläge unterschiedlichster Art zu ertragen. Und an Erschütterungen herrscht kein Mangel in diesem Buch: Henrys Mutter, eine berühmte Sängerin, wird bei einem Autounfall getötet; sein Vater droht zu verwahrlosen. Clares Mutter leidet unter Depressionen, mit denen die Familie nicht umzugehen weiß, und als Clare und Henry ein Kind haben wollen, folgt Fehlgeburt auf Fehlgeburt, ehe ihre Tochter Alba auf die Welt kommt, die das Chrono-Syndrom von ihrem Vater ererbt hat.

    Audrey Niffenegger bettet diese Wechselfälle in einen Erzählrahmen, der nur anfänglich kompliziert anmutet. Ihr Text, der von Brigitte Jakobeit in ein elegantes, die verschiedenen Sprachregister der Dialoge gut erfassendes Deutsch gebracht wurde, lässt die Ebenen nicht wahllos verschwimmen, sondern strukturiert sie durch Zeit- und Altersangaben. Dadurch wird aus der "Frau des Zeitreisenden" eine spannungsreiche, gelegentlich recht weitschweifige Familiensaga, die durch Henrys Zeitexpeditionen davor bewahrt wird, in Konventionalität zu erstarren. Henrys Krankheit fordert alle Beteiligten heraus, über metaphysische und erkenntnistheoretische Fragen nachzudenken, und zwingt ihn selbst, mit seinem Wissen um die Zukunft behutsam umzugehen. Er kennt den Gang der Geschichte; er weiß, welches Haus er zusammen mit Clare beziehen wird und muss doch die unerfreulichen Besichtungen anderer Häuser klaglos über sich ergehen lassen. Allen Versuchen, diese Irrwege im Nachhinein abzukürzen oder zu verändern, widersteht er, denn Kausalität, so sein Credo, ist "nur vorwärts gerichtet".

    Die Konsequenz dieser Haltung ist offensichtlich: Alles Unglück, das die Handelnden ereilen wird, lässt sich nicht verhindern, so groß die Versuchung sein mag, Warnungen zu formulieren und das Rad anzuhalten. Audrey Niffenegger hat keinen Roman geschrieben, der in philosophische Tiefen vordringt und die mit dem Phänomen der Zeitreise verbundenen Implikationen auf vollkommen neue Weise beschreibt. Doch sie versteht es, das subjektive Leiden ihrer Figuren in ein ungewohntes Licht zu tauchen. Henrys Fähigkeit, den Tod seiner Mutter durch Reisen in seine Kindheit zu überwinden, schafft Glücksgefühle, die die nahenden Schrecken zwar nicht bannen, aber für die Augenblicke der Zeitaufhebung zumindest vergessen lassen.

    Ich sitze ruhig da und denke an meine Mom. Schon komisch, wie Erinnerungen im Laufe der Zeit an Substanz verlieren. Könnte ich mich nur auf meine Kindheitserinnerungen stützen, dann wäre das Bild von meiner Mutter vage und verschwommen, und es würden nur ein paar lichte Momente herausragen. (...) Das zugleich Schönste und Traurigste am Zeitreisen ist die Möglichkeit gewesen, meine Mutter immer wieder lebendig zu sehen. Ein paar Mal habe ich sogar mit ihr geredet, Banalitäten wie: 'Mieses Wetter heute, was?' Ich halte mich vor ihrer Wohnung auf, in der mein Vater noch heute lebt, und sehe mir an, wie die beiden - manchmal mit mir als Kind - Spaziergänge machen, ins Restaurant gehen oder ins Kino. (...) Wenn wir uns über den Weg laufen, winken sie mir zu; sie halten mich für einen aus der Nachbarschaft, einen begeisterten Spaziergänger, einen Mann mit einer komischen Frisur, dessen Alter rätselhafterweise schwankt. Einmal hörte ich meinen Vater fragen, ob ich wohl ein Krebspatient sei. Mich wundert immer noch, dass Dad nie die Idee kam, dieser Mann, der sich in den ersten Jahren ihrer Ehe ständig in ihrer Nähe herumdrückte, könnte sein Sohn sein.

    Audrey Niffenegger fordert ihre Leser auf sanfte Weise dazu auf, sich fremde Perspektiven anzueignen und dieses Geflecht von Zeit und Raum zu entwirren. Und sie tut dies mit allen Mitteln, die ein intelligenter Unterhaltungsroman gegenwärtig zu bieten hat. "Die Frau des Zeitreisenden" ist in vielerlei Hinsicht ein typisch amerikanisches Buch, das jedem "Creative-Writing"-Fortgeschrittenenkurs zur Ehre reichen würde. Audrey Niffenegger entwirft Charaktere mit Ecken und Kanten und bestückt treffsicher eine Bühne, die ideal für Tragödien und Komödien geeignet ist.

    Es geschieht ungemein viel im Leben dieser klein- und großbürgerlichen Helden, und immer wieder ist es die bevorzugte soziale Formation der amerikanischen Literatur, ist es die Familie, die zum Schauplatz aller Dramen wird. Großen Raum nimmt folglich das Weihnachtsfest ein, das auf dem herrschaftlichen Anwesen der Abshires gefeiert wird. Henry wird seinen künftigen Schwiegereltern präsentiert, während Clares Bruder die Familie mit seiner schwangeren Freundin konfrontiert, die nur auf wenig Gegenliebe stößt.

    Weihnachten, dieses Fest der mühsam unterdrückten schlechten Gefühle, eignet sich vorzüglich als literarisches Motiv, wenn es darum geht, familiäre Konflikte einzufangen. Clares Befürchtung, dass Henry im unpassenden Moment auf eine seiner Zeitreisen gebeten wird, erweist sich dabei eher als nebensächlich. Im Mittelpunkt steht die knisternde Feiertagsanspannung, die schönen Schein und nicht Abgründe widerspiegeln soll. Und natürlich geschieht, was geschehen muss: Die Fassade ist nicht mehrere Tage lang aufrecht zu erhalten.

    Der erste Weihnachtstag verläuft eigenartig ruhig nach der hohen See von gestern. Leicht gehemmt versammeln wir uns in Bademänteln und Hausschuhen um den Christbaum. Geschenke werden geöffnet und mit Freudenrufen bedacht. Nach überschwänglichem Dank auf allen Seiten gehen wir frühstücken. Es folgt eine Pause, danach essen wir das Weihnachtsmahl unter großem Lob für Nell und die Hummer. Alle lächeln, zeigen gute Manieren und sehen schön aus. Wir sind eine glückliche Vorzeigefamilie, ein Aushängeschild für die Bourgeoisie. Wir sind alles, wonach ich mich jedes Jahr am ersten Weihnachtstag gesehnt habe, wenn ich mit Dad und Mrs. Und Mr. Kim im Restaurant Lucky Wok essen war und mich unter den ängstlichen Blicken der Erwachsenen bemühte, so zu tun, als würde ich mich freuen. (...) Es ist, als wäre irgendwo in einem der entfernteren Zimmer im Haus ein Waffenstillstand unterzeichnet worden und alle Parteien bemühen sich nun, ihn zu respektieren, zumindest bis morgen, zumindest so lange, bis die nächste Waffenanlieferung kommt. Alle schauspielern wir, geben uns völlig entspannt, mimen die ideale Mutter, den idealen Vater, Schwester, Bruder, Freund, Verlobte. Und so ist es eine Erleichterung, als Clare auf die Uhr sieht, von der Couch aufsteht und sagt: ‚Komm, es ist Zeit, wir gehen zu Laura.'

    Familienkonflikte halten Audrey Niffeneggers Roman zusammen, und je weiter er voranschreitet, desto unklarer wird, welche Zukunft Clare und Henry bestimmt ist. Die Unsicherheit über ihre Familienplanung lässt Henry schließlich einen Verzweiflungsschritt tun. Er missachtet ein einziges Mal den Vorsatz, künftige Ereignisse nicht vorab anderen kundzutun. Als er einen Arzt, Dr. Kendrick, bittet, ihn zu behandeln, zweifelt dieser an der Glaubwürdigkeit seines von Zeitreisen fabulierenden Patienten. Und so hält Henry seine Kenntnis dessen, was den Kendricks widerfahren wird, schriftlich fest und prophezeit den Namen ihres kurz darauf geborenen Sohnes und dessen Down-Syndrom. Kendricks Forschungen können Henry nicht mehr helfen. In nicht gerade maßvoller Anhäufung reiht der Romanschluss Katastrophe an Katastrophe und mündet in die Silvesternacht 2006, als Henry, dem mittlerweile beide Füße amputiert wurden, stirbt und seine Frau und die fünfjährige Alba zurücklässt.

    Es ist Audrey Niffenegger nicht geglückt, ihren Roman über Dauer und Vergänglichkeit der Liebe gänzlich von Sentimentalität freizuhalten. Zu tränenreich ist das Finale geraten, als sich Henry ins Jenseits verabschiedet. Von dort aus freilich unternimmt er auch weiterhin Reisen in sein altes Leben, und Tochter Alba verschmerzt den Tod des Vaters um so leichter, je sicherer sie sein kann, dass Henry zu Stippvisiten zurückkehren wird. Und da beide über die zwiespältige Gabe verfügen, Zeitbarrieren hinter sich zu lassen, treffen sie sich - er als 42-Jähriger und sie als 10-Jährige - auf jener Wiese wieder, wo alles begann:

    'Erzähl mir eine Geschichte', sagt Alba, die an mir klebt wie ein Berg kalter Nudeln. Ich lege meinen Arm um sie. 'Was denn für eine Geschichte?'
    'Eine schöne. Eine Geschichte von dir und Mama, als sie noch klein war.'
    'Hmm. Gut. Es war einmal ...'
    'Wann war das?'
    'Alle Zeiten auf einmal. Vor langer Zeit und in diesem Augenblick.'
    'Beides zusammen?'
    'Ja, immer beides zusammen.'
    'Wie ist das möglich?'
    'Willst du jetzt die Geschichte hören, oder nicht?'
    'Doch, natürlich ...'
    'Also dann. Es war einmal deine Mama, die lebte in einem großen Haus an der Wiese, und auf der Wiese war eine Stelle, die nannten alle Lichtung, und dorthin ging sie immer zum Spielen. Eines schönen Tages, als deine Mama - sie war noch ein kleines Ding und ihre Haare waren länger als sie selber - wieder einmal zur Lichtung ging, traf sie dort einen Mann ...'
    'Ohne Kleider!'
    'Nicht ein Fitzel trug er am Leibn', pflichte ich bei. ‚Und nachdem deine Mama ihm ein Strandlaken gegeben hatte, das sie zufällig bei sich trug, damit er sich anziehen konnte, erklärte er ihr, dass er durch die Zeit reise, und aus irgendeinem Grund glaubte sie ihm.'


    Das ist mit dicker Farbe aufgetragen, und nicht nur in diesem Vater-Tochter-Gespräch überschreitet Audrey Niffenegger in ihrem Bemühen, Leid und Trauer durch Zuversicht zu lindern, die schmale Grenze, die hinüber in kitschiges Gelände führt. Doch wie überladen der Roman am Ende auch wirkt, es verwundert nicht, dass die Filmrechte für "Die Frau des Zeitreisenden" gleich nach Erscheinen verkauft wurden. Und wenig Fantasie ist erforderlich, um sich Brad Pitt und Jennifer Aniston in den Hauptrollen vorzustellen - ein anrührender, auf der Klaviatur von Tod und Liebe spielender Hollywood-Film ist garantiert.

    Audrey Niffenegger dürfte beim Schreiben die eine oder andere Filmsequenz vor Augen gehabt haben - ein Blick, über den viele jüngere amerikanische Autoren verfügen. Der geschickten Komposition ihres Romans ist es zu verdanken, dass die Liebesromanze dennoch nicht zur platten Filmvorlage wird. Denn das Wechselspiel von Aufbruch und Flucht, das Henrys Leben prägt, hält dem Leser immer vor Augen, auf welch schwankendem Boden sich diese Liebe behaupten muss. Und es wird nicht verschwiegen, dass die Ehe mit einem Zeitreisenden außerhalb der Bahnen des Normalen verläuft und dass der verständliche Wunsch aufkommt, diese einzigartige Fähigkeit ablegen zu dürfen. Henrys Abschiedsbrief benennt die Zumutungen, mit denen seine Frau zurechtkommen musste, und er fordert sie auf, ihr neues Leben trotz aller
    Trauer anzupacken.

    Ich finde es schrecklich, mir vorzustellen, dass du wartest. Dein ganzes Leben hast du auf mich gewartet, immer im Ungewissen, wie lange die nächste Wartephase dauern wird. Zehn Minuten, zehn Tage. Ein Monat. Ich bin dir ein unsteter Mann gewesen, Clare, ein Matrose, Odysseus allein auf hoher See hin und her geworfen, mal listig, mal nur ein Spielzeug der Götter. Bitte, Clare. Wenn ich tot bin: Hör auf zu warten und sei frei. Von mir - bewahre mich tief in dir, dann geh hinaus in die Welt und lebe. Liebe die Welt und dich selbst darin, bewege dich durch sie, als böte sie keinen Widerstand, als sei sie dein natürliches Element.

    "Die Frau des Zeitreisenden" ist ein Buch, wie es für lange, dunkle Winterabende nicht besser passen könnte. Es lädt dazu ein, aus der Gewohnheit des kausalen Denkens auszubrechen, und dadurch, dass Audrey Niffenegger ihr Gedankenexperiment an eine mit allen emotionalen Zutaten versehene Liebesgeschichte verknüpft, entgeht sie der Gefahr, sich in blutarmen theoretischen Spekulationen zu verlieren. Und nicht zuletzt verrät dieses Buch viel über jene tief sitzenden Sehnsüchte, die das Innenleben nicht nur amerikanischer Familien bestimmen. Wie man mit diesen Urängsten und Urwünschen zu Rande kommt, davon erzählt dieser Roman eindringlich, und er bietet zu guter Letzt auch Hilfestellung, wenn der weihnachtliche Speiseplan einer Auflockerung bedarf. Wer von deutschen oder polnischen Gänsen genug hat, sollte es wagen, jenen Truthahn aufzutischen, der die Weihnachtsfeierlichkeiten im Hause der Abshires zum Ereignis werden lässt. Es ist der legendäre Truthahn à la Morton Thompson, der unter Kennern als die Krönung der Geflügelschöpfung gilt, wiewohl es viel Zeit beansprucht, bis die Mixtur zusammengerührt ist, aus der sich am Ende die pechschwarze Kruste des hierzulande noch nicht gebührend gewürdigten Tieres bildet. Thompsons Truthahn sei unter den Truthähnen, so heißt es, was Marilyn Monroe unter den Frauen gewesen sei. Vielleicht verlockt Audrey Niffeneggers Roman dazu, die Lieben daheim Weihnachten 2005 mit einem dieser Prachtexemplare zu beglücken. Literatur greift oft auf unterschiedlichste Weise ins Leben ihrer Leser ein.