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Liedgut aus dem Ruhrpott

Die typische Mentalität des Ruhrgebiets drückt sich auch in der vielfältigen Musikkultur der Region aus. Der Hamburger Jochen Wiegandt und der Duisburger Frank Baier haben diese in dem Buch "Glück auf! Liederbuch Ruhr" festgehalten.

Von Michael Kuhlmann | 20.12.2012
    (Musik: MEK Bochum, "Smogalarm")

    "Smogalarm" mit diesem Lied protestierte die Mobile Einsatz-Kapelle Bochum gegen die Umweltbelastungen an der Ruhr. 1979 war das. Die Langspielplatte mit dieser Musik, sie dürfte kaum mehr aufzutreiben sein. Den Text und die Noten aber gibt es nun wieder: im neuen Liederbuch Ruhr. Der Kopf des Projekts, Frank Baier.

    "Ich wollte gucken, ob ich jetzt sowohl das Alte wie auch das Neue so mache, dass die Leute endlich wieder singen können!"

    (Musik: Bergmannschor Homberg, "Glückauf, der Steiger kommt")

    Das Alte, das sind zum Beispiel Lieder wie dieses hier, das Baier schon 1980 zwischen zwei Buchdeckel brachte. Das Neue, das ist Musik aus den 30 Jahren seither, bis hin zum Rap der Gegenwart. Und auch Titel, die mal in der Hitparade standen.

    (Musik: Geier Sturzflug, "Bruttosozialprodukt")

    Auf den ersten 230 Seiten enthält das neue Buch über 100 Lieder. Der zweite Teil des Buches, noch mal so dick, ist ein Lexikon. Das erhellt Hintergründe: über wichtige Liederdichter, über historische Ereignisse. Angereichert ist das Buch mit Fotos: Sie zeigen Arbeiterkapellen, aber auch die Essener Songtage 1968 mit dem Gastspiel eines gewissen Frank Zappa. Die Musikkultur an der Ruhr, sie basierte oftmals auf bekannter Volksmusik, zu der irgendjemand dann mal einen neuen, ruhrpottspezifischen Text schrieb. Zum Beispiel:

    "'Wo man Kohle fördert', das ist auf die 'Nordseewellen', ganz genau: Wo man Kohle fördert und den Hammer schwingt, wo man bei der Arbeit frohe Lieder singt, wo man mit Vergnügen schafft tagaus, tagein, da ist meine Heimat, es kann nur Essen sein."

    Manche Lieder waren so verbreitet, dass es zu ihnen mehrere stadtspezifische Texte gab aus Dortmund, Witten oder Mülheim. Ein Lied über Hamm freilich kam 1968 von dem Westberliner Reinhard Mey.

    (Musik: Reinhard Mey, "Hauptbahnhof Hamm")

    Ortsfremd wie Reinhard Mey war auch der Co-Herausgeber des Buches Jochen Wiegand. Baier nahm bei dem Hamburger eine andere Mentalität wahr.

    "Die nehmen dat lockerer! Hier im Ruhrgebiet ist diese Lockerheit nicht da! Wenn hier die dicken Streiks sind und so'n Stahlstreik 126 Tage läuft, im harten Winter, drüben in Rheinhausen, da und da, dann entstehen auch andere Lieder. Unser Duktus ist ein anderer. Wir reden nicht mehr drumrum, wir packen den Stier bei'n Hörnern. Wir gehen auf das Thema drauf."

    Frank Baier konnte bei der Arbeit am Buch seine Verbindungen nutzen: viele Bekanntschaften von Moers im Westen bis Hamm im Osten.

    "Reden, reden, reden! Du hast dann in Bochum oder in Dortmund irgendwelche Leute! Die kennen dann also... Ich war ja ständig unterwegs... nur immer geguckt, geguckt: Wer konnte noch gute Geschichten erzählen? Das Lexikon sind die Geschichten, die mir erzählt worden sind."

    Viele Lieder sind natürlich nirgends aufgeschrieben. Die ließ Baier sich vorsingen. Zum Beispiel vom Sänger eines Bergmannschores aus Essen.

    "Und dann auf einmal, auf der Toilette, sagt der: 'Kennst Du dat Kruppianerlied?' - 'Nä!' - Während der pinkelt, hat der mir inne Toilette mit Hall von Kacheln und allem Drum und Dran, hat der mir dat Kruppianerlied vorgesungen! Hömma. Genial!"

    Auch weithin bekannte Musik ist im Buch vertreten. Diese Hymne auf den klassischen Ruhrpottimbiss stammt übrigens gar nicht von Herbert Grönemeyer – sondern von Jürgen Triebel und Diether Krebs.

    (Musik: Diether Krebs, "Currywurst")

    Die Currywurst hat es heute an den Imbissständen schwer gegen Döner und Falafel. Auch das gemeinsame Liedersingen ist an der Ruhr nicht mehr so präsent. Frank Baier ist aber optimistisch. Er verweist auf einige Leuchtturmprojekte.

    "Ach! Hier in Duisburg sind mittlerweile Anja Lerch, Jupp Götz. Die machen Mundorgelabende! Die Anja drückt die Tasten, spielt irgendein Lied, die ganzen Leute kriegen den Text an die Leinwand geworfen, lesen den Text und singen sofort mit, weil das eine Melodie ist, die alle kennen. Dat Ding dauert zwei, drei Stunden, und die hören nicht auf zu singen, und beim nächsten Mal is' dat wieder prattevoll. Diese Tendenz ist auf einmal da!"

    Hinzu kommt die neue Musik der Einwandererszene. Im Buch vertreten sind etwa die Sons of Gastarbeita.

    (Musik: Sons of Gastarbeita)

    Bei der Auswahl für das Buch mussten Baier und seine Mitstreiter ein gutes Drittel ihres Materialbergs außen vor lassen. Für diesen Rest hat Baier aber schon eine Idee.

    "Jetzt fange ich an und mache eine Webseite – die heißt 'Der Pott singt' – und tue alles Material, was jetzt nicht in das Buch reingekommen ist, tu ich jetzt in diese Webseite rein, und die Leute können reingehen und gucken und können sich das Material rausziehen."

    "Glück auf! Liederbuch Ruhr. Lieder und Lexikon"
    herausgegeben von Frank Baier und Jochen Wiegand, Klartext-Verlag, 465 Seiten, 24,95 Euro