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Liesl Karlstadt

Die bayerische Komikerin Liesl Karlstadt galt in ihrer Zeit als kongeniale Bühnenpartnerin von Karl Valentin. Doch das Verhältnis der beiden gestaltete sich vor und hinter den Kulissen als kompliziert. Karlstadt wurde sosehr von Valentin in Anspruch genommen, dass sie häufig ihre eigenen Wünsche vergessen musste.

Von Ria Endres | 13.06.2010
    So litt sie unter psychischen Erkrankungen. Ria Endres erinnert in dem nun folgenden Essay an jene kaum beachteten Schattenseiten im Leben der vor fünfzig Jahren gestorbenen "Komikerin mit vielen Gesichtern". Die Autorin ist Essayistin, Dramatikerin und Hörspielautorin. Sie verfasste zahlreiche literarische Frauenporträts, unter anderen über Ingeborg Bachmann und Elfriede Jelinek.



    Liesl Karlstadt
    Komikerin mit vielen Gesichtern
    Von Ria Endres

    Das Komikerduo Liesl Karlstadt und Karl Valentin hat mich schon in den 50er-Jahren als Schülerin begeistert. Zur abgründigen Komik meiner bayerischen Heimat gehörte auch ihr sehr spezieller Sprachwitz. Wir skandierten im Klassenzimmer die Sätze:

    "Wer A sägt, muss auch B sägen, deshalb ist heute die gute alte Zeit von morgen."

    Ich machte mir in der Nachkriegszeit keine Gedanken darüber, wie das kunstvolle Aneinandervorbeireden der beiden entstand. Heute würde man Liesl Karlstadt sicher als Eventkünstlerin bezeichnen. Allein die Tatsache, dass sie Zugharmonika, Klarinette, Piston, Bombardon und selbstverständlich auch Gitarre spielen konnte, zeigt die musikalische Bandbreite des nicht nur musikbegabten Mädchens. Schon 1919, neun Jahre früher als Karl Valentin, machte sie erste Plattenaufnahmen. Das Improvisieren lag ihr. Deshalb war es für sie so selbstverständlich, aus dem jeweiligen Stegreif heraus zusammen mit dem genialen Karl Valentin Stücke zu entwickeln. Fast 25 Jahre standen sie zusammen auf der Bühne, die ja auch eine Bühne des Lebens war. Etwa 400 Sketche und Komödien entstanden. Und so wuchs allmählich eine Art Textamalgam, das gar nicht mehr die Frage zuließ: Was ist von dir und was ist von mir. In der Flut von Valentin-Kommentaren tauchte sie jahrzehntelang allerdings nur wie ein Appendix auf:

    "Er (Valentin) spielt im Terra-Film 'Donner, Blitz und Sonnenschein' die Hauptrolle; Liesl Karlstadt ist wie immer an seiner Seite." Oder: "Er hat sie irgendeinmal entdeckt und sie blieb wirklich 'ein Stück von Ihm'."

    Leider war es Liesl Karlstadt nicht mehr vergönnt, die Veränderung in der Einschätzung ihres künstlerischen Wertes mitzuerleben. Heute bewundert man ihre Komplexität, ihre Fantasie und die herausragende Ausdruckskraft als Verwandlungskünstlerin, die auch als Ideengeberin mehr konnte als die dunkle Ironie und lustvolle Widersprüchlichkeit von Karl Valentin weiter auszuformulieren. Heute würde auf ihrer Web-Seite sicher stehen: Autorin, Sängerin, Schauspielerin, Musikerin, Filmerin, Kabarettistin und Bühnenpartnerin von Karl Valentin. Inzwischen sind auch mindestens drei Manuskripte bekannt, die sie ganz allein geschrieben hat, nämlich: "Geschäftsheirat", "Verein der Katzenfreunde", und "Die deutsche Laugenbretzel", eine Parodie auf Hitlerreden.

    Als Elisabeth Wellano wurde sie am 12. Dezember 1892 in München als Kind eines Bäckers italienischer Abstammung geboren. Die familiären Verhältnisse sind äußerst ärmlich. "Wellano-Italiano, lebst a no" sollen ihr die Kinder nachgerufen haben. Sie flieht aus der häuslichen Armut und macht mit sechzehn Jahren eine Lehre als Verkäuferin im Kaufhaus Tietz. Aber der Umgang mit Posamenten und Kurzwaren genügt ihr nicht und sie gerät in ihrer Freizeit zu einer Dachauer Volkskapelle, singt Soubrette, jodelt in Einaktern und bringt das Vorstadtpublikum im Stück "Am Glück vorbei" - einer Kurzfassung der Kameliendame - zum Weinen. 1911 sieht Karl Valentin die sicher recht unfreiwillige Komik der Elisabeth Wellano. Er spricht sie an. Der dürre, rothaarige Salonkomiker kann sie nicht sofort überzeugen, dass sie beim Singen schmalzig-süßer Lieder ihr Talent vergeudet. Doch ihre Neugierde siegt, sie verlässt das Possenensemble und tritt mit Karl Valentin ab 1913 gemeinsam in allen bekannten Münchner Kabaretts auf.
    Die Münchner Atmosphäre dieser volkstümlichen Varietés beschreibt Lion Feuchtwanger in seinem Roman "Erfolg":

    "Die Zuhörer waren meist Kleinbürger, Leute aus dem Mittelstand, Dreiviertel-Liter-Rentner, Drei-Quartl-Privatiers wurden sie genannt, weil ihr Vermögen zu einem ganzen Liter Bier nicht reichte. Sie saßen in dem harten Licht des nüchternen, mit patriotischen und mythologischen Fresken geschmückten Saales, rauchten Zigarren oder Pfeife, hörten in den Pausen einem großen Blechorchester zu. Während der Vorträge aßen sie. Der eine Abend musste sie entschädigen für die Entbehrungen der ganzen Woche. Also aßen sie. Würste von vielerlei Art; weiße, hautlose; saftige, prall in der Haut steckende; braunrote, dünne, dicke. Wohl auch Kalbsbraten, kunstlos zubereitet. Nierenbraten, Gratbraten mit Kartoffelsalat. Gewaltige Knödel, bereitet aus Mehl und Leberfleisch. Mächtige, gesottene Kalbsfüße. Salzbrezeln. Rettiche. Von den Frauen tranken viele Kaffee, tunkten Nudeln hinein: Rohrnudeln, hoch, gebuchtet, den Rand gebläht, Dampfnudeln, Kirchweihnudeln, dick, schmalztriefend, Krapfen, fett- und zuckerschwitzend. Serviert das alles auf Geschirr aus den Süddeutschen Keramiken Ludwig Heßreiter & Sohn, zumeist mit dem beliebten, sehr blauen Enzian- und Edelweißmuster. Der Saal war voll von Rauch, gleichmäßigem, langsamen Geräusch, Dunst von Bier, Schweiß, Menschen. Alte Bürger saßen behaglich, Liebespaare hockten breit, selig. Höhere Beamte, andere Großkopfige waren zahlreich in die Masse der Kleinbürger hineingesprengt."

    In diese beißend bayerische Atmosphäre passte der italienische Name "Wellano" nicht. Er erinnerte Karl Valentin an Trapezkunst und Zirkus. Deshalb gibt er ihr den Namen Karlstadt, der viel unauffälliger und scheinbar bodenständiger war.

    Auf den ersten Blick erscheint dieser bayerische Künstlername als eher zufällige Namensgebung durch den Mann Valentin. Aber der neue Name Karlstadt offenbart eine nie vollzogene Hochzeit: Das einzige Wort, das Karl Valentin, der eigentlich Ludwig Fey hieß, in diesem Künstlerpseudonym nicht geändert hat, ist Karl. Nur dieses Wort hängt er der Partnerin an und kombiniert es mit dem Wort Stadt. Um in der Sprache Karl Valentins zu sprechen:

    "Karlstadt statt Karl
    statt Karl Karlstadt
    Karl statt Karlstadt
    Karl statt Karl."


    Das Kalauerhafte dieses Wortspiels passt durchaus zur Valentinischen Tragikomik. Doch dieser Kalauer spielt auf der Bühne des Lebens. Liesl Karlstadt hat nicht nur Karls Vornamen bekommen, Karl Valentin hat auch das mit dem Namen verbundene Programm in sie eingeschrieben, das sie als Künstlerin und Frau festlegt.

    Ihr Leben verändert sich. Valentin, immer wieder als ein besessener Künstler geschildert, nimmt sie in eine Welt der Bühne mit, die so grenzenlos ist, dass sie sich völlig darin verliert. Sie entdeckt an sich im Zusammenspiel mit dem ehemaligen Einzelkämpfer schauspielerische Talente, von denen sie als junges Ladenmädchen nichts geahnt hat. Weil sie im positiven Sinn so unfertig ist, wird sie auch offen für das Experimentieren mit ihrem Körper, der auf den frühen Fotografien unauffällig pummelig ist. Ihr Gesicht eignet sich für alle Masken.

    Sie treibt mit Karl Valentin Bewegungsstudien, beobachtet die unterschiedlichen Charaktere auf Münchens Straßen und in den Biergärten, sie spielt mit Valentin die Szenen nach und feilt an der Herausarbeitung des oft beschönigenden, bayerischen Gemüts. Als Komikerin perfektioniert sie aber nicht weibliche, grazile Bewegungen; gerade das Hässliche und Dämonische reizt, die Übertreibung wird Stilmittel.

    Liesl Karlstadt ist bald schon sehr mit der Gestaltung von Typen beschäftigt, die in der dysfunktionalen Welt Valentins herumspazieren, dass die Welt der großen Politik in weiter Ferne liegt. Liesl Karlstadt, übereifrig, trainiert in ihren ersten Rollen als Liesl Karlstadt die Kunst, sich in andere Rollen zu verwandeln. Der Spartakusaufstand, die Münchner Räterepublik, die Ermordung Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs berühren ihr Leben nicht. Spätestens seit 1924 ist das Komikerduo bekannt und die großen Feuilletons der Münchner Zeitungen berichten über die beiden. Zur gleichen Zeit schreibt Hitler "Mein Kampf". Sind die gesellschaftlichen Strömungen eher resignativ und hoffnungslos, so werden in Liesl Karlstadt auf der Bühne große Energien freigesetzt.

    Sie entwickelt ihre Improvisationskunst, ihre Stegreifkomik, überhaupt ihre situative Kreativität und überhört den sich ausbreitenden Lärm des Faschismus. Trotzdem wäre es falsch, ihr eine völlige Blindheit gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungen zu unterstellen. Ihr Spielen, die ausweglosen Dialoge mit Karl Valentin über Alltagsverwirrungen und -irrungen lassen einen parodistischen Umgang mit dem Kleinbürgertum erkennen. Zwar haben die Auftritte des Komikerduos in Münchens Lokalitäten nicht den Charakter einer politisch aggressiven Satire wie in den dadaistischen Berliner Kabaretts, aber viele Künstler der dadaistischen Szene nannten Chaplin und Valentin/Karlstadt bewundernd in einem Atemzug. Das lag vor allem daran, dass das Duo die Darstellungsformen des Slapsticks und der Pantomime wählte und sich oft in surreale Sprachspiele hineinsteigerte.

    In den sogenannten Goldenen Zwanzigerjahren wächst dem Kino eine leuchtende Rolle zu. Viele Lichtspielhäuser schießen aus dem Boden. Mit der großen technischen Dynamik hat das Komikerduo nichts gemein - ihre Auftritte wirken eher bescheiden. Besonders Liesl Karlstadt fällt aus dem Zeitgeschmack der attraktiven, mondänen Künstlerin heraus. Die Amerikanismen der damaligen Zeit fanden in Berlin mehr Niederschlag als in München. Dort war die Frau der Metropole unabhängig; sie rauchte und ging in anrüchige Cafés. Liesl Karlstadt war nicht mondän. Zwar trug sie auch den forschen Bubikopf, es fehlte ihr aber die Eleganz der Großstadtdame. Sie betritt als Komikerin alle Terrains der Verwandlung. In einer langen Reihe von Einaktern, Szenen und abendfüllenden Stücken spielt sie alles, nur nicht die Geliebte oder feine Dame.

    Bevor sie auf der Bühne der berühmte, dick-bornierte Dirigent eines ländlichen Vorstadtvarietés wurde, geht sie mit Bert Brecht und Valentin aufs Oktoberfest und macht den Mann an der Trommel. Sie beherrscht mehrere Blasinstrumente und übt sich mit Valentin in immer wechselnden Improvisationen von Stücken, deren Kunst die Darstellung des Misslingens ist. Ihr erster Biograf Theo Riegler schreibt:

    "Ob sie einen faulen und doch munteren Fotografenlehrling, ein unverschämtes Geheimratssöhnchen, einen behänden Pyrotechniker, einen Schusterbuben oder Feuerwerker darstellt, immer schlüpft sie in ihre Rollen so sehr hinein, dass selbst Freunde sie nicht erkennen."

    Sie scheut in ihrer Körpersprache nicht die extreme Entstellung; sie kann bösartig, beschränkt, nüchtern und überlegen sein. Sie wehrt sich gegen den ewigen Widerpart Valentin auf skeptische oder beschränkte Art. Als Verkäuferin, Kellnerin, Nachbarin, Frau von der Straße und Ehefrau wirkt sie gegen die zerstörerischen Handlungen von Valentin geduldig vernünftig, gerät aber trotzdem in den Sog der Demontage.

    Valentin mutete ihr oft hässliche, verschrumpelte, vollbärtige und milchgesichtige Masken zu, und Liesl Karlstadt imitiert Männer aller Altersstufen in virtuoser, naturalistischer Grausamkeit. Der technische Höhepunkt der Verwandlungskünstlerin ist die "Gerichtsverhandlung", wo sie fünf konträre Personen darstellt. Riegler hält fest:

    "Sie spielte einen Angeklagten mit Vollbart und Hut, einen Preußen mit Spitzbart und Brille, eine Dame der 'besseren Gesellschaft', eine Münchner 'Millifrau' als Ratschkathl und einen kessen Halbwüchsigen."

    In den 20er-Jahren werden Liesl Karlstadt und Karl Valentin bald über die Grenzen Münchens hinaus berühmt. Sie machen allein sechs Tourneen nach Berlin und man feiert sie. Doch mit dem schnell wachsenden Ruhm wird Liesl Karlstadts Dilemma offensichtlich. Beide wirken bei ihren Auftritten gleich stark, Valentin wird jedoch als herausragendes Genie gelobt, während Liesl Karlstadt als Partnerin für die Presse nur als feinfühlige Stichwortgeberin herhalten muss. Allmählich dämmert ihr, was in Wirklichkeit gespielt wird.

    Es ist ihr wohl auch zu wenig, allein auf ihr schauspielerisches Talent festgelegt zu werden. Denn: Die Stücke entstanden ja nicht zu Hause an Valentins Schreibtisch, sondern als Improvisationen auf der Bühne. Jedes Stück wurde aus einem Einfall heraus im Gespräch entwickelt. Selbstverständlich war Liesl Karlstadt nicht nur die stille Sekretärin, die jeden kleinen Satz Valentins notierte. Sie führt ja in der jeweiligen Situation das Gespräch mit ihm. Karl Valentin hat selbst darauf hingewiesen, dass Liesl Karlstadt ganz wesentlich an der Gestaltung der Texte beteiligt war.
    Das Verhältnis Karlstadt - Valentin ist auf der Bühne und hinter den Kulissen kompliziert. Als er sie im "Frankfurter Hof" ansprach, ist er bereits verheiratet. Und er bekennt lakonisch:

    "Ich entdeckte ihr komisches Talent, und wie sie in den ersten Jahren meine Schülerin war, so wurde sie später meine Mitarbeiterin und Mitverfasserin meiner Stücke."

    Er führt Elisabeth Wellano aus der Unscheinbarkeit heraus und sie wird zur Begleiterin eines Komikers, der in der Öffentlichkeit immer distanzierend vom "Fräulein Karlstadt" sprach.

    Wie beinahe alle Komiker ist Karl Valentin ein todernster Mann. Er hat eine entsetzliche Angst vor dem Alltag und sichert sich doppelt ab. Für die abgespaltene Häuslichkeit ist seine Ehefrau zuständig, für das künstlerische Leben Liesl Karlstadt. Eifrig und dankbar wie sie war, lernt sie die schwierige Psyche Valentins zu lesen und mit ihr umzugehen. Er spielt auf der Bühne und im Leben immer seine Rolle als "Fall-lentin", also als jemand, der immer hinfällt; er ist hypochondrisch-hysterisch und über alle Maßen ängstlich, aber das Spiel mit der Destruktion wirkt für ihn befreiend. Valentin darf überempfindlich sein, weil sie so robust ist. Sie übernimmt es, seinen Alltag zu glätten, sie regelt den täglichen Kleinkram, organisiert die Reisen. Sie überredet ihn geduldig zu Tourneen, arbeitet gegen seine Angst an, beruhigt ihn im Zug und auf den Autofahrten, bei denen sie am Steuer sitzt und nicht schneller als 40 Stundenkilometer fahren darf. Sie sagt über den Mann, den sie öfter als "ewigen Partner" bezeichnet hat. Karl Valentin sei eben so autofremd wie weltfremd. So musste sie alles Geschäftliche stets für beide erledigen. Eines Abends hatten sie sich über einen Direktor, bei dem sie gerade engagiert waren, maßlos geärgert und überlegten, wie sie sich rächen könnten. "Weißt, was d´machst", riet ihr Valentin, "glei morgen in der Früh rufst an und schimpfst nach Noten - aber lass di vorher falsch verbinden, dass er´s net hört ... "

    Im Alltag wirft Valentin seine Todesängste auf ihre Schultern und ruht sich an ihrer Seite aus. Er überstrapaziert sie als Alltagskumpelfrau und als heimliche Geliebte. Allmählich erschöpfen sich ihre Energien. Lion Feuchtwanger hat in seinem Roman "Erfolg" das Verhältnis der beiden in einigen Bildern geradezu exemplarisch festgehalten:

    "Unterdessen schminkt sich in seiner Garderobe der Komiker Balthasar Hierl (also: Karl Valentin) ab. Mit Vaseline entfernt er das klägliche Weiß von seiner Nase, das giftige Rot von seinen Backen, mürrisch auf einem plumpen Holzschemel hockend. Leise dabei schimpft er vor sich hin, das Bier sei nicht warm genug; denn er litt am Magen und durfte sein Bier nur gewärmt trinken. Seine Gefährtin, die den Feuerwehrhauptmann gespielt hatte, ein resolutes Frauenzimmer, noch in der Uniform eines Feuerwehrmannes, redete beschwichtigend auf ihn ein; er war schwierig, immer erfüllt von Depressionen. Sie erklärte ihm, das Bier habe genau die vorgeschriebene Temperatur. Aber er murrte nur unzugänglich vor sich hin über die Weibsbilder, die damischen, die immer das letzte Wort haben müssten ... Knurrig, mit gelangweiltem, hochwangigem Kopf, ausgemergelt, in schlotterigen, langen Unterhosen stand er da, kläglich, trank, blinzelte seine Gefährtin an, schimpfte leise vor sich hin. Endlich, er war trotz guter Einnahmen geizig und scheute den Luxus einer Mietdroschke, ließ er sich von ihr zu einem Straßenbahnwagen ziehen. Auf der Plattform drängte er sich an sie, voll Angst vor der Berührung der fremden Leute."

    Von seinen Anforderungen geformt, vergisst Liesl Karlstadt ihre eigenen Wünsche. Um immer da zu sein und ihn nicht zu verärgern, opfert sie einen großen Teil ihres persönlichen Vergnügens. Der Verzicht aufs Bergsteigen fiel ihr besonders schwer: Karl Valentin hatte Angst, dass ihr - und damit auch ihm - etwas zustoßen könnte. Die Angst, sie zu verlieren, äußerte sich in einer übergroßen Eifersucht; er soll ihr sogar verboten haben, zu heiraten. Als sein persönlicher Besitz wurde sie nicht geschont, sie musste ihn bei Laune halten und seine Narrenfreiheit hätscheln. Ihr ungewöhnlicher Trainer fordert alle Rollen. Ging es im Spiel auf der Bühne darum, dass sich die Charaktere aus gegenseitigem Missverständnis heraus quälen, sich falsch aneinander abarbeiten und verwickelte Borniertheiten in kleinlicher Feindseligkeit und Brutalität zeigen, so muss der Alltag durch die glättende Liesl Karlstadt möglichst von allen Widersprüchen frei gehalten werden. Besonders tief aber schaut sie in die Abgründe der Valentinschen Psyche, als sie 1934 das von ihm eingerichtete Gespenstermuseum, sein "Panoptikum" besichtigt. Der passionierte Bastler gestaltet den Gruselkeller effektvoll und mit sadistischer Freude. Liesl Karlstadt hat ihr ganzes Geld in den Keller, der im gleichen Jahr wieder schließen muss, investiert. Die surrealen Objekte schockieren sie. Ihr Erschrecken ist erst der Anfang eines tieferen Erschreckens vor dem Sog, in den sie geraten ist. Valentin hat sie zwar bekannt gemacht, aber er will ihre Probleme nicht begreifen. Ihre Fertigkeiten genügen nicht mehr. Riegler beschreibt sie so:

    "Liesl Karlstadt, ein Unikum der Opferwilligkeit für die gute Sache des Spiels, ein Unikum in der Überwindung aller weiblicher Eitelkeit ... "

    Aber die von Valentin zugewiesenen und von ihr eifrig gestalteten Rollen kosten allmählich zuviel Kraft. Deshalb versucht ihre Psyche, die Ambivalenzen auf regressivem Weg zu beseitigen. Da sie nicht böse sein kann wie ihr Partner, wird sie immer trauriger. Sie kennt nicht die Ursache, nämlich einen aggressiven Konflikt mit dem Narzissmus. Die daraus resultierende Depression ist ein missglückter Kompensationsversuch. Valentin, der seine Neurose voll ausleben konnte, ist zufrieden, die starke Liesl Karlstadt bekommt einen Nervenzusammenbruch, springt in die Isar, wird gerettet und muss sich zwischen 1935 und 1939 einige Male in die Psychiatrie begeben. Aber selbst nach diesem Selbstmordversuch kreiste ihr ganzes Leben, wenn auch aus einer gewissen Distanz heraus, um ihn, den Schwierigen, über den Bert Brecht sagte:

    "Dieser Mensch ist ein durchaus komplizierter, blutiger Witz."

    In Berlin überfällt sie auf der Bühne ein Weinkrampf und sie kann anschließend nicht mehr auftreten. Ab und zu unterbricht sie ihre Aufenthalte in der Klinik, um mit Valentin Kurzfilme zu drehen. Groteskerweise übernimmt sie in der Szene "Beim Nervenarzt" die Rolle des Psychiaters, während Valentin die des Patienten verkörpert.
    Die unerträgliche Symbiose mit Karl Valentin scheint nur durch eine räumliche Trennung lösbar. Während Valentin in München 1939 eine Ritterspelunke eröffnet, verlässt Liesl Karlstadt ihre Heimatstadt, erholt sich in Garmisch und begibt sich schon bald auf die Ehrwaldalm, wo sie bei Gebirgsjägern lebt. Riegler berichtet, dass sie Männerkleider trägt, als passionierte Bergsteigerin Hochgebirgsübungen mitmacht und schließlich als Mulitreiber den Namen "Leutnant Gustl" erhält. Ihre letzte Hosenrolle muss ihr ausnehmend gut gefallen haben, sie passt sich völlig harmonisch in das Leben der Gebirgsjäger ein. Als der Krieg zu Ende ist, kehrt sie nach München zurück. Sie trifft wieder auf Valentin und beide spielen im Simpl, einem berühmten Schwabinger Lokal die "Orchesterprobe".

    Valentin ist sehr geschwächt, er stirbt 1948 an einer Lungenentzündung. In panischer Angst, allein kein Engagement mehr zu bekommen, nimmt sie alle Rollen an, die ihr angeboten werden.

    Liesl Karlstadt verwandelt sich zum letzten Mal. Während die Beiträge Valentins nach dem Krieg vom Bayerischen Rundfunk zwar angenommen, aber nicht gesendet werden - sein abgründiger Witz konnte den Nachkriegshörern nicht zugemutet werden -, entdeckt der Funk Liesl Karlstadts angenehme Mikrofonstimme. Ab 1952 bis zu ihrem Tod im Jahre 1960 spricht sie die Rolle der "Meisterhausfrau" und wird schließlich in der schier endlosen Familienserie "Familie Brandl" die "Mutter Brandl". War für das Komikerduo Valentin/Karlstadt die kleinbürgerliche Familie ein wahres Horrorkabinett, so hat sich Liesl Karlstadt als "Mutter Brandl" jeder clownesken Provokation entledigt. In ihrer letzten Rolle trieft sie vor Edelmut und Biederkeit. Liesl Karlstadt hört auf, eine Verwandlungskünstlerin zu sein. Ihr Nachkriegston bleibt gleichmäßig fest, gütig und katholisch. "Familie Brandl" als Wiederaufbaugemeinschaft, Liesl Karlstadt als Funkmutter - die gutgemeinte Unterhaltung als Vorbild für die bayerische Familie.

    Liesl Karlstadt fühlte sich in dieser Einrahmung, die sie in den 20er-Jahren allenfalls persifliert hätte, wohl. Auf der Straße sagt man zu ihr: "Grüß Gott, Mutter Brandl". Zum ersten Mal hat aber nicht sie den Preis für ihre Verwandlungskunst zahlen müssen, sondern die Kunst.