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Lina Wolff: "Die polyglotten Liebhaber"
Ende des Verständnisses

Lina Wolff beschreibt den schwedischen Literaturbetrieb als einen Haufen haltloser, egozentrischer Chauvinisten. Die Zeiten jedoch, in denen Frauen versucht haben, diese verirrten Genies zu verstehen, sind vorbei. Nun zerstören sie, protestieren und urinieren.

Von Miriam Zeh | 01.02.2019
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    "Die polyglotten Liebhaber" lässt sich auch als feministische Parabel auf die Literaturgeschichte lesen. (Buchcover Hoffmann & Campe Verlag, Autorenportrait privat)
    Verständnis zwischen Männern und Frauen sucht man bei Lina Wolff vergeblich. "Die Polyglotten Liebhaber" und Liebhaberinnen kommunizieren im gleichnamigen zweiten Roman der Autorin schlichtweg in unterschiedlichen Sprachen aneinander vorbei. Der berühmte Schriftsteller Max Lamas und der angesehene Literaturkritiker Calisto Rondas vertrauen auf schriftliche Ausdrucksformen. Sie glauben an die Literatur und an ihren Bruder im chauvinistischen Geiste, Michel Houellebecq. Trotzdem irren die beiden gebildeten Herren, die vermeintlichen Genies allein und unverstanden durchs Leben. Keine Frau kann ihnen intellektuell das Wasser reichen, wie der alternde Schriftsteller Max beklagt:
    Manchmal stellte ich mir eine Frau vor. Eine blutjunge polyglotte Liebhaberin mit großen, weichen, nach Milch duftenden Brüsten. Eine Liebhaberin, die dieselben Sprachen sprach wie ich, mit der ich mich in sämtlichen Sprachen unterhalten konnte, ein paar Wörter in dieser, ein paar Wörter in jener Sprache. Ich stellte mir vor, welche Intimität eine derart nahtlose Kommunikation ermöglichen könnte."
    Ein Manuskript brennt als Vergeltung
    Von seiner Ehefrau verlassen und von seiner letzten Affäre auf offener Straße verflucht verfasst der gekränkte Max eine sexistische Abhandlung über die Unterlegenheit des weiblichen Geschlechts. "Die polyglotten Liebhaber" lautet ihr Titel. Literaturkritiker Calisto soll das Werk vor der Veröffentlichung für seinen Freund begutachten und verwahrt die einzige Version dieser Schrift wie einen Schatz in seinem Arbeitszimmer.
    Vor rachsüchtigen Frauen ist sie hier jedoch nicht sicher. Nachdem Calisto eine deutlich jüngere Bekanntschaft aus dem Internet in seine Stockholmer Villa gelockt und vergewaltigt hat, übt diese Vergeltung. Während Calisto schläft, verbrennt Ellinor das Manuskript der "polyglotten Liebhaber". Die einfache Frau aus der schwedischen Provinz kann mit Büchern zwar nichts anfangen. Den Wert, den das Schriftstück für Max und Calisto hat, begreift sie jedoch sofort.
    Noch viele Wochen nach diesem Vorfall wird Ellinor im Haus des Literaturkritikers wohnen bleiben, zunächst von einer unerklärlichen Faszination für den rüden Calisto gefesselt. Sie wird einige Bücher aus seinen Regalen lesen, aber diese intellektuelle und patriarchale Welt doch niemals wirklich verstehen. Denn auf ihrem Dorf hat Ellinor eine ganz andere Sprache erlernt. Ihr erster Freund brachte ihr bei, wie man "sich richtig krass prügelt" – und Ellinor fand Gefallen daran.
    "Beim Kämpfen kann sich keiner was auf seine Jugend oder Schönheit einbilden, beim Kämpfen kriegst du nichts geschenkt, du musst dir alles hart erarbeiten. Als ich mich später mit Leuten anfreundete, die nicht aus dem Dorf kamen, fehlte ihnen jedes Verständnis, warum ich meine Zeit so verbrachte, wo ich doch stattdessen ein gutes Buch hätte lesen, mich mit netten Leuten treffen oder ein Glas Wein trinken können."
    Sie versteht nur die Sprache der Körper
    Die körperlich ausgelebte Aggression ist fortan Ellinors bevorzugte Sprache. Regelmäßig trifft sie sich mit Kombattanten in einem sogenannten "Kampfklub" im Untergeschoss einer Schule.
    "Nie bin ich einem anderen Menschen so nah gewesen wie damals im Keller."
    Lina Wolff konstruiert in ihrem Roman keinen stringenten Handlungsverlauf. Drei verschiedene Figuren lässt sie jeweils eine Zeit lang in durchaus eigenem Tonfall erzählen, bis aus den ineinander verzahnten Perspektiven ein übergeordnetes Bild entsteht. Der Weg dorthin führt über zahlreiche Umwege, die vielen mitunter nicht unbedingt anschlussfähigen Nebenfiguren einen aufwändig illustrierten Charakter geben. Leitmotivisch taucht dabei immer wieder der Wunsch auf, endlich zu verstehen, sich endlich einer Sprache zu bemächtigen und Teil einer Sprachgemeinschaft zu werden, aus der man bisher ausgeschlossen war.
    Verstehen ist Macht
    So ist etwa von einem einfachen süditalienischen Mütterchen zu lesen, das eines Tages unvermittelt in den einzigen Buchladen ihres Dorfes platzt und wild entschlossen nach einem "Meisterwerk der Literatur" verlangt. Auf Anraten des Buchhändlers ersteht die ungebildete Frau eine überteuerte Ausgabe von Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit". Einen heftigen Streit mit ihrem Ehemann wird ihr dieser Kauf einbringen. Er hält Bücher für reine Geldverschwendung. Tatsächlich muss die alte Frau bereits nach wenigen Seiten einsehen, dass sie zwar die Buchstaben entziffern kann, aber kein Wort von der Erhabenheit dieser Literatur versteht. Fortan verstaubt der ungelesene Proust im Regal. Doch die erfolglose Leserin versäumt nicht, ihrem einzigen Sohn hoffnungsvoll einzuschärfen:
    "Wenn ich sterbe, erbst du den Proust. Du wirst alle sieben Bände lesen, und du wirst die Schönheit darin entdecken, von der uns der Buchhandler erzählt hat. Ich will, dass du sie siehst, für deinen Vater und für mich. Gib nicht auf, bevor du die Schönheit gesehen hast."
    Eine Parabel über den sexistischen Literaturbetrieb
    "Die polyglotten Liebhaber" lässt sich auch als feministische Parabel auf die Literaturgeschichte lesen. Während das süditalienische Großmütterchen noch mit aller Kraft versucht, über die Lektüre kanonischer Werke in den bürgerlich-elitären Kreis der Wissenden aufgenommen zu werden, ist das für die Frauen zwei Generationen später nicht mehr von Belang. Ellinor zerstört kurzerhand das chauvinistische Werk Max Lamas‘. Zuvor wird eine andere rachsüchtige Frau bereits darauf uriniert haben.
    Männer haben auch in der erzählten schwedischen Gegenwart immer noch die Deutungsmacht in ihren Händen. Sie schreiben und rezensieren egozentrische Bücher über sich selbst und ihre Gespielinnen. Die Frauenfiguren in Lina Wolffs Roman wollen diese Fremdinterpretationen jedoch nicht länger tatenlos dulden. Anstatt sich aber auch der männerdominierten literarischen Sprache zu bemächtigen, schreiten sie lieber zur Tat. Sie fluchen, zerstören und üben bei Lina Wolff einen durchweg anti-intellektuellen Protest gegen das Patriarchat. Nicht immer kann die Autorin dabei an die brillante Entrückung einer Miranda July heranreichen, die als Referenz wiederholte Male mitschwingt. Doch auch Wolffs lakonischer, oft rätselhaft schwebender Stil steht diesen Frauenfiguren hervorragend. Am Ende ist zwar keine gemeinsame Sprache gefunden, aber viele Emotionen haben sich Ausdruck verschafft.
    Lina Wolff: "Die polyglotten Liebhaber", aus dem Schwedischen von Stefan Pluschkat, Hoffmann und Campe, Hamburg, 288 Seiten, 22 Euro