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Lineares Erzählen ist out

McSweenys ist einer der bedeutendsten Verlage der USA, der sich in Los Angeles seit den 90er-Jahren als Trendsetter der experimentellen Erzählkunst profiliert. In einem solchen Verlag mit "Menschen aus Papier" zu debütieren, war für den Autor Salvador Plascencia der wohlverdiente Glückstreffer für sein hervorragendes Erstlingswerk.

Von Margrit Klingler-Clavijo | 06.07.2009
    Der Roman "Menschen aus Papier" spielt weitgehend in El Monte. Dort hat sich Federico de la Fe mit seiner Tochter Little Merced niedergelassen, nachdem sich seine Frau Merced in ihrem mexikanischen Heimatdorf Las Tortugas einem Europäer zugewandt hatte. Vater und Tochter waren daraufhin per Bus in die USA gereist und hatten unterwegs merkwürdige Leute kennen gelernt: Ein Baby namens Nostradamus, das in die Zukunft sehen kann sowie eine Frau aus Papier. Ursprünglich wollte Federico de la Fe in einer Kleiderfabrik arbeiten, verdingte sich dann aber auf den Feldern bei der Blumenernte, was Salvador Plascencia wie folgt beschreibt:

    Die Besitzer der Plantage zahlten dreißig Cent für jedes Pfund Nelken und fünfzig für die dornigen Stiele der Rosen. Die meisten pflückten am frühen Morgen, bevor der Tau verdunstet war, denn dann wogen die Waagen nicht nur das Gewicht der Stängel und Blätter, sondern auch das der kondensierten Wassertröpfchen. Manchmal, durch Zufall oder List, gelangte ein Steinchen in den Pflückkorb und anschließend in die Waagschale. Und anders als in den Kleiderfabriken, in denen nur zweimal monatlich Schecks ausgestellt wurden, bekam man seinen Lohn auf der Plantage täglich ausbezahlt.

    Bisweilen ist Federico de la Fe tief betrübt, weil er die Trennung von seiner Frau nicht verwindet. Das gesteht er sich jedoch nicht ein, vielmehr schreibt er seine Traurigkeit dem negativen Einfluss von Saturn zu und ruft zum Krieg gegen ihn auf. Zuvor hatte er den Bewohnern von El Monte noch geraten, ihre Häuser mit Bleiverkleidungen vor Saturns verheerendem Einfluss zu schützen. Zu seinem Freund Smiley hatte er gesagt:

    Eines Tages, Smiley, wirst du eine eigene Frau haben, vielleicht auch eine Tochter und einen Sohn, und du wirst nicht wollen, dass Saturn dich bedrohlich beobachtet. Wir greifen
    jetzt an. Geh in dein Haus und schließe die Tür. Wir sperren Saturn aus. Wenn wir freie und unabhängige Menschen sein wollen, frei von der Tyrannei Saturns, bleibt uns keine andere Wahl. Sag unter unbedecktem Himmel nichts, denk nur zusammenhanglos und unlogisch, damit wir frei sein können. Er beendete seine Rede, klopfte mir auf die Schulter und ging. Ich gehorchte, nahm aber den langen Weg nach Hause, lief unter freiem Himmel und dachte darüber nach, was er gesagt hatte. Woher wusste Federico de la Fe, dass es Saturn gewesen war, der ihm die Frau genommen hatte?


    Im Roman ist Saturn jedoch nicht nur einer der Planeten des Sonnensystems, der wie das unsichtbare Auge Gottes über die Geschicke von El Monte wacht, sondern steht auch als Synonym für einen parteiischen und profitorientierten Erzähler, der sich seines "Machismo" nicht bewusst ist, was den Protest der Leserinnen heraufbeschwört. Seine ehemalige Geliebte Kamerun, die er in einer ersten Fassung des Romans "Menschen aus Papier" im marokkanischen Asilah ins Meer geworfen hatte, wo sie von den Haien verschlungen wurde, fragt sich daher, weshalb sie in einem Roman, in dem ja vieles möglich ist, ein so einfallsloses Schicksal ereilt hatte. Aber sie wusste warum. Es war das Schicksal von Frauen, die zu viel wissen, Frauen, die Saturn in seinem Stolz verletzen können. Denn letztlich ist Saturn ein Tyrann, der die Geschichte lenkt, wie er will. Deshalb kämpfen sie gegen ihn, deshalb verstecken sie sich unter Blei und versuchen, ihn an den Rand zu drängen.

    Ganz schlecht weg kommen in dem Roman die monotheistischen Religionen, vor allem das Christentum und der Papst in Rom. Nicht nur wegen der rigiden Sexualmoral. Seit der Conquista hat die katholische Kirche in Mexiko und Lateinamerika die indigenen Völker und deren Kosmogonien missachtet und verteufelt. Und in El Monte bekommt das der von den Einwohnern hoch geschätzte Heilkundler Apolonio zu spüren.

    Seit dem Tag, an dem seine Mutter in der Hitze des Heiligenscheins der Jungfrau Maria verbrannte, war Apolonio kirchlichen Autoritäten gegenüber skeptisch. Niemals betrat er kirchlichen Boden, auch nicht bei Volksfesten; wenn die Glocken läuteten, machte er sich jedes Mal danach die Ohren sauber, und wenn Spendenumschläge unter seiner Tür durchgeschoben wurden, fasste er sie nur mit Latexhandschuhen an und achtete darauf, keine Fingerabdrücke zu hinterlassen. Apolonio kannte den Zauber und die Alchimie, wie Heilige und Engel sie praktizieren, doch sie erkannten ihn nicht an, in den Augen Roms galt er als illegal und war daher ständig auf der Hut, achtete darauf, keinem Vertreter der Kirche in die Quere zu kommen.

    Die Frau aus Papier, der Little Merced auf der Busreise in die USA begegnet, war die erste Papierfigur, der der Origami-Künstler Antonio Leben eingehaucht hatte und so den Menschen aus Fleisch und Blut, Menschen aus Papier zur Seite gestellt hatte, verletzliche und vergängliche Wesen, angespornt von unbändigem Freiheitsdrang, ausgestattet mit üppiger Fantasie und beseelt von dem Wunsch, die Traurigkeit zu überwinden. Die grafische Aufmachung und die Textgestaltung des Romans sind ungewöhnlich: Etliche Seiten sind in mehrere Spalten unterteilt, sodass verschiedene Romanfiguren gleichzeitig zu Wort kommen. Manche Seiten sind ganz oder teilweise geschwärzt, andere unbeschrieben oder mit Lautmalereien und Zeichnungen versehen, gelegentlich gar mit Tarotkarten illustriert.

    Das lineare Erzählen ist out und die Autorität des allwissenden Erzählers wird von einer Vielfalt im Widerstreit liegender Stimmen bezweifelt, konterkariert und parodiert. Das Themenspektrum ist komplex: Migration; metaphysische Spekulationen, künstlerischer Schaffensprozess, Geschlechterkampf. Allerdings ist das nur ein unzureichender Orientierungsversuch in einem Roman mit fließenden Übergängen zwischen Fakten und Fiktionen. Wie im Mai 1968 "ist die Imagination an der Macht" und gegenüber Helden und Heiligen dominieren Spott und Respektlosigkeit. "Menschen aus Papier" ist ein wunderbar schräger und subversiver Roman, den man getrost mehrmals lesen kann, ohne sich zu langweilen.

    Salvador Plascencia: "Menschen aus Papier", Übersetzung Conny Lüsch, Edition Nautilus Hamburg, 19,90 Euro