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Linguistik
3.000 Sprachen weltweit vom Aussterben bedroht

Derzeit gibt es noch knapp 7.000 Sprachen. Nach Schätzung der UNESCO wird bis Ende des 21. Jahrhunderts nur noch die Hälfte davon existieren. Die Gesellschaft für bedrohte Sprachen warnt, dass damit auch sehr viel Wissen verloren gehen wird - und sehr viele Möglichkeiten des menschliches Denkens.

Von Wiebke Bergemann | 04.01.2018
    Junge Indigene in Kanada erobern die Kultur ihrer Vorfahren zurück - zwei Mädchen auf einem Pow Wow.
    Junge Indigene in Kanada (imago/ZUMA Press)
    Der Linguist Frank Seifart zeigt ein Video aus Nordbrasilien. Mit Unterstützung der Gesellschaft für bedrohte Sprachen hat ein junger Fulni-o Indianer Gesänge und Interviews aufgenommen.
    Am Ende des Films fordert ein alter Mann die junge Generation auf, ihre Muttersprache nicht aufzugeben: "weil wir sonst aufhören, zu existieren".
    Meist sind indigene Sprachen betroffen
    Übersetzt Seifart die Sorge des alten Indianers. Denn längst ist Portugiesisch als Nationalsprache Brasiliens auch die bevorzugte Sprache der jungen Fulni-o. Ihre Muttersprache ist eine von schätzungsweise über 3.000 Sprachen weltweit, die vor dem Aussterben bedroht sind. Der internationale Katalog der Bedrohten Sprachen geht davon aus, dass jedes Jahr weltweit vier Sprachen verschwinden. Es sind meist indigene Sprachen mit vergleichsweise wenigen Sprechern.
    Während die Hälfte der Weltbevölkerung eine der 19 großen Sprachen spricht, wie etwa Chinesisch, Englisch oder Spanisch, spricht die andere Hälfte der Menschheit eine von knapp 7.000 kleinen Sprachen.
    "Wenn eine Sprache nicht mehr von Kindern gesprochen wird, dann wird sie innerhalb einer Generation ausgestorben sein. Und wenn nur noch Großeltern die Sprache sprechen, dann nennen wir das eine moribunde Sprache, deren Aussterben kurz bevor steht."
    So liegt in jeder Sprache eine eigentümliche Weltansicht, schrieb vor fast 200 Jahren Wilhelm von Humboldt. Und dass jede Sprache das ganze Gewebe der Begriffe und die Vorstellungsweise eines Teils der Menschheit enthält.
    Besonderes Vokabular und Grammatik
    Tatsächlich stoßen Sprachwissenschaftler in den kleinen Sprachen immer wieder nicht nur auf ein besonderes Vokabular, sondern auch auf bislang unbekannte grammatische Kategorien. In vielen indigenen Sprachen des Amazonasgebiets etwa richtet sich die Verbform nach der Evidenz des Gesagten, also wie hoch der Wahrheitsgehalt eingeschätzt wird. Zum Beispiel in der Bora-Sprache:
    "Wo ich dann zum Beispiel sagen würde Zabe-wa, wenn ich sage, er ging, aber ich habe es nicht selber erlebt, sondern von jemandem gehört. Wenn ich es selber erlebt habe, dann sage ich Zabe. Und wenn ich irgendwelche andere Evidenz dafür habe, weil sein Haus ist jetzt leer, zum Beispiel, dann sage ich Zabe-aka."
    Die Sprachwissenschaft geht davon aus, dass eine relative Einsprachigkeit wie heutzutage in Deutschland historisch der Ausnahmefall ist. In den meisten Gesellschaften wurden und werden noch heute mehrere Sprachen gesprochen.
    Mit dem Verlust einer Sprache kommen oft soziale Probleme
    Die Verdrängung durch die jeweiligen National- und Kolonialsprachen hat vor allem in den letzten 30 Jahren zugenommen – seit die kulturell dominanten Sprachen nicht mehr nur von den Eliten gesprochen werden, sondern in alle Ecken und Schichten der Gesellschaften vordringen. Für den Vorsitzenden der Gesellschaft für bedrohte Sprachen, Professor Nikolaus Himmelmann, hat der Verlust der sprachlichen Vielfalt nicht nur wissenschaftliche, sondern auch gesellschaftliche Konsequenzen.
    "Da geht sehr viel Wissen verloren und sehr viele Möglichkeiten wie menschliches Denken funktioniert. Was gesellschaftlich verloren geht, sind wesentliche Möglichkeiten der Identitätsabgrenzung und -findung. Und wir sehen, dass in sehr vielen Sprachgemeinschaften, wo Sprachen verloren gehen, das sehr oft auch mit sozialen Problemen einhergeht, mit Alkohol, Drogenkonsum, hoher Arbeitslosigkeit. Weil mit der Sprache die ganze traditionelle Identität verloren geht."
    Bilingualer Unterricht
    Ein erster Schritt zur Rettung bedrohter Sprache ist die Dokumentation. Aus Wörterbüchern und Grammatiken kann etwa Unterrichtsmaterial für Schulen erstellt werden. Die Gesellschaft für bedrohte Sprachen fördert zudem die Mehrsprachigkeit in den betroffenen Gemeinschaften. Dazu gehört zum Beispiel bilingualer Unterricht.
    Dagmar Jung von der Universität Köln berichtet, wie in Nordkanada die Schulen in einigen Dörfern der Dene-Indianer erfolgreich dazu übergegangen sind, die Kinder zunächst in ihrer Muttersprache zu unterrichten und erst ab der 3. Klasse langsam Englisch einzuführen.
    "Als das Programm eingerichtet wurde, wurden die Standard Schultests in der 5. Klasse wiederholt mit den Kinder, die jetzt das Dene-Curriculum durchlaufen hatten, und der Test hatte sich dramatisch verbessert. Plötzlich waren die Dene-Kinder genauso gut wie der Durchschnitt. Das heißt der muttersprachliche Unterricht hat dazu geführt, dass diese schulischen Konzepte gut vermittelt werden konnten."
    Es braucht mehr als Unterricht in der Muttersprache
    Allerdings konnte der bilinguale Unterricht nicht verhindern, dass auch in diesen Dene-Dörfern die Kinder sich inzwischen von ihrer Muttersprache abwenden.
    Um die Sprache für Kinder und Jugendliche attraktiver zu machen, müssten Computerspiele und Smartphone-Apps auf Dene entwickelt werden, meint die Sprachwissenschaftlerin Jung. Nicht zuletzt, um gegen das Bild einer veralteten und nutzlosen Sprache anzugehen.
    Doch wenn die letzten Sprecher einer Sprache verstorben sind, bleiben oft nur noch Fragmente. Auf den Spuren des fast ausgestorbenen Resigaro im peruanischen Amazonas-Gebiet hat der Sprachwissenschaftler Frank Seifart eine Frau getroffen, die sich an ein Lied von ihrem Großvater erinnert. Doch die Worte versteht sie nicht.