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Linguistische Gesellschaftsforschung
Wie Worte wirken

An Neuschöpfungen wie "Abstrichzentrum", "Beherbergungsverbot" oder "Covidiot" wird klar - Sprache reagiert auf eine veränderte Wirklichkeit. Aber Sprache kann auch Wirklichkeit schaffen; wenn sie diskriminiert oder herabsetzt. Linguistische Analyse kann dabei helfen, solche Mechanismen offenzulegen.

Von Doris Arp | 06.05.2021
Auf einem Bildschirm ist das Wort «Schüler*innen» zu sehen.
"Gendern" in Schrift oder gesprochener Sprache sorgt immer noch für Aufregung - das Nichtverwenden bestimmter "Tabu"-Begriffe ist hingegen weitgehend Konsens. (picture alliance / dpa / Gregor Bauernfeind)
Schon lange nicht mehr wurde in Deutschland so heftig über Sprache gestritten: Über das Gendern und Nichtgendern, angebliche Tabus, die uns daran hindern würden, die Wahrheit auszusprechen, über rassistischen Sprachgebrauch, die Aushöhlung unserer Demokratie und unserer Werte durch permanente sprachliche Provokationen. Spitzenreiter seit Jahren ist das Gendern. Ein paar Stimmen dazu:
"Albern". "Ich finde es wichtig, alle müssen sich zugehörig fühlen." "Ich glaube man gewöhnt sich schnell dran und deswegen finde ich es gut, ja." "Wir haben früher auch immer gewusst, eine Arzt kann eine Frau oder ein Mann sein."
"Es gibt auf beiden Seiten der Debatte ein sehr hohes Kränkungspotenzial", beobachtet die Linguistin Christine Kuck von der Universität Magdeburg.
"Auf beiden Seiten wird diese Debatte sehr emotional geführt und es werden vor allem verschiedene Ebenen miteinander vermischt. Über eine sprachkritische Ebene wird eine politische Diskussion geführt, es geht um Ideologien, durchaus auch um Männer- und Frauenbilder. Es geht also nicht wirklich um ein Interesse an der Sprache, es ist vor allem ein ideologisches Schlachtfeld."

Sprache schafft Wirklichkeit

Solche Zusammenhänge auseinander zu dröseln, hat sich die gesellschaftswissenschaftliche Linguistik seit den 70er Jahren zur Aufgabe gemacht. Unser Denken vollzieht sich in Sprache, die Welt bildet sich in Wörtern ab, das meiste, was wir wissen, wissen wir nur vermittelt über Sprache. Das ist schon lange eine selbstverständliche Grundauffassung der Sprachwissenschaft, ob sie nun Sprachsoziologie oder Linguistik heißt.
"Sprache schafft in nahezu allen Fällen eine bestimmte Wirklichkeit. Man könnte etwas abgeschwächt sagen, eine bestimmte Version der Wirklichkeit oder eine bestimmte Perspektive auf die Wirklichkeit", erklärt Kersten Roth, Professor für Linguistik an der Universität Magdeburg und Leiter der frisch gegründeten Arbeitsstelle für Linguistische Gesellschaftsforschung. Worte wirken, Sprache sei immer auch Handeln.
"Die Idee, dass wir mit Sprache handeln, ist im Grunde die klassische Idee der Rhetorik, dass es bei Sprache mehr um Sprechen geht, was wir bei Humboldt schon finden, das ist ein alter Gedanke."
So wie die Welt sich verändert, wandelt sich auch die Sprache. Worte sind Spiegel von Wirklichkeit und sie wirken zugleich in die Gesellschaften hinein. "Wir haben eine grundsätzlich konstruktivistische Perspektive. Sprache schafft in diesem Sinn tatsächlich Wirklichkeit."

Tabus und sprachliche Stoppschilder

Darum hat ein Unternehmen im letzten August seinen Klassiker "Zigeunersauce" auf öffentlichen Druck hin umbenannt in "Paprikasauce Ungarischer Art". Niemand würde heute mehr gegenüber Mitgliedern der Sinti und Roma von Zigeunern sprechen, es sei denn, man möchte sie bewusst demütigen oder diskriminieren. Wir kennen noch das Wort, doch seine Verwendung ist tabu.
"Ein Tabu bedeutet nicht, dass etwas nicht gesagt wird. Sondern, dass etwas nicht gesagt wird, von dem wir aber trotzdem ein Konzept haben. Wir wissen, was jenseits der Tabugrenze ist." Die Linguistin Christine Kuck hat sich insbesondere mit diesen sprachlichen Stopp-Schildern beschäftigt. Auch wenn das "N"-Wort aus den Kinderbüchern gestrichen wird, lebt es weiter im Untergrund. Die Werthaltungen verschwinden nicht automatisch mit neuen Begriffen, oft werden sie nur zugedeckt.
"Sie werden keine politische Partei finden, die sagt, wir sind gegen Gerechtigkeit oder wir sind gegen Gleichberechtigung oder wir sind für Rassismus - selbst diejenigen, die offen rassistisch sind. Was darunter verstanden wird, das wird in einem politischen Diskurs ausdiskutiert. Da hat die SPD eine andere Vorstellung von Gerechtigkeit als die FDP. Also man streitet sich darüber, was die Wörter bedeuten. Das ist politisches Geschäft und demokratischer Diskurs."
Solche Mechanismen offen zu legen sei eine Aufgabe der linguistischen Diskursanalyse, erklärt die Sprachwissenschaftlerin der Uni Magdeburg: "Interessant ist immer, wer welchen Ausdruck mit welcher Intention benutzt. Man untersucht nicht nur diese eine Äußerung, sondern man untersucht dieses Wort in ganz vielen Äußerungen und findet ein Muster darin."

Sprachliche Entgleisungen als politische Strategie

Zum Beispiel Konfrontation als politische Strategie, wie sie die AfD seit 2016 in den Landtag von Baden-Württemberg hineinträgt. Zum Amtsantritt kündigte der damalige Fraktionschef Jörg Meuthen an: "Ich bin nicht hier, um brav zu sein."
Seither haben Tabubrüche und sprachliche Entgleisungen den Sprachstil extremer werden lassen. Eine Studie des Instituts für Deutsche Sprache untersuchte im Auftrag von Deutschlandfunk und SWR die Veränderung der Debattenkultur innerhalb der ersten vier Jahre AfD im Stuttgarter Landtag. Umgangston und Themen haben sich deutlich gewandelt, wie dieses Beispiel aus dem letzten Jahr zeigt. Der inzwischen Parteilose, ehemalige AfD-Abgeordnete Dr. Heinrich Fiechtner, hatte das Wort: "Sie können gerne rausgehen, wenn es sie nicht interessiert. Sie können sich einen Walkman umhängen. Ja, es hält sie ja hier keiner auf. Aber es zeigt, welches Verständnis von Parlamentarismus diese Leute haben. Es ist letztlich ein verkommenes Volk, was hier sitzt."
"Scheindemokrat", "Antidemokrat" sind einige der neuen Wortschöpfungen aus solchen Debatten. Die Diskussionen über Demokratie, so ein Ergebnis der Mannheimer-Studie, haben sich mit der AfD verdoppelt, Anleihen beim Nazi-Vokabular haben zugenommen und antisemitische Äußerungen waren 35mal häufiger zu hören als in der 15. Wahlperiode. 125 Plenarprotokolle bis Juli 2020 hatten die Sprachforscher statistisch, also nach Häufigkeiten durchforstet.

Linguistische Tiefenbohrungen

Will man mehr über die Hintergründe erfahren, bedarf es einer genauen Diskursanalyse. Auf solche Tiefenbohrungen sei die Linguistik seit der sogenannten pragmatischen Wende der 70er Jahre spezialisiert, sagt Kersten Roth:
"Also der Wende, die sich mehr für sprachliches Handeln interessiert. Das ist zugleich die Schwäche wie auch die Stärke des linguistischen Zugriffs, dass er sich tatsächlich immer konkretes Sprachhandeln anschaut."
Zum Beispiel was in Ostdeutschland das Wort Volk bedeute und wie und warum es in Westdeutschland einen ganz anderen Hintergrund hat. Oder der "Brücken-Lockdown", den Armin Laschet nach Ostern verkündete. Politikwissenschaftlich würde das dahinterstehende Machtkalkül, seine Rollen als Ministerpräsident, Parteivorsitzender und Kanzlerkandidat analysiert.
"Brücken-Lockdown, das ist zunächst schlicht ein Wort, das ist ein Kompositum aus Lockdown und Brücke. Dann würden wir auf einer Ebene, die wir pragmatisch nennen, zunächst mal sagen, es geht hier um die Erfindung eines neuen Wortes, um die Existenz eines neuen Sachverhaltes zu suggerieren. Dann könnten wir auf einer weiteren Ebene semantisch sagen: Da wird die positive Semantik von Brücke, Brücken sind zielführende Wege, Brücken schützen vor Mühen und Gefahren, überwinden Hürden, diese positive Semantik wird auf den eher negativ konnotierten Lockdown übertragen."