Freitag, 19. April 2024

Archiv


Linker Streit pünktlich zum 50. Jahrestag

Passend zum Wahlkampf gönnt sich der Landesverband einen Richtungsstreit. Anlass ist ein eher harmloses Zitat des Landeschefs. Dabei scheinen sich die Wähler für Anderes zu interessieren.

Von André Hatting | 11.08.2011
    Es ist kurz nach 18 Uhr. Hinter den großen Lamellenvorhängen rauschen der Regen und der Feierabendverkehr. Der große Saal des Hauses der Volkssolidarität ist gut gefüllt. Einfaches Mobiliar, auf jedem Tisch ein Deckchen und eine kleine Vase mit Blümchen. Es gibt Filterkaffee und eine Kleinigkeit zu essen. Am Kopf des Raumes steht ein Tisch quer. Darauf ein großes Tuch in Rot mit dem Logo der Linken. Hier sitzen die Landtagsabgeordnete Marianne Linke. Und Gesine Lötzsch, die Bundesvorsitzende. Wegen ihr sind sie heute gekommen. Gut fünfzig Interessierte. Die meisten Parteimitglieder, die meisten über sechzig. Gesine Lötzsch spricht ohne Mikro:

    "Mein Hauptziel meines Besuches hier vor Ort ist natürlich, dass ich versuche gemeinsam mit vielen anderen Genossinnen und Genossen, die nicht aus Mecklenburg-Vorpommern sind, den Wahlkampf zu unterstützen und für ein gutes Wahlergebnis gemeinsam zu sorgen."

    Unterstützung für den Wahlkampf, die können sie hier gut gebrauchen. Im Landesverband brodelt es. Die Diskussion über den Mauerbau spaltet die Genossen. Darüber spricht die Parteichefin nicht. Aber die verärgerte Basis. Erste Wortmeldung: Jan Gottschling, Kreisvorsitzender der Insel Rügen:

    "Meine Genossen sehen es erheblich kritisch, dass, ich sag mal seit Jahresanfang, nur eine Kommunismusdebatte, eine Antisemitismusdebatte, Personaldebatten ohne Ende und jetzt auch noch von unserem Land losgetreten eine Debatte zum Mauerbau. Hier also einfach mal die Frage, ob es uns gelingt, das einfach mal zu unterbinden?"

    Lötzsch antwortet umsichtig. Natürlich müsse es in der Partei Diskussionen geben. Klar sei das nicht von Vorteil, wenn sie zu einem zerstrittenen Bild der Partei führten. Im Laufe des Abends wird deutlich, dass die Genossen gar nicht nur die öffentliche Streitkultur nervt. Sie haben ein großes Problem mit ihrem Landesvorsitzenden, Steffen Bockhahn. Ein Vertreter des Jugendverbandes "solid" wird deutlich:

    "Ich wollte fragen, ob es nicht an der Zeit ist, Steffen mal ein bisschen auf die Finger zu klopfen."

    Ein deutlicher Appell an die Parteispitze!

    "Es sieht so aus, dass viele schon ausgetreten sind. Ich sag mal, sollten wir das nicht verhindern, wenn wir eine junge Partei werden wollen, wir sind’s ja noch nicht."

    Zustimmendes Nicken, auch von den zahlreichen Grauhaarigen im Saal.

    "Es geht ja um den Führungsstil, nicht um die Person. Einen solchen Landesvorsitzenden brauchen wir nicht."

    Mit Führungsstil ist gemeint, dass Steffen Bockhahn sein Papier ausgerechnet jetzt veröffentlicht hat. Darin bewertet der Landesvorstand die Mauer als ein, Zitat, "ungeeignetes Mittel, den ¬Exodus qualifizierter Bürger aus der DDR aufzuhalten." Klingt eigentlich harmlos. Hat aber für großen Wirbel in der Partei gesorgt. Es folgte prompt ein Gegenpapier, das die Mauer rechtfertigt. Ein Richtungsstreit, mitten im Wahlkampf. Trotzdem hält Gesine Lötzsch sich mit der Kritik zurück, will Bockhahn nicht in seiner Abwesenheit zurechtweisen. Auch im persönlichen Gespräch nach der Veranstaltung bleibt die Parteichefin vorsichtig. Aber wenn man genau hinhört, wird klar, was Gesine Lötzsch von einer Wiederwahl des Landesvorsitzenden auf dem Parteitag am Wochenende hält:

    "Man muss versuchen als Vorsitzender oder Vorsitzende möglichst viele Mitglieder, möglichst alle, alle wird nie gelingen, man darf ja nicht unrealistisch sein, möglichst viele Mitglieder der Partei zusammenzuführen und zu sagen: Lasst uns auf unsere gemeinsamen Ziele konzentrieren und konsequent an diesen Zielen arbeiten und auch innerhalb der Partei immer wieder Brücken bauen. Das ist die Aufgabe eines Landesvorsitzenden."

    Und das ist die Aufgabe, an der Steffen Bockhahn scheitert. So sehen es viele an diesem Abend in Stralsund. Schlechte Voraussetzungen. Am 4. September wählt Meck-Pomm einen neuen Landtag. Die Linke will wieder mit der SPD regieren und die große Koalition in Schwerin ablösen. Aber der Landesverband sabotiert sich im Moment selbst. Seltsame Zustände im Nordosten. Die Parteivorsitzende gibt sich trotzdem gelassen:

    "Man kann sich ja die Jubiläen und die Zeiten nicht aussuchen. Das ist der erste Punkt. Der zweite Punkt ist, dass ich natürlich etwas verwundert bin, welche große Rolle dieses Thema im Landesverband Mecklenburg-Vorpommern spielt. Die Mauer stand ja, wir erinnern uns, in Berlin. Für mich ist die entscheidende Frage, was lernt man aus der Geschichte? Wir können die Geschichte jetzt im Rückblick nicht mehr verändern. Und für die Linke ist völlig klar: Wir wollen einen demokratischen Sozialismus, und der lässt sich nicht hinter Mauern aufbauen. Sondern wir wollen freie Menschen in einem freien Land, das ist unser Ziel. Und da passt eine Mauer nicht dazu."

    Sie passt auch nicht zu dem, was die Menschen auf der Straße interessiert. Niemand spricht sie auf die aktuelle Diskussion an, sagt die Landtagsabgeordnete Marianne Linke, die mitten im Wahlkampf steckt. Die Bewertung des Mauerbaus vor 50 Jahren kümmere die Menschen nicht. Im Land mit dem geringsten Pro-Kopf-Einkommen der Republik und einer der höchsten Arbeitslosenquoten gebe es ganz andere Sorgen:

    "Die allgemeine Wahrnehmung ist einfach, dass die Grenze heute hier keinen Menschen bewegt. Als historisches Ereignis ist sie abgehakt in gewisser Weise mit den Ereignissen von 89 und 90. Die Menschen wollen einfach, dass ihre Gegenwart und ihre Zukunft gestaltet wird. Sie erwarten von uns, dass wir die Fragen der Gegenwart so beantworten, dass die Menschen eine Perspektive haben."