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Lispector-Übersetzung
Schwere Gedanken

Einst war sie eine geheimnisvolle, Skandale erregende Fremde in Brasilien, dann eine Ikone der feministischen Literaturwissenschaft, heute ist Clarice Lispector wiederzuentdecken als große Autorin. In "Der Lüster" schildert sie detailreich das Innenleben einer jungen Frau.

Von Jörg Plath | 24.02.2014
    Clarice Lispector habe, so überliefert es ihr Biograph Benjamin Moser, häufig gesagt, man müsse ihre Bücher "langsam, nachdenklich und unabgelenkt" lesen. Wünscht sich das nicht jeder Autor, jede Autorin? Allerdings lässt sich Lispectors zweiter Roman "Der Lüster", der 1946 erschien, als die Autorin erst 26 Jahre alt war, gar nicht anders als hochkonzentriert lesen. Das Buch besteht nämlich fast ausschließlich aus einer so beharrlichen wie behutsamen Annäherung an die innere Welt eines Mädchens, das zur jungen Frau heranwächst – aus einem immer neu ansetzenden, außerordentlich eloquenten, so hartnäckigen wie zarten Umkreisen, Umschreiten, Umfließen. Und aus Langeweile, Monotonie, Nichtereignissen.
    "Ihr ganzes Leben lang sollte sie fließend sein",
    beginnt der Roman, und weiter heißt es im ersten, programmatischen Absatz über Virgínia:
    "Aber was ihre Konturen beherrscht und zu einer Mitte gezogen, was sie gegen die Welt erleuchtet und ihr eine innere Macht verliehen hatte, war das Geheimnis. Nie sollte sie daran in klaren Begriffen denken können, da sie fürchtete, sein Bild zu überfluten und aufzulösen. Dennoch hatte es in ihr einen fernen und lebendigen Kern gebildet und niemals den Zauber verloren – es festigte sie in ihrer unlösbaren Vagheit als der einzigen Wirklichkeit, die für sie immer eine verlorene sein musste."
    Ein Geheimnis also verleiht Virgínia eine "innere Macht", ein Geheimnis, das nicht klar zu benennen, aber in ihr lebendig ist, das, obwohl es so unauflöslich unbestimmt ist, Virgínia festigt und ihr eine Wirklichkeit gibt, die gleichwohl immer schon verloren ist für sie – mühelos und elegant, nicht ohne Prägnanz, jedoch auch mit fortwährendem Einsatz eines Negations-Nebelwerfers hin- und hergleitend präsentiert Lispector durchweg Paradoxa als Charakteristika der Hauptperson. Damit ist "Der Lüster" unverkennbar ein Roman der klassischen Moderne, und seine radikale Weitung der Innenwelt zeigt die brasilianische Autorin zudem als Weggefährtin von Virginia Woolf, Marcel Proust und James Joyce. Darüber hinaus ist Lispector Mystikerin, ihr gilt die – virtuos gehandhabte – Sprache als destruktiv: Virgínia weiß, dass sie nichts Genaues wissen darf von dem unschätzbaren Unsagbaren in ihr.
    Nur wie von dieser "gewissen Art des Sehens", das in sich hinein eher tastet als sieht, erzählen? Die Handlung des Romans ist minimalistisch. Virgínia wächst auf dem Dorf auf. Den Eltern gilt das leicht schielende Mädchen als störrisch und unerreichbar, der Bruder Daniel und die Schwester Esmeralda halten es für dumm. Dennoch sucht Virgínia die Nähe des Bruders, der "aus demselben zögerlichen Stoff" wie sie sei. Jahre später gehen beide in die Stadt, wo Daniel zu Virgínias Ärger insgeheim heiratet. Sie kommt mit Vicente zusammen, der ihr wie jeder Mensch fremd bleibt. Nach drei ereignisarmen Jahren, in denen jede Begegnung ein Kraftakt der Anpassung ist, besucht Virgínia die Eltern und Esmeralda, empfindet nur Fremdheit und stirbt während der Rückkehr in die Stadt bei einem Unfall. Das Leben war ihr eine "langsame Abfolge ohne Hoffnung" auf Änderung, eine einförmige Geschichte.
    Minimalistischer Handlungsstrang
    Der gespenstischen Außenwelt steht Virgínias inneres Leben als unendlich reiche, sich beständig selbsttätig erneuernde Entität außerhalb der Geschichte gegenüber. Niemand bemerkt davon etwas, auch Vicente nicht, für den seine Geliebte "etwas Abgeschlossenes und immer Trockenes, wie von Laub Bedecktes" besitzt. Ihre innere Welt ohne Erinnerung, voller Gegenwart hat etwas Amöbenhaftes, und es macht den poetischen Zauber des Romans aus, mit welcher Eloquenz, mit welch erstaunlichen Bildern, mit welch hartnäckiger Schmiegsamkeit Lispector diesem Existenzgefühl Ausdruck verleiht.
    "In tiefer Unwissenheit unternahm sie kleine Übungen und Feststellungen zu Dingen wie dem Gehen, dem Betrachten hoher Bäume, dem Warten auf das Ende des Tages an einem klaren Morgen, das aber nur einen Augenblick lang, der Verfolgung einer ganz normalen Ameise inmitten einer Menge anderer, dem langsam vor sich hin Schlendern, der Aufmerksamkeit für Stille, während das Ohr ein Geräusch fast auffing, dem schnellen Atmen, dem erwartungsvollen Berühren des Herzens, das niemals stehenblieb, der kraftvollen Betrachtung eines Steins, eines Vogels, des eigenen Fußes, dem Schwanken mit geschlossenen Augen, dem lauten Lachen, wenn sie alleine war, und dann dem Lauschen, dem ihren Körper im Bett Liegenlassen ohne die geringste Kraft, sodass ihr fast alles wehtat vor lauter Anstrengung sich auszulöschen, dem Probieren von Kaffee ohne Zucker, dem in die Sonne Schauen, bis ihr die Tränen kamen ohne Schmerz – der Raum wurde sofort taumelig wie vor einem furchtbaren Regen –, dem Tragen von ein bisschen Fluss auf dem Handteller, ohne etwas zu vergießen, dem Anhalten unter einer Fahnenstange, um nach oben zu schauen, bis ihr vor sich selbst taumelte – auf diese Weise brachte sie sorgsam Abwechslung in ihre Art zu leben. Was sie inspirierte, war so kurz. Vage, vage hätte sie, wenn sie geboren wäre, die Hände ins Wasser getaucht hätte und gestorben wäre, ihre Kraft erschöpft, und damit wäre ihr Sich-Bewegen vollständig gewesen – das war der Eindruck ohne Gedanken."
    Virgínia lebt am "Rand der Dinge", und auf diesem Rand balanciert in der elegant gleitenden, jedes mystische Raunen glücklich vermeidenden Übersetzung von Luis Ruby auch der Erzähler. Er ist Virgínia nahe, ohne mit ihr identisch zu sein, seine Schilderungen werden sparsam durch lüstergleich leuchtende Einsprengsel in erlebter Rede illuminiert. Drei, vier Mal wechselt der Erzähler zu anderen Personen hinüber, was eine anfangs willkommene, bald schon aber ärgerliche Abwechslung bedeutet. Denn so sehr die Lektüre von "Der Lüster" in größeren Dosen eine Sehnsucht nach Handfesterem weckt – die Sensation des Romans ist Virgínias Nachinnenleben.
    Einsame Hauptfiguren
    "Wenn sie die Augen richtig aufmachte, sah sie nichts. Außer Wörtern, Gedanken aus Wörtern. Wenn sie die Augen weit aufriss und die Großmutter ansah, wie sie dasaß, verlor sie ihren klaren Begriff von der Großmutter und sah nichts, nicht einmal ein altes Mütterchen. Die Wahrheit war so schnell. Man musste die Augen zusammenkneifen. In seltenen, schnellen Sekunden des Sehens kam ihr der Gedanke, ihr Austausch mit der Welt, diese geheime Atmosphäre, die sie um sich herum pflegte wie ein Dunkel, sei ihr letztes Dasein – hinter dieser Grenze war sie selbst lautlos wie ein Ding. Und es war dieses letzte innere Leben, das lückenlos den Faden ihres elfenhaftesten Daseins in der Kindheit aufnahm. Der Rest erstreckte sich schrecklich neu, er hatte sich gewissermaßen aus sich selbst erschaffen – jener Körper, den sie jetzt hatte, und die Gewohnheiten dazu. Und diese Religion verfügte über so wenig Reichtum und Macht, dass sie kein Ritual kannte – ihre größte Geste erschöpfte sich in einem raschen, unmerklichen Blick, gefüllt mit 'Ich weiß, ich weiß', mit einem Versprechen gegenseitiger Treue und Unterstützung innerhalb einer Verbindung, die geschlossen war und fast schlecht; einig und einfach, symbolisierte sie keine Bewegung, sie war das Mysterium als Angenommenes. In Wahrheit jedoch wusste sie nicht, was ihr geschah, und die einzige Möglichkeit, es zu erfahren, bestand darin, es zu durchleben."
    In der realistischen, von sozialer Anklage geprägten Literatur Brasiliens wirkten die Bücher Clarice Lispectors wie ein Schock, ihre sarkastischen Äußerungen über Ehe und Familie lösten Skandale aus. Die ungeheure Einsamkeit von Lispectors Hauptpersonen, die auf den Existenzialismus vorausweist, wurde immer wieder biografisch erklärt: Lispectors jüdische Eltern flohen mit der Zweijährigen vor Pogromen in der Ukraine nach Brasilien, wo das Kind zur schönen, weißhäutigen und rothaarigen Frau heranwuchs und als Gattin eines Diplomaten 14 Jahre in Europa und den USA lebte; erst nach der Scheidung 1959 kehrte sie mit ihren Kindern nach Rio de Janeiro zurück und blieb, so schildert es Benjamin Moser in seiner großen, ebenfalls bei Schöffling erschienenen Biografie, eine Fremde. Das "Schreibheft 81" publiziert einige der Glossen, mit denen sich Clarice Lispectors damals über Wasser hielt.
    Die gleich vielfache Außenseiterin wurde in den Siebzigerjahren zur Ikone von Feministinnen, von denen sich manche an Lispectors vermeintlicher Mystifizierung des weiblichen Körpers rieben. Heute berückt die rationalitätskritische, sprachkritische und hochpoetische Annäherung an etwas Unsagbares, Inkommensurables – an ein Geheimnis, das sich der Kultur entzieht und doch von der Kunst, der Literatur, geborgen wird. Eine große Autorin der Moderne ist wiederzuentdecken.
    Clarice Lispector, "Der Lüster"
    Roman. Aus dem brasilianischen Portugiesisch und mit einem Nachwort von Luis Ruby.
    Schöffling & Co. 366 Seiten, 22,95 Euro