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Listiger Rollenspieler

In seinem Werk "Die Rückkehr der Götter" setzt Fernando Pessoa dem "Christismus" den heidnischen Objektivismus entgegen. Die heidnische Moral hat nach seiner Darstellung den Vorteil, dass sie genuin menschliche Ziele verfolgt, Orientierung und Disziplin vermittelt. Im hellenischen Polytheismus erblickt der Autor die verwirklichte Synthese des Einklangs mit der Natur der äußeren Welt..

Von Bernd Mattheus | 30.10.2006
    Hierzulande ist Fernando Pessoa als eine Art Wunder-Tier bekannt, dessen Biografie in vielem derjenigen Franz Kafkas glich. Er schlug sich mit dem Übersetzen von Handelskorrespondenz durchs Leben, um 1935, mit nur 47 Jahren, an Leberzirrhose zu sterben. Der Nachwelt hinterließ er eine Truhe mit 27.453 Manuskripten, bestehend aus Gedichten, Prosa, Fragmenten, Bühnenstücken, religionsphilosophischen sowie politischen Essays und Kritiken. Neben dem Portugiesischen waren Englisch und Französisch die Sprachen seiner Wahl.

    Die Vielsprachigkeit steht in Zusammenhang mit seiner Heteronymie, das heißt dem Schreiben unter mehreren Pseudonymen. Da Pessoa für jeden dieser imaginären Autoren eine eigene Biografie skizzierte, deren Horoskope stellte, ja selbst Visitenkarten drucken ließ, dürfte er eine veritable Aufsprengung der Identität angestrebt haben - Jahrzehnte vor der Diskussion um den Tod des Autors in der Literatur der Moderne. Die Bedeutung seines bürgerlichen Namens, ableitbar vom lateinischen persona, also "Person und Maske", scheint den Schriftsteller zu dem Credo einer pluralen Identität ermutigt zu haben. "Sei vielfältig wie das Universum!", lautete sein Motto. Wenn Pessoa darüber hinaus von sich selbst in der dritten Person als von "Fernando Pessoa er-selbst" schreibt, wird die Unbegrenztheit des Masken- und Rollenspiels offenbar.

    Pessoas Werk ist, wie dasjenige Jürgen von der Wenses, ein posthumes par excellence. 1918 veröffentlicht er "English Poems" im Selbstverlag, 1934 folgt "Botschaft", alles weitere landet in der besagten Manuskripten-Truhe. Gegen Ende seines Lebens kümmert er sich tatsächlich um die Idee einer Nachwelt, so dass er Varianten seiner Lebensgeschichte zu Papier bringt. Ihm verblieb nicht genügend Zeit, seine Manuskript-Konvolute mehr als nur kursorisch in Listen für zukünftige Bücher zu gliedern.

    Vom Geheimtipp des wichtigsten Vertreters des portugiesischen Modernismus bis zum Nationaldichter schlechthin bedurfte es einiger Jahrzehnte. Fernando Pessoas Stern ging, ganz zu Recht, auf mit dem 1982 in Lissabon publizierten "Buch der Unruhe": 520 Fragmente aus 20 Jahren, die der Autor dem "Hilfsbuchhalter Bernardo Soares" zugeschrieben hatte. Inzwischen gehören seine Gedichte zum Repertoire des zeitgenössischen Fado.

    In "Die Rückkehr der Götter", Fragmenten aus den Jahren 1914-1918, konstatiert Pessoa: "Der große Pan ist wiedergeboren!" Unter diversen Heteronymen, so Alvaro de Campos, Ricardo Reis, Antonio Mora oder eben Fernando Pessoa selbst, wird der Paganismus, also die neuheidnische Ästhetik und Moral, insbesondere des Alberto Caeiro, polemisch verteidigt. Da es sich bei Caeiro um eine Kopfgeburt des Autors handelt, bereitet es keine Schwierigkeiten, dass er sowohl Exeget als auch Hagiograph sowie Herausgeber des Nachlasses des profiliertesten Protagonisten des "Portugiesischen Neuheidentums" wird. Pessoas Maxime lautet: "Ich bin heute der Treffpunkt einer kleinen, nur mir gehörenden Menschheit."

    Die List der Rollenspiele gestattet es ihm, sich über seinen "Meister Caeiro" in Superlativen auszulassen. Mal wird er als "größter und originellster aller geborenen Schriftsteller (...) in allen mir bekannten Sprachen" apostrophiert, mal als "größter Dichter der modernen Zeiten" und "Neubegründer des heidnischen Gefühls" gefeiert.

    Zwar war der junge Dichter nicht unempfänglich für den Okkultismus - überliefert ist sogar eine Begegnung mit Aleister Crowley, einem der Scharlatan-"Magier" der Epoche -, aber die Fragmente in der "Rückkehr der Götter" schlagen eine andere Tonart an. Gelegentlich wird der Okkultismus noch in seiner Eigenschaft als "höhere Wissenschaft" positiv gewürdigt, desgleichen die Theosophie - die zentralen Argumente der Autoren gelten jedoch der Verteidigung einer Reform des Heidentums. Der christliche Monotheismus wird explizit als "Krankheit der Zivilisation" denunziert. Die christliche Moral sei eine asketische, sie fordere Verzicht und Entsagung. Die christliche Mentalität charakterisiere Schuld und Sünde, alles in allem ein Missfallen am Leben - was den Glauben an die Erlösung im Jenseits um so anziehender mache. Der Dekadenz-Diagnostiker Nietzsche wird von dem Portugiesen beiläufig eines vorgetäuschten Anti-Christentums bezichtigt, denn sein Dionysos sei nichts als ein "deutscher Bacchus". Noch die Parole der Französischen Revolution "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" basiere auf christlichen Grundvorstellungen. Wir wissen freilich auch, dass das Ungenügen an einer rein materialistischen Philosophie zu Kuriositäten wie der Suche nach einem Ersatz namens "höheres Wesen" führte.

    Dem "Christismus" setzt Antonio Mora alias Pessoa den heidnischen Objektivismus entgegen. Die heidnische Moral böte den Vorteil, dass sie genuin menschliche Ziele verfolge, Orientierung und Disziplin vermittle, so in der Stoa. Im hellenischen Polytheismus erblickt der Autor zudem die verwirklichte Synthese des Einklangs mit der Natur der äußeren Welt sowie der "Natur im Sinne der Menschheit". Delikaterweise wird in einem Fragment Antanio Mora als Paranoiker geschildert, der in der Psychiatrie einsitzt. Dies schmälert keineswegs die Stringenz seiner Thesen, im Gegenteil, denn gemäß Pessoas Überzeugung ist der geniale Mensch zwar anormal, verkörpert aber zugleich die Aristokratie der Aristokratie. Pessoa übernimmt hier Theorien der Zeit, von Lombroso bis Max Nordau, die Genie und Wahn zu einem unteilbaren Ganzen erklärt hatten. Der Christenmensch dagegen sei schlichtweg krank, das heißt. verrückt, befindet Pessoa. Perfider artikulierte sich wohl nur noch Celsus, im zweiten Jahrhundert nach Christus, der die Frage stellte, wie man eine ans "Kreuz genagelte Leiche" anbeten könne.

    Was die politischen Implikationen des Neopaganismus angeht, so münden sie in eine hierarchische Gesellschaft, eine Neuauflage des Aristokratismus. Zum einen wird der Primat der Intelligenz auf den Schild gehoben, zum anderen das Vorrecht des Stärksten. Pessoa, der während des Ersten Weltkriegs schreibt, entfernt sich nur in einem Punkt von Ideologien des Zeitgeistes: Er rechnet die Herrschaft des Soldaten - neben der vermeintlichen des Sklaven, des Pöbels, der Frau - den Symptomen der Dekadenz zu.

    Den Autor faszinierte der "Sensationismus", eine dem Vitalismus benachbarte Weltanschauung, die ausschließlich die Sinneswahrnehmungen gelten lassen wollte, idealerweise eine "Synthese von allem". "Nur die Sinneswahrnehmung ist das Leben. Da weder die Erinnerung, die Imagination noch das Verstehen Sinneswahrnehmungen sind, entsprechen sie nicht dem Leben, sie sind nur dessen Trugbild oder gewundener Traum."

    Er wusste aber auch um die überlebensnotwendige Funktion solcher Täuschungen: "Wir fingieren und träumen, um leben zu können." "Die Rückkehr der Götter" entfaltet folglich religiöse, metaphysische, moralische, ästhetische Fiktionen, um zu dem Schluss zu gelangen, dass es "zwischen Bewußtsein und Realität keine Beziehung gibt."

    Der Illusionismus als Los von uns allen? Aber wer spricht?