Freitag, 19. April 2024

Archiv

Literarische Traditionen
Folgenreiche Beziehungen der russischen Literatur in Deutschland

Thomas Mann, Hermann Hesse, Stefan Zweig - sie alle setzten sich in bedeutenden Essays mit russischen Dichtern und ihrem Denken auseinander. Und nicht nur sie. Der Slawist und Germanist Jürgen Lehmann dokumentiert die umfassende Geschichte dieser intensiven, folgenreichen Beziehung und zeigt, was die deutsche Literatur der russischen zu verdanken hat.

Von Karla Hielscher | 22.08.2016
    Der deutsche Schriftsteller und Literatur-Nobelpreisträger Thomas Mann, schwarz-weiß-Aufnahme, Portrait, zur rechten Seite guckend
    Thomas Mann bezeichnete die russische Literatur als "anbetungswürdig" und "heilig". (dpa/picture alliance/Abraham Pisarek)
    Beispiele für die enorme Bedeutung der russischen Literatur im deutschen Geistesleben kennen natürlich die meisten Literaturliebhaber: Fontane nannte Turgenjew seinen "Lehrmeister und sein Vorbild"; Tolstois "Kreutzersonate" erreichte im Erscheinungsjahr 1890 sogleich sechs Auflagen; Thomas Mann sprach von der "anbetungswürdigen russischen Literatur, die so recht eigentlich die heilige Literatur darstellt"; nach dem Ersten Weltkrieg führte die Suche nach geistiger Orientierung zu einer regelrechten Dostojewski-Inflation; und viele haben den berührenden poetischen Briefwechsel zwischen Rilke und Marina Zwetajewa gelesen. Zu diesen und vielen anderen Phänomenen gibt es literaturwissenschaftliche Einzeluntersuchungen.
    Zum ersten Mal aber werden in diesem Buch die intensiven und folgenreichen Beziehungen und Wirkungen der russischen Literatur in Deutschland durch die gesamte Literaturgeschichte hindurch untersucht und beschrieben, angefangen von den ersten, durch Chroniken und Reiseberichte belegten Kontakten bis in die Nachwendezeit und in die jüngste Gegenwart hinein, wo Russen wie Wladimir Kaminer oder Katja Petrowskaja in deutscher Sprache über russische Themen schreiben.
    Der Autor Jürgen Lehmann, Slawist und Germanist, langjähriger Inhaber des Lehrstuhls für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Erlangen, hat die Forschung über den Dialog zwischen der russischen und deutschen Literatur zu seiner Lebensaufgabe gemacht.
    "Ja, dieses Buch ist Ergebnis einer langjährigen Beschäftigung von mir mit den russisch-deutschen Kultur- und Literaturbeziehungen. Und diese Beschäftigung gipfelt jetzt in diesem Buch. Ich habe konkret an diesem Buch circa sechs Jahre gearbeitet, aber in diesen großen Text sind natürlich auch Vorarbeiten mit eingegangen. Eine wichtige Intention war, erstmals auf die Vielfalt, den Umfang und vor allem die Kontinuität dieser Rezeption russischer Literatur im deutschsprachigen literarischen Raum hinzuweisen. Das hat es meines Wissens bis jetzt noch nicht gegeben. Und mir war beim Schreiben dann wichtig, dass diese Arbeit auch lesbar ist, nicht nur für Literarhistoriker, sondern auch für ein breiteres Publikum."
    Russische und sowjetische Literatur nach 1945 in der DDR
    Der Autor will also dokumentieren, was die deutschsprachige Literatur – immerhin über mindestens hundertfünfzig Jahre – der russischen zu verdanken hat. Die umfassende Darstellung orientiert sich an den Phasen der zunehmenden Wahrnehmung, Annäherung und Aneignung der russischen Literatur, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts recht eigentlich beginnt, um 1900 einen ersten Höhepunkt erlebt und zwischen den Weltkriegen eine ganz überragende Bedeutung bekommt. Jedes der umfangreichen Kapitel beginnt mit einer Einführung in den historischen Kontext und stellt die Vermittler, also die Übersetzer und Literaturkritiker, und die Vermittlungsinstanzen, die Verlage und Zeitschriften vor, sodass die vielfältigen Formen dichterischer und essayistischer Rezeption russischer Literatur immer in die gesellschaftlichen und kulturpolitischen Zusammenhänge eingebettet sind. Ein wesentlicher Schwerpunkt liegt auf den beiden Großkapiteln über die bisher viel zu wenig erforschte Rezeption russischer und sowjetischer Literatur nach 1945 in der DDR und in den deutschsprachigen Ländern westlich des Eisernen Vorhangs.
    "Ja, diese zwei Großkapitel bilden in der Tat einen Schwerpunkt der Arbeit. Sie umfassen fast ein Drittel. Wir haben hier zwei verschiedene Entwicklungen dieser Rezeption, bedingt durch die Teilung Deutschlands nach 1945 bzw. 1949, und von daher verlaufen die Rezeptionen sehr unterschiedlich: in der DDR sehr umfassend, auch vielfältig, zunächst politisch gewollt durch Vorgaben aus der Sowjetunion. Hier spielt natürlich die kulturpolitische Seite eine wichtige Rolle, also die Verordnung von Literatur, orientiert an der Doktrin des Sozialistischen Realismus.
    Spätestens seit den 60er-Jahren haben wir dann eine andere Entwicklung: Junge Autoren versuchen, sich von dieser doktrinär geprägten Literatur zu emanzipieren. Und das sind vor allem junge Lyriker wie Volker Braun, Sarah Kirsch, Adolf Endler, Wolf Biermann und andere, die dann eben in Orientierung an anderen russischen Autoren, in der Sowjetunion verfemten, verbotenen, tabuisierten Autoren des Symbolismus und Akmeismus wie Blok, Mandelstam, Achmatowa u. a. eine neue Konzeption von Lyrik vor allem zu entwickeln."
    Im Westen verläuft dieser Prozess in der Zeit des Kalten Krieges natürlich anders.
    "Außerhalb der DDR nach 45 ist die Rezeption zunächst zögerlich – das betrifft vor allem die Aufnahme und schöpferische Verarbeitung von Sowjetliteratur. Gleichwohl gibt es dann spätestens seit Ende der 50er- Anfang der 60er-Jahre bei einzelnen Autoren sehr bemerkenswerte, hervorragende Zeugnisse dieser Beschäftigung mit russischer Literatur. Das betrifft Paul Celan, das betrifft Ingeborg Bachmann, Heinrich Böll, Thomas Bernhard bis hin zu Horst Bienek. Häufig – wie bei Paul Celan – ist diese Beschäftigung verbunden mit Übersetzungstätigkeit."
    "Schöpferische Aneignung" durch deutsche Schriftsteller
    Immer wieder wird die russische Literatur in Deutschland zum Auslöser sozialkritischer, geschichtsphilosophischer, moralischer und religiöser Fragestellungen und von Reflexionen über das Verhältnis Westeuropa - Russland. Sind doch einige der bedeutendsten Essays des 20. Jahrhunderts von Thomas Mann, Hermann Hesse, Stefan Zweig und Georg Lukács der Auseinandersetzung mit russischen Dichtern und ihrem Denken gewidmet. Diese haben dann wiederum die deutsche Literatur selbst beeinflusst.
    Ein besonderer Vorzug des Buches ist, dass es dem Autor vor allem auch um die literarische, die ästhetische Wirkung geht, eben um die "schöpferische Aneignung" der russischen Literatur durch deutsche Schriftsteller.
    "Wichtig war mir der Nachweis, dass diese Beschäftigung deutschsprachiger Autoren mit russischer Literatur eben immer wieder integraler Bestandteil dieser deutschen Literatur dann wird. Mit anderen Worten, dass bestimmte Phasen und Entwicklungen bei den Autoren selber, aber auch in der Geschichte der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts von dieser Rezeption geprägt sind. Ich kann jetzt nur einige Namen nennen: Das betrifft Thomas Mann während seiner ganzen Schaffensphase, zum Beispiel in frühen Texten wie 'Der Bajazzo', 'Tonio Kröger', nachher vor allem im 'Zauberberg' bis hin zum 'Doktor Faustus'. Das sind dann Auseinandersetzungen mit Dostojewski und Tolstoi.
    Das betrifft Kafka; das betrifft im Bereich der Dramenliteratur vor allem Bertold Brecht, dessen episches Theater – also die Theorie des epischen Theaters und auch deren Praktizierung - ohne den Dialog mit russischen Autoren und Dramaturgen wie Sergej Tretjakow, Wsewolod Meyerhold oder auch in Abgrenzung dann Stanislawski nicht denkbar ist."
    Jürgen Lehmanns Studie mit ihrem überwältigenden Reichtum an Material besteht aus einer Mischung von rezeptionsgeschichtlichen Überblicken und detaillierten Einzelanalysen. Das Buch stellt von nun an das unentbehrliche Standardwerk über die russisch-deutschen Literaturbeziehungen dar. In Moskau wird es bereits ins Russische übersetzt.
    Jürgen Lehmann: Russische Literatur in Deutschland
    Ihre Rezeption durch deutschsprachige Schriftsteller und Kritiker vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart.

    Verlag J.B. Metzler Stuttgart, 2015, 417 Seiten, 69,90 Euro.