Donnerstag, 28. März 2024

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Literarischer Luxus

Pablo Tusset inszeniert die Sprache als tödliches Vergnügen, unterhält einen mit einer Persiflage auf den Agententhriller und serviert dazu eine köstliche Politsatire von einem globalen Menü. Ja, man könnte diesen Roman sogar als absurden Aufruf zur Völkerverständigung betrachten. Sicher ist: Wer so viel literarischem Luxus widersteht, hat es nicht besser verdient.

Von Sacha Verna | 22.08.2010
    Bitte jetzt nicht erschrecken:
    "Upaaaaaa, Upaaaaaaa, Upaaaaaa!"
    ...
    "Nisiiiiii, Nisiiiiiyaaaa!"
    ...
    "Youuuu, Youuuu, Utaishoooooo!?"
    ...
    "Icooo, Ya, Icooooo, Ya, Icoooo ...!"

    Inspektor Sakamura macht Morgengymnastik. Der beste Mann von Interpol befindet sich auf dem Balkon eines Hotels und bereitet sich auf einen anstrengenden Tag im katalanischen Küstenort Calabella vor, wohin ihn die Zentrale in Lyon zwecks brisanter Ermittlungen geschickt hat. Doch Shisei-Übungen, koreanisches Shippalgi und Kendoka als Krimiauftakt? Nein. Nun ist Inspektor Sakamura freilich nicht irgendwer. Er ist vielmehr ein Zen-Meister mit vielfältigen Fähigkeiten, darunter jener, von jeder beliebigen Szene dreidimensionale mentale Fotos zu schießen. Vor allem aber ist Sakamuras Schöpfer Pablo Tusset nicht irgendwer. Schon gar nicht der Autor kreuznormaler Krimis. Außerdem beginnt dieses Buch gar nicht mit Sakamuras Morgengymnastik. Sondern wie es sich gehört mit einem Toten:

    "Die dritte Leiche befand sich auf dem Deck ihrer Yacht und war ziemlich hässlich. Der Mann hatte einen Überbiss, ein feistes Gesicht und einen Schnurrbart, der ihm überhaupt nicht stand. Sein Körper war nackt und übergewichtig und sah aus wie der einer Seekuh, lugte da nicht ein winziges Geschlechtsorgan wie ein Champignon unter dem dicken Bauch hervor, als wäre es der Schniepel eines Schwimmreifens. Die Leiche schien zu allem Überfluss auch noch zu atmen, und das sah eklig aus. Der Wellengang ließ den Bauch wie einen Wackelpudding hin und herschaukeln. Andererseits waren, mal abgesehen von diesen unheimlichen Lebenszeichen post mortem, weder Blutspuren noch Verunstaltungen zu sehen, die auf einen gewaltsamen Tod hingedeutet hätten. Ganz im Gegenteil: Das schnauzbärtige Gesicht des Toten strahlte vor Glück und sah auf so bescheuerte Weise verzückt aus, dass der Mann auch noch dümmlich wirkte."

    Inspektor Sakamura und Pablo Tusset also. Dazu drei lachende Leichen, zu der sich bald eine vierte gesellt, sowie Raphael Corrales, ein Zollbeamter der Guardia Civil, den Tusset Sakamura während seines Aufenthaltes in Spanien zur Seite stellt und der eine Schwäche hat für Travolta-Hemden und alles Weibliche außer für seine Frau. Des weiteren ... doch nein, zum Rest des Personals später. Zur Sache zuerst.

    Nämlich zur Gattung des Kriminalromans. Die hat sich in letzter Zeit zum Lieblingslabor von Literaten entwickelt, die sich fürs konventionelle Geschichtenerzählen für zu schlau halten. Manche von ihnen sind tatsächlich schlau, andere nicht. Im Fall von Pablo Tusset lässt sich das nicht genau sagen. Er hat bisher nichts anderes vorgelegt als Kriminalromane, die nur jemand geschrieben haben kann, der für Konventionen ganz allgemein wenig übrig hat.

    Zuerst kam "Das Beste, was einem Croissant passieren kann”. Darin begibt sich der Protagonist auf die Suche nach seinem verschwundenen Bruder und auf eine bizarre Odyssee durch die Straßen Barcelonas. Darauf folgte "Im Namen des Schweins”. Hier geht es um einen grausigen Mord in einem Schweine-Schlachthof in einem abgelegenen Bergdorf und um einen dichtenden Höllenfürsten.

    Wie diese beiden Romane spielt "Sakamura, Corrales und die lachenden Leichen” in Katalonien. Und wie dort interessiert einen darin die Aufklärung des Verbrechens nach spätestens drei Seiten nur noch beschränkt. Das heißt, das stimmt nicht ganz. Denn erstens bildet das Rätsel stets den unverzichtbaren Ausgangspunkt von Pablo Tussets Romanen. Es wird zweitens immer gelöst und sorgt drittens, nebensächlich oder nicht, bis am Schluss für eine gewisse Spannung.

    "Kaum jemand wusste, dass Ihre Majestät, die Königin Doña Eusebia, in Wirklichkeit María Dolores hieß und ihre wenigen Freund sie Loles nannten."

    Sprecher: Und was hat die Königin mit dem Rätsel in diesem Spannungsroman zu tun? Eine Menge:

    "Einige Stunden vor der Krönung hatten ihre Berater hinter verschlossenen Türen entschieden, dass María Dolores I. nicht majestätisch genug klang – und Loles I. schon gar nicht. Daher wurde beschlossen, sie solle sich Eusebia I. nennen, weil man aus welchen Gründen auch immer der Ansicht war, dass dies erheblich würdevoller klänge. Schuld daran, dass eine solche Notlösung in letzter Sekunde überhaupt notwendig wurde, war allein die Sorglosigkeit ihres Vaters, Don Fernando de Ogilvy y Cinco Sicilias, ein unehelicher Nachfahre von Rigoberto dem Cholerischen, der wiederum zu seiner Zeit von einer Hirschkuh gestürzt und ums Leben gekommen war und eine Reihe unehelicher Kinder hinterlassen hatte, jedoch keinen einzigen rechtmäßigen Erben. Da es sehr unwahrscheinlich war, dass Don Fernando die alten Familienrechte wiedererlangte, die seine Vorfahren im IX. Jahrhundert leichtfertig verspielt hatten, hatte er auch keine Sekunde damit verschwendet, zu bedenken, ob der Name seiner einzigen Tochter sich im Falle einer Thronbesteigung schickte oder auch nicht – stattdessen hatte er vielmehr großen Wert darauf gelegt, dass sie lernte, ihren starken Akzent aus Jerez de la Frontera zu überspielen, für den Fall, dass es ihr einmal gelingen sollte, beim Fernsehen zu landen."

    Aber das Rätsel und die Spannung! Weshalb verbreitet sich Pablo Tusset über den Stammbaum der Königin? Nur Geduld:

    "Dann aber schlug Felipe de Borbón das Thronerbe aus. Er schlug sich lieber mit seiner Frau Doña Letizia und einer ukrainischen Zither durchs Leben und tingelte als Liedermacher durch die Lande. Die Familie Ogilvy y Cinco Sicilias sah ihre Chance gekommen, ließ eine DNA-Probe des cholerischen Vorfahrens erstellen (wie auch der Hirschkuh, deren Geweih im Familienbesitz verblieben war). Mit den Ergebnissen strebten sie, zu allem entschlossen, vor Gericht einen Prozess an, der ihnen die entsprechende Ernennungsurkunde sichern sollte."

    Ja und?

    "Wie auch immer, dank unserer selbstlosen Loles (gekrönt als Eusebia I.) hielt sich jedenfalls die Monarchie in Spanien."

    Ach so. Ach..., was? Das: Den Hintergrund zu Inspektor Sakamuras Verbrecherjagd bildet eine Staatsposse.

    Pablo Tusset hat für seine vier lachenden Leichen die originellste Todesursache der Welt erfunden. Wir werden uns darüber natürlich ausschweigen, um dem Leser die Überraschung nicht zu verderben. Pablo Tusset lässt sein japanisches Supermännlein in einem Showdown, an dem sich Hollywood ein Beispiel nehmen kann, kampftechnische Wunder vollbringen, an denen sich Bruce Lee ein Beispiel genommen hätte, hätte er Sakamura gekannt. Doch auch darüber sei hier nicht mehr verraten.

    Wovon an dieser Stelle hingegen sehr wohl die Rede sein darf, ist das Spanien, das Tusset in diesem Roman entwirft. Dieses Spanien ist zum Brüllen komisch und zugleich zum Heulen, weil es der Realität in vielen Ländern so nahe kommt. Es ist ein Zirkus der Separatisten. Königin Eusebia I. muss sich zu ihrem nie versiegenden Verdruss nicht nur mit Republikanern und Demokraten herumschlagen, sondern auch mit ungefähr zwanzig Präsidenten autonomer Regionen, von Xosé aus Galicien bis zu Vincentet aus Valencia. Ernsthaft aus dem Ruder zu laufen drohen die Dinge in Spanien ...

    "...das es ja eigentlich nie wirklich gegeben hatte ..."

    ...wie Pablo Tusset nicht müde wird zu betonen, endgültig um ihren Seelenfrieden gebracht, also sieht sich Ihre Majestät, als der nominelle Oberpräsident Paquito aus der autonomen Gemeinschaft Madrid plötzlich nur noch baskisch spricht. Man stelle sich den Ärger von Nicolás aus Aragonien vor (wo bleibt das Aragonische?!). Und erst die Wut von Pelayo aus Asturien (was ist mit Asturisch?!). Noch besser, man stelle sich den Spaß des Autors beim Imaginieren der Exkursion vor, welche die Provinzhäuptlinge flugs organisieren, um bei Hofe Beschwerde gegen die als Affront empfundene Bevorzugung Kataloniens einzulegen.
    Was Pablo Tusset da präsentiert, ist poetisch-politische Subversion vom Feinsten. Er zeichnet in diesem Roman eine derart überzeugende Karikatur Spaniens - oder Belgiens oder Afrikas -, dass man seine Witzfiguren beinahe ernst nimmt. Aber eben nur beinahe, sonst wäre der Witz ja weg und übrig blieben nur noch die Figuren. Die Kunst besteht darin, das richtige Verhältnis zu bewahren. Und diese Kunst beherrscht Pablo Tusset.

    "Die Unaussprechlichen haben in Wirklichkeit einen anderen Namen ..."

    ... die Unaussprechlichen müssen im Zusammenhang mit Tussets groteskem Humor unbedingt erwähnt werden:

    "Iraultzaren Komando Euskaldun Abertzaleak, von ihren Sympathisanten kurz IKEA genannt. Dem Innenminister war es in Zusammenarbeit mit den Medien gelungen, ihren Namen eine gewisse Zeit lang kaum zu erwähnen, um die Aufmerksamkeit nicht zu erhöhen, die sie und ihre Aktionen sowieso schon genossen. Dafür, dass die ersten aktiven IKEA-Zellen noch recht jung waren und sie ausschließlich regionale Interessen verfolgten, nämlich die Unabhängigkeit des Baskenlandes, kooperierten sie bereits mit ziemlich vielen Gruppierungen auf der ganzen Welt: Von der skandinavischen Organisation zur Befreiung der Gartenzwerge angefangen, bis hin zu Gruppierungen von Greenpeace, beispielsweise denen, die sich für den gesetzlichen Artenschutz der Phtphirus pubis, der gewöhnlichen Filz- oder Schamlaus engagierten, die durch den rabiaten Gebrauch von Seifenprodukten unmittelbar vom Aussterben bedroht war."

    Pablo Tusset zeigt besser als jeder PowerPoint-Profi, wie gut nationale Blödheit und internationaler Terrorismus zusammenpassen. Die Unaussprechlichen, deren Bekanntschaft auch Inspektor Sakamura bald macht, sind Schrebergarten-Guerilleros, keine Frage. Und die islamischen Fundamentalisten, die sich in den Randspalten dieses Romans bewegen, sind nichts als diffuse Schemen. Gemeinsam aber sorgen die Guerilleros und die Schemen für gewaltigen Ärger. Letztere entwickeln nämlich eine Maschine, die ersteren in die Hände fällt, eine Maschine, mit der sich Menschen sprachlich umprogrammieren lassen. Ursprünglich sollte dieser sogenannte "Konfigurator" dazu dienen:

    "... den Konvertiten zu helfen, den Koran zu lesen und zu rezitieren. Dann hatten einige radikale Gruppierungen ihn für sich entdeckt und die Maschine an Mitgliedern der amerikanischen Botschaften im Mittleren Osten ausprobiert. Damit hatten sie der amerikanischen Regierung einige schlaflose Nächte bereitet. Das war schon genug Theater gewesen, dann aber kamen die Amerikaner selbst auf den Geschmack, wollten die Erfindung beschlagnahmen, sich patentieren und von den Behörden genehmigen lassen, um sie als Wundermittel zum Erlernen von Sprachen zu vermarkten (genauer gesagt: zum Englisch lernen – der Sprache) und das Ganze in Kooperation mit Microchof."

    Natürlich stünde das Patent für dieses geniale Gerät weder den Islamisten zu noch den Amerikanern, sondern vielmehr Pablo Tusset – stünde, denn:

    "... dann (...) kam ein Gutachten der Weltgesundheitsorganisation heraus, in dem nachgewiesen wurde, dass (der Konfigurator) alles andere als unbedenklich war. Zu Microchofs blankem Entsetzen wurde Interpol damit beauftragt, alle (Exemplare) aus dem Verkehr zu ziehen, sie zu versiegeln und den Handel mit ihnen weltweit strafrechtlich zu verfolgen. Allerdings blühte der Schwarzmarkt mit den Sprachmaschinen im Mittleren Osten. Seit ein paar Monaten ließ sich kostenlos jede Menge Software für eine immer größere Zahl von Sprachen herunterladen – Sprachen die zum größten Teil nur von Minderheiten gesprochen wurden (allein in Europa waren Programme am Start für Sorbisch, Friesisch, Jämtländisch, Zazaisch, Wotisch, Rätoromanisch, Okzitanisch, Zimbrisch, Manx, Scots, Meänkieli, Leonisch, Caló, Quinqui usw.)."

    Weshalb spricht der spanische Oberpräsident Paquito wohl plötzlich nur noch baskisch, nachdem er von Vermummten auf dem Fahrrad aus einer stehenden Autokolonne entführt worden ist? Pablo Tusset macht daraus kein großes Geheimnis. Stattdessen unternimmt er seinerseits einen kleinen Ausflug in die Linguistik. Nein, mehr noch: Eigentlich gründet dieser ganze Roman auf der Erkenntnis, dass und wie sehr die Sprache unser Bewusstsein form. Da diese Erkenntnis jedoch Hinweise auf das Verbrechen liefert, mit dem sich Inspektor Sakamura befasst, wollen wir von den Implikationen brav die Finger lassen. Nicht hingegen von der Sprache, die Tusset selber benutzt. Dass diese im Deutschen nichts von ihrer Skurrilität und Farbigkeit eingebüßt hat, ist der glänzenden Übersetzung von Ralph Amann zu verdanken. So hat Tusset eine ganz eigene Dialogform erschaffen, die Sakamura-Corrales-Dialogform gewissermaßen. Hier nimmt der Inspektor gerade Duftproben an einem Tatort:

    "Dann sagte er mit flötender Stimme und einem ulkigen kyotoer Akzent: 'Pufeffer ... Tumate ... Sellirie ... klein wenig Zitrone ... reiner Sake ...'
    'Sie meinen die Bladdie Märrie', sagte Corrales und zeigte auf das Glas, das neben einer zusammengefalteten Zeitung auf einem Tischchen unweit der Liege stand. 'Aaaaha ...', rief Inspektor Sakamura, als sei ihm plötzlich ein Licht aufgegangen. 'Bla Qi Mary?'
    'Auf den roten Cocktail hatte sich der Tote sicher schon gefreut.'
    'Aaaaha ... spanische Cocktail mit Pfeffer?' 'Natürlich', sagte Corrales und gab sich souverän wie immer, wenn er etwas unsicher war. 'Der Drink kommt aus Andalusien, sozusagen eine Art Gazpacho, halt ohne Knoblauch ...' 'Aaaaha ...', sagte Maestro Sakamura, als habe er eine weitere Erkenntnis gewonnen: 'Ga Pa Qo?'
    'Natürlich ... das essen die im Sommer, gewissermaßen als Suppe ...'
    'Suppe Bla Qi Mary im Sommer?'
    'Nein, nein, eine Bladdie Märrie wird nicht gelöffelt, sondern getrunken, aber dann bekommt man am nächsten Morgen sozusagen einen fetten Kater ...'
    'Aaaaha ... Ka Ta ... Auch spanische Spezialität?'

    Ein anderes Beispiel: Nachdem die Protagonisten einer besonders kurvenreichen Dame ansichtig geworden sind, findet der folgende Austausch zwischen Corrales und dem Inspektor statt:

    'Boa, ich kann Ihnen sagen, ich habe alles gesehen, bis zur Seidenspitze des Schlüpfers ...'
    'Eine kleine Frage: Qi pfer?'
    'Na, so was wie unsere Unterhosen, allerdings um Muschis einzupacken ...' 'Aaaaha ... Eine kleine Frage: Mu Qi?' 'Ach, du Scheisse, Maestro, man könnte ja glatt meinen, Sie hätten ihr Spanisch mit der Gebrauchsanleitung eines Fernsehers gelernt ... Die Möse, das Venusmuschelchen.' Er hielt sich den Zeigefinger und den Mittelfinger vor den Mund und ließ die Zungenspitze zwischen ihnen hin und herwackeln. 'Aaaaha, ja, viel spanische Mu Qi ...', sagte der Inspektor und seine gelbliche Hautfarbe lief rot an, sodass sein rundes Gesicht die Farbe eines alten Goudas annahm."

    Besondere Kreativität beweist Pablo Tusset bei Schimpfwörtern. Deren fantasiereichsten Verbreiter beehrt er sogar mit einer eigenen Radiosendung. Da wird die Zuhörerschaft schon frühmorgens mit Reden wie dieser begrüßt:

    "Dieser fette Pissbackenzeisig glaubt wohl, dass er uns Spanier für dumm verkaufen kann (...) Das glauben aber auch nur Sie, Don Dosenbefruchter, es dürfte keinem ehrbaren Spanier entgangen sein, was für ein Rüschelbrunzer Sie sind ..."

    Gemeint ist damit der Finanzminister.

    Vulgarität als Lebensart und Stilmittel – wie das funktioniert, wird einem hier Seite um Seite eindrücklich demonstriert. Sei es von baskischen Kaugummi-Piraten, von der spanischen Königin oder vom allwissenden Autor höchstselbst. Dabei ist sich Pablo Tusset der Reize dezenter Ironie durchaus bewusst und setzt sie in den Passagen, die er alleine bewältigt, äußerst elegant ein.

    "Sakamura, Corrales und die lachenden Leichen" ist auch ein Roman, in welchem dem Klischee zu seiner wahren Größe verholfen wird. Klischees brauchen keine dümmlichen Mischungen aus Vorurteilen, Missverständnissen und Vereinfachung zu sein. Bei Pablo Tusset verfügen sie über messerscharfe Konturen, ja sogar über Gabelzinken wie in der folgenden Illustration zum Thema "Clash of Civilizations":

    "Interpol kam zwar für die Spesen auf, Corrales jedoch wollte nicht unverschämt sein und führte den Inspektor daher zum Essen ins El Llamàntol d'Or aus, wo es an Donnerstagen den Hummerreis als kostenlose Zugabe zum günstigen 45-Euro-Menü gab, auch wenn die gedämpften Herzmuscheln, die kleinen panierten Tintenfische und der edle galicische Albariño nicht im Preis enthalten waren, die Corrales als Amuse-Gueule bestellt hatte, um die Zeit zu überbrücken, in der ihr Reis langsam vor sich hinkochte (chup-chup). Meister Sakamura dagegen hatte mehr Mühe, in der in fünf Sprachen verfassten Speisekarte eine Zen-Leckerei zu entdecken."

    Was ist eine Zen-Leckerei? Das:

    " 'Spanisches Obst Kugel nicht zu rot, danke', sagte er mit seinem bezauberndsten Lächeln zu dem jungen Kellner, der sie bediente."

    Wie fühlt sich geistige Horizonterweiterung an? So:

    "Corrales dämmerte so langsam, dass im fernen Land der aufgehenden Sonne alles andersherum laufen musste, wenn die Samurai-Krieger dort Blumensträuße banden und die Japaner mehr arbeiteten, sobald gestreikt wurde. 'Das Obst kommt zum Schluss, Maestro', klärte er daher seinen Tischnachbarn lautstark auf, um auch noch die letzten semantischen Zweifel zu zerstreuen. 'Hier in Spanien geht's mit Vorspeisen los, von allem wird ein bisschen genascht, danach kommt das große Gericht mit Fleisch oder Fisch, und wenn es dann soweit ist, können wir ja immer noch das Obst als Nachspeise bestellen ...'
    'Aaaaha ...', sagte der Inspektor, als sei ihm erneut etwas klar geworden (...). 'Aaaah, ja: spanisches Obst. Kugel nicht zu sehr rot. Danke.'"

    So verwandelt Pablo Tusset die Nullachtfünfzehn-Nummer "Der Zen-Meister und der Spanier beim Mittagessen" ins ergötzliche Zwischenspiel "Rafael Corrales und Inspektor Sakamura im El Llamàntol d'Or".

    Tussets Figuren sind Abziehbilder mit überbordendem Volumen, Pappnasen mit Persönlichkeit, und sein Roman ist eine Farce, bei der einem das Lachen zum Glück nicht im Hals stecken bleibt. Dieser Autor ist zeitgenössischer als sämtliche Gag-Schreiber von "Saturday Night Live" zusammen. Dabei macht er sich wie Oliver Swift über die Herrschenden und die Beherrschten gleichermaßen lustig, und wie Laurence Sterne nimmt er erzählerisch jeden Umweg, der sich ihm bietet. Allein damit verstößt er gegen eine der fundamentalsten Regeln der Spannungsliteratur und bestraft den Imperativ "Tempo, Tempo, Tempo" mit schnöder Nichtbeachtung.
    Man erfährt bei ihm jede Menge über Meeressäugetiere, Psychiatrie in Walt Disney-Filmen und den Nickelanbau in Lappland. Über die Launen weißer Porsches und die miserablen Löhne von Krankenschwestern. Politiker erweisen sich als "auch nur Menschen", aber als solche mit einem heftigen Schaden. Und während Pablo Tusset genau im richtigen Moment von einer Situationskomödie zur nächsten schaltet, lässt er einen doch nie vergessen, dass man den brillanten Inspektor Sakamura und dessen mäßig begabten Assistenten Corrales auf einer rasanten Verbrecherjagd begleitet. Tusset lockt von der Costa Brava bis nach Andorra, von Bilbao bis nach Lyon. Er inszeniert die Sprache als tödliches Vergnügen, unterhält einen mit einer Persiflage auf den Agententhriller und serviert dazu eine köstliche Politsatire von einem globalen Menü. Ja, man könnte diesen Roman sogar als absurden Aufruf zur Völkerverständigung betrachten. Sicher ist: Wer so viel literarischem Luxus widersteht, hat es nicht besser verdient.

    Pablo Tusste: Sakamura, Corrales und die lachenden Leichen. Roman.
    Aus dem Spanischen von Ralph Amann.
    Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a.M. 2010.
    300 Seiten. 19.90 Euro/34.90 Franken.