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Literarischer Sonnenanbeter

Als literarische Gnostiker bezeichnet man Leser, die Bücher auf besondere Dinge und Aspekte untersuchen. Volker Klotz, der emeritierte Stuttgarter Literatur-Professor, ist ein solcher Gnostiker. In "Erzählen. Von Homer zu Boccaccio, von Cervantes zu Faulkner" widmet er sich der Sonne und dem Navigieren. Viele junge Autoren fehlen allerdings in seiner Literaturauswahl, dafür kommt er jedoch gänzlich ohne Sekundärliteratur aus.

Von Matthias Sträßner | 07.08.2006
    Es gibt Leser, die sammeln erste Sätze und erste Szenen einer Erzählung, eines Romans wie Briefmarken. "Eduard, so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter…" sammeln sie, oder sie sagen mit Tony Buddenbrook den lutherischen Katechismus von 1835 auf. Nein, natürlich den von Lübeck 1837!

    Leser, die so ihren Goethe oder Thomas Mann aufnehmen, nennt man heute literarische Gnostiker. Warum, das ist eine andere Geschichte.
    Volker Klotz, der emeritierte Stuttgarter Literatur-Professor, ist ein solcher Gnostiker. Aber es gibt viele literarische Gnostiker, die wiederum vielen unterschiedlichen Göttern und Glaubensrichtungen anhängen.

    Die einen sind Duft-Fetischisten: sie kümmern sich beispielsweise darum, wie Marcel Proust seine Tasse Tee trinkt und an einer gestärkten Serviette riecht. Andere kümmern sich darum, wie unterschiedlich sich Gottfried Kellers Roman "Der grüne Heinrich" in der Ich- und der Er-Erzählform liest, und noch andere hören und lesen Erzählungen von Dieter Wellershoff einmal im Präsens und einmal im Präteritum, was wahrlich einen großen Unterschied macht. Unter diesen Gnostikern ist Volker Klotz in seinem neuen Buch "Erzählen. Von Homer zu Boccaccio, von Cervantes zu Faulkner" der Sonnenanbeter.

    Denn er zeigt uns, wie häufig es gerade die erzählte Sonne ist, die uns eine Erzählung an den Tag bringt. Nehmen wir als Beispiel den "Sonnen-Auftakt" in Conrad Ferdinand Meyers " Jürgen Jenatsch" (Klotz 2006, 70):

    "Die Mittagssonne stand über der kahlen, von Felshäuptern umragten Höhe des Julierpasses im Lande Bünden. Die Steinwände brannten und schimmerten unter den stechenden senkrechten Strahlen. Zuweilen, wenn eine geballte Wetterwolke emporquoll und vorüberzog, schienen die Bergmauern näher heranzutreten und, die Landschaft verengend, schroff und unheimlich zusammenzurücken. Die wenigen zwischen den Felszacken herniederhangenden Schneeflecke und Gletscherzungen leuchteten bald grell auf, bald wichen sie zurück in grünliches Dunkel. Es drückte eine schwüle Stille, nur das niedrige Geflatter der Steinlerche regte sich zwischen den nackten Blöcken und von Zeit zu Zeit durchdrang der scharfe Pfiff eines Murmeltiers die Einöde."

    Was reizt so viele Autoren von Homer bis Charles Dickens ihre Erzählungen immer stellvertretend für Erzähler und Leser von der Sonne ausleuchten zu lassen? Und wie leuchten sie ihre Erzählung aus? Und wenn es nicht die Sonne ist, dann sind es, wie das Beispiel von "Jürg Jenatsch" auch zeigt, Wind und Vögel, die sich als "narrative Helfershelfer" zeigen.

    Ein weiterer Schwerpunkt des Buches ist dem "Navigieren" gewidmet. Volker Klotz fährt mit Homer, Mark Twain, Mor Jókai, Joseph Conrad, um nur einige zu nennen, zu Schiff. Und er beschreibt, wie Erzählen häufig mit dem Vorgang des Navigierens zusammenfindet: also erzähltes Navigieren ist, aber auch navigierendes Erzählen.
    Nach dem Vergleich der poetischen Tätigkeit des "Erzählens" mit dem Beleuchten und dem Navigieren, geht Klotz auf das "Wozu" des Erzählens ein. Das Kapitel mit dem merkwürdigen Titel "Erzählen als Ent-töten" wäre wohl besser mit "Erzählen als Über-leben" überschrieben worden: denn was TausendundeineNacht, was das Papageienbuch, Boccaccios Decamerone mit manchen Romanen Wielands oder Döblins verbindet, ist, dass Erzählen den Tod einer Erzählfigur verhindern soll. Erzählen ist einerseits Überlebensstrategie, andererseits verschafft das gelungene Über-Leben im Erzählen aber auch ein Leben höherer Art.

    In den weiteren Kapiteln seines Buches über das Erzählen im großen Ganzen, über Epos und Roman, zieht Klotz die Linien nach, die der Leser aus bekannteren Romantheorien kennen kann: hier das Epos, in welchem vermessene Helden die ganze weite Welt durchmessen, und in welchem auch der weinende Odysseus noch ohne Innenleben bleibt – da der bürgerliche Roman, dessen Held noch so weit reisen kann, letztlich wird seine Welt nirgends sein - mit Rilke zu reden - als Innen.

    Weniger diese Theorie-Silhouetten werden hier den Leser interessieren, als die aufgeführten Beispiele: so wenn Homers Odysseus in Demodokos eine Figur entgegentritt, für die das Schicksal des Odysseus schon Geschichte geworden ist, so dass Odysseus in der Erzählung seine eigene Geschichte anhören muss, gerade so, als läse er sie in der Zeitung. Oder wenn Klotz in Entsprechung zu den Unterweltsbesuchen der epischen Helden das "postmortale" Erzählen im Roman (- bei Machado de Assis, bei Faulkner, Juan Rulfo und Saramago -) bespricht.

    Man könnte an diesem Buch auch Vieles kritisieren:
    Dass es vielleicht zu stark in der Motivik von Erzählungen stecken bleibt, und darüber die Sukzession vernachlässigt, auch müsste Volker Klotz die Frage beantworten, warum viele Erzählungen- darunter auch sehr gute – in der Klotzschen Sprache - nur mit Notbeleuchtung auskommen? Oder warum Erzählungen beim "Navigieren" ganz andere Möglichkeiten finden: denn auch mit anderen Erzählvehikeln wie Kutschen und Trambahnen, mit Flugzeugen und U-Booten lässt sich erzählerisch Navigieren. Für die Lenkung ihrer Leser haben Erzähler über Jahrhunderte hinweg einen ausufernden Fuhrpark geschaffen, und selbst da, wo Romanfiguren auf Schusters Rappen daherkommen, von Eichendorff bis Thomas Bernhard, wird der Leser erzählerisch gelenkt, gegängelt oder hin- und her-manövriert, als säße er vor einem Video-Spielautomaten.

    Und schließlich die Literaturauswahl: man wird vielleicht nachsehen können, dass viele junge Autoren der letzten zwei Jahrzehnte fehlen, die, was ihre Erzähltechnik anlangt, interessante Wagnisse eingehen, wie zum Beispiel Jonathan Safran Foer, aber auch Jan Kjaerstad. Es fehlt nicht nur Thomas Mann, es fehlen auch Proust, André Gide oder Claude Simon, so dass sich der Leser sich auf eine mitunter sehr spezifische Auswahl einlassen muß.

    Wenn er dieser Auswahl aber aus Interesse folgt, ja wenn er sich womöglich vor Beginn der Lektüre noch das eine oder andere ihm unbekannte Werk (über Google und ZVAB antiquarisch) besorgt, vom Papageienmensch bis zum "Goldmenschen" von Mor Jókai, dann kann man eine spannende Ferienlektüre versprechen. Denn zu den Vorteilen des Buches gehört, dass es – oh Wunder - ohne Sekundärliteratur auskommt! Gerade dass der Name des verdienstvollen Literaturwissenschaftlers Eberhard Lämmert mal wie aus Versehen auf Seite 231 erwähnt wird. Und das Buch kommt völlig ohne literaturwissenschaftlichen Jargon aus, und das Wenige, was Klotz ad hoc erfindet, so - o Graus! - das "Epische Trio" von Erzähler, Erzähltem und Zuhörer - wäre vielleicht auch noch entbehrlich. Mit Volker Klotz kann man – und das ist heutzutage viel – lesen lernen. Klotz bleibt nie im Nach-Erzählen hängen, sondern findet immer einen Weg, seinen literarischen Gegenstand wie ein Hexenmeister zu "besprechen" und damit quasi neu zu erzählen. Das mag den Wissenschaftler stören, der vielleicht lieber im Kunstlicht der Theorie arbeiten würde, für den "einfachen" Leser ist es Sonnenlicht pur, und in dunklen Zeiten der Literaturkritik sind literarische Sonnenanbeter ja nicht die schlechtesten!