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Literarisches Daumenkino

Jan Peter Bremer hat eine mehrjährige Schreibblockade überwunden. Sein Kurzroman "Still Leben" gehört sicherlich zu den originellsten in diesem Jahr herausgekommenen Büchern. Bremer schildert, höchst verdichtet und in verstörender Verfremdung, eine komplexe Familiengeschichte.

Von Uwe Pralle | 26.05.2006
    Jahrelang war von ihm wenig zu hören. Doch jetzt ist Jan Peter Bremer, der 1996 in Klagenfurt den Bachmann-Preis gewann und zuletzt vor sechs Jahren den Roman "Feuersalamander" veröffentlichte, plötzlich wieder da.

    "Ich habe nach dem 'Feuersalamander' eine Zeit lang auch wirklich nicht schreiben können. Komischerweise handelte der 'Feuersalamander' sogar von einer Schreibblockade, und diese Schreibblockade hat mich dann merkwürdigerweise selbst eingeholt. Jetzt im Nachhinein, als ich dann vor drei Jahren wieder angefangen habe zu schreiben, habe ich auch sofort gemerkt, es ist noch mal ein neuer Ton drin, noch mal eine gewisse andere Reife drin, die wahrscheinlich nicht hineingekommen wäre, wenn ich diese drei Jahre krampfhaft versucht hätte durchzuschreiben, obwohl es eigentlich weder ein Verlangen noch eine Notwendigkeit dazu gab, also jetzt eine persönliche Notwendigkeit."

    Bremers Schreibblockadebrecher trägt die Bezeichnung "Kurzroman" und gehört sicherlich zu den originellsten in diesem Jahr herausgekommenen Büchern. "Still Leben", wie der Titel zweideutig lautet, besteht aus kurzen, oft kaum eine Seite langen Prosastücken und gibt die Nachrichten aus dem Alltag wieder, die ein mit Frau und Kindern in einem entlegenen Haus auf einem Berg lebender Mann an einen Freund schickt.

    "Mein lieber Freund,
    die Tage sind so herrlich, dass ich nicht aufhören kann, an dich zu denken. Ob tagsüber im Garten oder abends im Haus, immerzu wünschte ich, du könntest mich hier sehen. Nachts bittet mich meine liebe Frau wieder und wieder, das Licht zu löschen, aber ich kann mich nur schwer entschließen und wenn, dann nur, weil ich weiß, dass auch du deinen Schlaf brauchst."

    Es ist zwar nicht gänzlich neu, solche kurzen Prosastücke zu einem Zyklus zusammenzufügen, womit etwa auch schon Reinhard Lettau einst gespielt hatte. Doch Jan Peter Bremer ist diesen Weg jetzt zum ersten Mal bis zu dem Punkt weitergegangen, wo die dickleibige Form des Romans sich jetzt tatsächlich einmal in höchst abgespeckter Gestalt zeigt.

    "Das war die große - fast möchte ich sagen - Herausforderung bei dem Buch. Weil meine ersten literarischen Versuche waren auch Kurztexte, und meine literarischen Vorbilder haben auch Kurztexte verfasst wie Reinhard Lettau zum Beispiel. Und das hat sich während der Arbeit ergeben, dass ich diesen Texten, die man alle einzeln lesen kann und die auch einzeln eine Bedeutung haben, einen literarischen Verlauf gegeben habe und auch einen dramatischen Verlauf. Diese Texte gehen quasi immer vom selben Punkt aus, der dann immer neu anders beschrieben wird, eher ein bisschen dem Verfahren gleich, wie ein Taschenkino funktioniert, oder Daumenkino, dass man Bild auf Bild hat, und jedes Bild funktioniert einzeln, und alle Bilder beginnen eine Bewegung zu ergeben und einen dramatischen Verlauf."

    Früh ist in Bremers Kurzroman zu spüren, dass sich in der Familienidylle auf dem Berge merkwürdige Dinge zutragen. Denn von Anfang an gibt es in den Bildern dieses literarischen Daumenkinos immer wieder Momente seltsamer Wirklichkeitsverzerrung oder sogar von Verstörung.

    "Mein lieber Freund,
    meine Frau und mein Sohn haben mir eine neue Jacke vom Markt mitgebracht, die so steif ist, dass ich bei jeder Bewegung ihren Widerstand spüre. Nachts gelingt es mir kaum zu verstehen, was in den Betten hinter mir geflüstert wird. Dafür kann ich neuerdings in der Dunkelheit sehen, der Sinn aber dieser neuen Gabe hat sich mir noch nicht erschlossen. Ich erblicke die anderen und sie mich nicht."

    Offenbar verwandelt sich dieser Mann, der nur der Zaungast des eigenen Familienlebens zu sein scheint, langsam in ein Gespenst und wird für Frau und Kinder in dem Maße unsichtbar, wie er sich immer weiter in die Rolle des stillen Lauschers und Beobachters zurücksinken lässt.

    Psychologische Motive dafür sind hier allerdings genau wie in einem Daumenkino nirgends zu finden. Es ist nur zu spüren, wie die Verstörung in dem Haus ständig zunimmt, doch um ein Bild davon zu bekommen, was eigentlich geschieht, muss man sich auf die Rätsel der oft ebenso surreal wie komisch wirkenden Stücke einlassen.

    "Mein lieber Freund,
    gerade flog eine Wespe an meinem Fenster vorbei und ich habe sie sofort erkannt. Es ist dieselbe, die meine Tochter in die Lippe gestochen hatte. Sofort waren alle zu dem aufschreienden Kind geeilt, das sich, von diesem Andrang erschreckt, unter den Tisch geflüchtet hatte. Noch heute, fast erwachsen, sitzt sie dort unten. Deshalb, meine lieber Freund, müssen wir zu ihr. Sie ist ein Frühjahrskind und indem wir uns einmal im Jahr bei ihr unter dem Tisch versammeln, begehen wir ihren Geburtstag."

    In den 80er Jahren gab es einmal eine japanische Filmgroteske mit dem aberwitzigen Titel "Die Familie mit dem umgekehrten Düsenantrieb", die noch heute hin und wieder zu sehen ist, und ein wenig kommt man sich in Bremers Kurzroman vor wie in ihr. Allerdings ist hier nicht die gesamte Familie von Geisteskrankheit bedroht, sondern lediglich der ständig über Papier und Stift an einem Tisch hockende Vater von seiner bizarren Egomanie.

    "Dieser Mensch ist ein kompletter Egomane, der aber außer seiner Egomanie gar nichts zu sagen hat. Ich habe selber gar kein wirkliches Bild von diesem Menschen, wie er aussehen könnte oder so, das weiß ich alles nicht. Dafür funktioniert auch der Text anders, weil er funktioniert ja ein bisschen modellhaft, er arbeitet auch mit sehr vielen Slapstick-Einlagen quasi, und für mich sahen die eher alle ein bisschen so aus wie Strichmännchen, auch wenn sie so übereinanderfallen. Was das jetzt für ein Mensch ist, weiß ich nicht. Ich weiß aber, dass mich dieser Mensch, als ich ihn beschrieben habe, sehr berührt hat einerseits, und es mir andererseits einen unglaublichen Spaß gemacht hat, den komplett auflaufen zu lassen in seiner Weltsicht."

    Diesen Spaß hat Bremer wahrlich ausgekostet, denn am Ende wird diese wunderliche Figur, von Frau und Kindern verlassen, alleine in der zerstörten Bergidylle an dem Tisch sitzen und weiterhin zusehends verrückt wirkende Nachrichten an seinen lieben Freund schreiben. Ein
    seltsamer Heiliger also, halb Schriftsteller, der am banalen Alltag, halb Familienvater, der an einer Idylle gescheitert ist?

    "Im Prinzip ist er ja ein Fundamentalist des Glücks. Also er kommt da ganz fundamentalistisch auf diesem Berg an, sagt: Hier bin ich glücklich, und die Frau nimmt ihm das am Anfang auch ab, beziehungsweise versucht es auch selbst zu leben, bis sie merkt: So funktioniert es irgendwie doch nicht. Sie entwickelt aber nicht die Kraft, da heraus zu fliehen wiederum aus diesem Haus. Das ist eigentlich ja auch eine ganz spießige Szenerie, die da beschrieben wird, das ist ein Allerweltslebenslauf, der sich eigentlich dem Leben komplett verweigert."

    Auch der Traum vom Glück vermag also Ungeheuer hervorzubringen, wenn er zu starrsinnig verfolgt wird. Mit den kurzen und präzisen Strichen dieser Skizzen hat Bremer die Groteske einer solchen sturen Fixierung
    erzählt, jenes geradezu zwangsneurotisch gewordene Streben nach Glück, das völlig lebensfremd werden kann, obwohl oder vielleicht auch gerade weil es nur das Hier und Jetzt kennt.

    "Der Protagonist funktioniert am Ende wirklich wie ein Ding, was auch daran liegt - er hat weder eine Zukunft noch hat er eine Vergangenheit. Es gibt nichts Zukünftiges für ihn und es gibt auch nichts, was vergangen ist, nie wird was beschrieben zum Beispiel aus seiner Vergangenheit, und er nimmt auch nie Bezug auf etwas, was geschehen ist oder geschehen könnte, sondern bewegt sich immer nur auf dieser kompletten Zeitebene des Jetzt. Also er beschreibt ja immer nur die Familie, wie er sie jetzt gerade sieht oder wie die Familie ihn jetzt gerade gesehen hat. Aber da gibt es weder eine Hoffnung noch gibt es
    irgendwas Schreckliches, was überwunden werden müsste, was geschehen ist."

    Erstaunlich tiefgründig ist dieser Kurzroman mit seinen scharf und kantig wie Diamanten zugeschliffenen Prosastücken. Und dass er keineswegs als "Roman" bezeichnet ist, um die Kurztexte zu einer Form
    aufzupolieren, die sie gar nicht erfüllen können, ist beim aufmerksamen Lesen zu entdecken. Bremer schildert, höchst verdichtet und in verstörender Verfremdung, aus der Perspektive dieses vom Glück besessenen Mannes tatsächlich eine komplexe Familiengeschichte.

    "Dieser Protagonist erlebt quasi die 15 Jahre, über die dieser Text spielt, ungefähr sind es 15 Jahre, also das Heranwachsen der Kinder, wie an einem Tag. An einem Tag, an dem er immer mehr ins Taumeln gerät. Zu diesem Taumeln bringt ihn quasi die Verweigerung, auf irgendetwas, was um ihn herum ist, überhaupt noch einzugehen."

    Für Jan Peter Bremer, der mit seiner Frau und zwei Kindern in Berlin lebt, hat sich diese Kurzform des Romans auch aus den alltäglichen Widernissen entwickelt, das Schreiben mit dem Familienleben zu verbinden.

    "Weil meine Frau arbeitet und wir uns die Kinder teilen, waren die kurzen Zeitabstände, die man nur Zeit hat zu arbeiten, auch ein Grund für diese kurze Form. Wenn man eine längere Arbeit vor sich hat, braucht man auch
    einen gewissen Schwung, und diesen Schwung hatte ich eigentlich nie. Ich hatte immer nur wenige Stunden und musste in diesen wenigen Stunden Gas geben, und daraus haben sich auch diese Kurztexte entwickelt."

    Vielleicht bietet diese Form des Romans, die kurzweilig und trotzdem episch und abgründig ist, in der Tat neue Möglichkeiten für eine Literatur, die diesen Namen verdient. Denn vermutlich kennen viele Leser den Zeitdruck, der Jan Peter Bremer zum literarischen Daumenkino getrieben hat, ebenso gut.