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Literatur aus dem Großraumbüro

Die 1964 geborene Anne Weber ist die einzige Schriftstellerin in Deutschland, die dezidiert und auf einem hohen Niveau in der Tradition des großen Schweizer Autors Robert Walser schreiben kann. Die Volten und die Pointen des Autors und seiner Erzähler, die fein säuberlich einen Text bis ans Ende eines Blatts Papier schreiben können und die nicht nur die Figuren, sondern auch noch den Leser im Text anreden und so in die Werke hineinziehen, beherrscht sie ebenfalls. Um so mehr, als Anne Weber 2004 ein Stipendium in Biel bekam. Der Geburtsstadt Robert Walsers. Woraufhin sie einen ungewöhnlichen Wunsch äußerte: Ihren Schreibtisch wolle sie nicht in ihrer Wohnung, sondern in einem Betrieb haben.

Von Oliver Seppelfricke | 09.01.2006
    Und so landete Anne Weber im Großraumbüro des Betriebs "Cendres & Metaux". Ein renommierter Dentalbetrieb, der Prothesen aller Art herstellt. Anne Weber kam also um 9, bezog ihren Tisch und schrieb. Sie schrieb das auf, was sie beobachte, und sie schrieb auf, wie sie beobachtete. Das klingt so:

    " Eine Erzählerfigur, die Anne heißt und die man mit der Autorin ruhig identifizieren kann, sitzt in einem Großraumbüro und beobachtet das Treiben. Sie beobachtet, was am Schreibtisch passiert, was sich um das Faxgerät herum abspielt, wer von den sogenannten "Bürovögeln" im Großraumbüro herumflattert, und wie. Verträumt nimmt sie das Leben um sie herum wahr, streift manchmal ab in ihren Gedanken und Wahrnehmungen, kommt von einem Wort, das sie vernimmt, zu einer Überlegung, die sie lange schon hat anstellen wollen, verfängt sich in Beobachtungen und Spekulationen. Das Großraumbüro als fruchtbares Biotop der Schriftstellerin. Ein dankbarer Ort, wie sie vermerkt. "

    Solcherart Beobachtungen und Reflexionen erstrecken sich über den ganzen Text. Es gibt zwar Ansätze zu einzelnen Handlungen, die sich erzählen ließen, zu Figurenschicksalen, die man ausführen könnte, doch sie verlaufen sich ins Nichts. So wie ein Telefonanruf in der ewigen Warteschleife. Nichts passiert, keine wirkliche Geschichte, außer der einen Geschichte vom ständigen Treiben im Großraumbüro. Tag für Tag. Eine Art "Big Brother" für Angestellte.

    Und doch passiert ungeheuer viel in diesem Buch. Denn bei Anne Weber ist Schreiben immer Schreiben über Schreiben. Erzählen ist Erzählen über Erzählen. Ihre Texte sind in höchstem Maße selbstreflexiv. Bedenken die Bedingungen ihres Entstehens beim Entstehen mit. Auch das eine Referenz an Robert Walser.

    Doch Anne Weber schreibt nicht nur im Geist von Robert Walsers sprunghaftem und assoziativem Erzählstil, der voller Handlungsbrüche und Abschweifungen ist, sie übernimmt auch dessen Erzählerkommentare und die Anreden an den Leser. Wie bei Robert Walser wechseln hier die Ebenen des Erzählten und des Erzählens.

    Und doch kommt noch sehr viel. Anne Weber vermischt Kapitalismuskritik, die Kritik an ausbeuterischen Verhältnissen in der Welt, mit gehörig viel Satire und Ironie, fügt noch eine Prise poetologischer Schreibreflexion hinzu und verrührt das ganze zu einem Zahnbrei, der haften bleibt. Ihre Beschreibungen der "Werktagslandschaft" Großraumbüro sind so treffend wie ihr Spiel mit der Erzählerfiktion überzeugend ist. Anklänge an Kafka gibt es noch dazu, das Büro als Gefängnis, der über allem schwebende Chef als unbekannter Allmächtiger, die Hilflosigkeit des einzelnen im Räderwerk des Betriebs, die Tiermetaphorik. Vor allem aber überzeugt Anne Weber mit ihrem Humor. Die Großraumwelt kann man, bei aller eingestreuten Kritik am kapitalistischen System Marke Schweiz, kaum anders denn mit einem Lachen oder Lächeln lesen. Es gibt Band- und Schachtelsätze voller offener oder versteckter Komik, und auch in der zweiten Erzählung "Liebe Vögel", die zeitlich lange vor der titelgebenden ersten Erzählung "Gold im Mund" entstanden ist und die auch von "Bürovögeln" und deren täglichem Verhalten samt Fluchtfantasien handelt, zeigt sich Anne Webers komisches Talent.

    Und so ist Anne Webers Text vieles: Eine gehörige Satire auf den Betrieb, der modernes Großraumbüro und Totalverwertung aller Ressourcen heißt, eine kleine Schule der Poetologie, und zugleich auch ein Klang- und Ohrenschmaus. Denn beim lesenden Kauen dieser Dentallaborprosa wird's genüsslich knacken... Nur eines ist er sicher nicht: ein Text im Geiste des Bitterfelder Rufs "Schriftsteller in die Betriebe!". Denn wer nur ein Stück Literatur über die Arbeitswelt erwartet, der erhält hier gleich zwei: eines über einen Dentalbetrieb, und eines über den Zerebralbetrieb des Schriftstellers, über die allmähliche Verfertigung des Schreibens beim Schreiben...

    Anne Weber: Gold im Mund
    Suhrkamp, 127 Seiten, Euro 14,80